Faschismusinflation

Im Januar 2025 erklärte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz mit Blick auf die Partei Alternative für Deutschland (AfD): „Einmal 33 reicht für Deutschland.“ [1] So sehen es auch Sozialdemokraten, Grüne und Linke: Mit der AfD drohe die Zerstörung der Demokratie, heißt es dort. Und für die Antifa steht eh der Faschismus vor der Tür. Auch international hat der Faschismusbegriff gegenwärtig Konjunktur. Donald Trump ist ein Faschist, so heißt es bei Sozialisten und Kommunisten in den USA. In Europa ist es Giorgia Meloni die so betitelt wird, bereits Silvio Berlusconi war für viele ein Faschist. Wir haben es mit einer wahren Faschismusinflation zu tun, zumindest was den Begriff angeht.

Doch was ist überhaupt Faschismus? Welche gesellschaftlichen Konstellationen bringen ihn hervor? Und wie unterscheidet er sich von anderen Formen bürgerlicher Herrschaft? Zur Beantwortung dieser Fragen ist es notwendig in das 19. Jahrhundert zurückzugehen und sich zunächst mit dem engen Verwandten des Faschismus, dem Bonapartismus zu beschäftigen. Dabei soll marxistisches Denken Richtschnur der Erkenntnis sein.

Die Herrschaft des Louis Napoleon Bonaparte

In der 1848 in Frankreich ausgebrochenen Revolution machte sich zum ersten Mal der Einfluss des Proletariats bemerkbar. Die von den Pariser Arbeitern im Februaraufstand erkämpften Nationalwerkstätten in denen Zehntausende von ihnen Arbeit und Brot gefunden hatten bestanden aber nur kurze Zeit. Bereits nach wenigen Monaten wurden sie von der bürgerlichen Regierung aufgelöst. Dagegen erhoben sich die Arbeiter im Juni 1848. Es folgte eine dreitägige Schlacht, die Tausende Todesopfer forderte. [2] Karl Marx beschrieb in seiner Schrift „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“ die Ereignisse und verwies zugleich auf ihre historische Bedeutung als „erste große Schlacht“ zwischen den beiden Klassen Bourgeoisie und Proletariat: „Es blieb den Arbeitern keine Wahl, sie mussten verhungern oder losschlagen. Sie antworteten am 22. Juni mit der ungeheuren Insurrektion, worin die erste große Schlacht geliefert wurde zwischen den beiden Klassen, welche die moderne Gesellschaft spalten. Es war ein Kampf um die Erhaltung oder Vernichtung der bürgerlichen Ordnung. Der Schleier, der die Republik verhüllte, zerriss.“ [3] Die Regierung ging rücksichtslos vor: „Es ist bekannt, wie die Bourgeoisie sich für die ausgestandene Todesangst sich in unerhörter Brutalität entschädigte und über 3.000 Gefangene massakrierte.“ [4] Die Geschichtswissenschaft geht heute von einer deutlich höheren Opferzahl aus. Weitere 15.000 Insurgenten wurden unter Umgehung des richterlichen Urteils zur Deportation verdammt. Nach den Worten des deutschen Historikers Arthur Rosenberg war „der Aufstand der Pariser von Anfang an völlig hoffnungslos“. [5] Die Regierung und die hinter ihr stehende liberale Bourgeoisie hatten gezeigt, dass sie bereit sind, gegen rebellierende Proletarier mit aller Härte vorzugehen und dabei kein Blutvergießen zu scheuen.

Trotz des Terrors hielt die bürgerliche Regierung am Wahlrecht zunächst fest, schließlich war es als Ergebnis der großen Revolution zumindest den Männern in der französischen Verfassung vom 24. Juni 1793 garantiert worden. Unter Napoleon I. war es dann aufgehoben worden, um im Februar 1848 erneut eingeführt zu werden. Marx beschrieb den „umfassenden Widerspruch“ der das allgemeine Wahlrecht darstellt: „Die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie verewigen soll, Proletariat, Bauern, Kleinbürger, setzt sie durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politischen Macht. Und der Klasse, deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktioniert, der Bourgeoisie, entzieht sie die politischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herrschaft in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen Klassen zum Sieg verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage stellen. Von den einen verlangt sie, dass sie von der politischen Emanzipation nicht zur sozialen fort-, von den anderen, dass sie von der sozialen Revolution nicht zur politischen zurückgehen.“ [6]

Am 4. November 1848 verabschiedete die Nationalversammlung eine neue Verfassung, die auch die Wahl eines Staatspräsidenten vorsah. Nach dem Willen der bürgerlichen Mehrheit sollte dieses Amt an Louis-Eugène Cavaignac gehen, dem berüchtigten Schlächter der Pariser Arbeiter vom Juni 1848. Es sollte aber anders kommen: Statt seiner siegte mit Louis Napoleon Bonaparte ein Außenseiter. Der Wahltag, „der 10. Dezember 1848 war der Tag der Bauerninsurrektion. (…) Napoleon war der einzige Mann, der die Interessen und die Phantasie der 1789 neugeschaffenen Bauernklasse erschöpfend vertreten hatte.“ [7] Jener Louis Napoleon Bonaparte war zwar der Neffe des großen Kaisers, aber ein im Vergleich zu ihm, laut Arthur Rosenberg, „völlig unbedeutender Mensch“. [8] Louis-Napoleon siegte bei den Wahlen mit einem überwältigenden Ergebnis. Von den insgesamt siebeneinhalb Millionen abgegebenen Stimmen erhielt er allein fünfeinhalb. Lamartine, der Kandidat der Liberalen, ging mit nur 8.000 Stimmen leer aus. „Kleinbürgerschaft und Proletariat hatten en bloc für Napoleon gestimmt, um gegen Cavaignac zu stimmen (…) [9] Für den Kandidaten der aufständischen Pariser Arbeiter Raspail entschieden sich lediglich 36.000. Für Marx stellte diese Kandidatur denn auch nur „eine bloße Demonstration“ dar. Zugleich sah er in ihr, geschichtlich weitblickend, den ersten Akt, wodurch das Proletariat sich als selbständige politische Partei von der demokratischen Partei lossagte.“ [10]

Der Schrecken über die Juni-Insurrektion der Arbeiter und der für sie unerwartete Ausgang der Präsidentschaftswahlen im Oktober 1848 veranlassten die Bürgerlichen in der Nationalversammlung das gerade erst wieder gewährte Wahlrecht erneut einzuschränken: Im Mai 1850 wird es in einer Art parlamentarischen Staatsstreichs unter Führung der bürgerlichen Ordnungspartei all jenen genommen, die in den letzten drei Jahren ihren Wohnort gewechselt hatten. Betroffen davon waren vor allem Arbeiter, die aufgrund unsicherer Beschäftigungsverhältnisse oft gezwungen waren, ihren Wohnsitz zu verändern. Auf diese Weise wurden drei Millionen der seinerzeit in Frankreich lebenden neuneinhalb Millionen Männer vom Wahlrecht ausgeschlossen.

Louis Napoleon Bonaparte nutzte seine Popularität als ein von der breiten Mehrheit der Franzosen gewählter Präsident, um angesichts der Empörung über die neuerliche Einschränkung des Wahlrechts die ganze Macht an sich zu reißen. Der „Aspirant auf die Diktatur“ ließ „in der Nacht zum 2. Dezember 1851 die verdutzten Führer der Ordnungspartei aus dem Bett heraus verhaften. Er löste die Legislative auf und gab ausnahmslos allen Franzosen das Wahlrecht zurück. Selbstredend unterließ er nicht, worauf es ihm vor allem ankam: Er verlängerte sich sein Amt auf runde zehn Jahre.“ [11] Napoleon Bonaparte hatte „von Anfang an das allgemeine Stimmrecht als persönlichen Trumpf ausgespielt.“ [12] Mit Hilfe der Armee ließ er jeglichen Widerstand gegen seine Diktatur brechen, auch den der bürgerlichen Politiker: „Nicht weniger als 26.000 Franzosen wurden gerichtlich belangt, mehr als 10.000 nach Übersee deportiert. Auf Proskriptionslisten standen die Namen vieler emigrierter Deputierter, so der von Victor Hugo. Aber auch missliebige Reaktionäre wie Thiers sahen sich ausgebootet.“ [13]

Über die Diktatur heißt es: „Infolgedessen war das kaiserliche System durch weitestgehende Abschaffung der demokratischen Errungenschaften von 1848 gekennzeichnet. Die machtlose Gesetzliche Körperschaft, dieses Spottbild eines Parlaments, hatte die von der Exekutive vorgelegten Gesetze zu bejahen. Die Regierung aber befand sich völlig in der Hand Napoleons.“ [14] Zwar wurde am allgemeinen Wahlrecht für Männer festgehalten, aber es waren oft regierungsamtlich manipulierte Scheinwahlen. Ein liberaler Historiker schrieb darüber voller Spott: „`Die Wahlen dauerten zwei Tage; in ländlichen Wahlkreisen nahm der Maire (der Bürgermeister, A.W.) am Abend des ersten Tages die Urne mit zu sich nach Hause; ohne dass eine Überwachung stattfand. In Gegenden, wo die Bauern es noch nicht gewöhnt waren, zur Wahlurne zu kommen, saugte sich der Maire die Wahlergebnisse einfach aus den Fingern.“ [15]

Friedrich Engels schrieb über die Regentschaft des 1852 zum neuen Kaiser der Franzosen ausgerufenen Neffen Napoleons I.: „Louis-Napoleon war jetzt der Abgott der europäischen Bourgeoisie. Nicht nur wegen seiner 'Gesellschaftsrettung' vom 2. Dezember 1851, wo er zwar die politische Herrschaft der Bourgeoisie vernichtet, aber nur um ihre soziale Herrschaft zu retten. Nicht nur weil er gezeigt, wie das allgemeine Stimmrecht unter günstigen Umständen in ein Instrument zur Unterdrückung der Massen verwandelbar sei; nicht nur weil unter seiner Herrschaft Industrie und Handel und namentlich Spekulation und Börsenschwindel einen nie gekannten Aufschwung genommen. Sondern vor allem, weil die Bourgeoisie in ihm den ersten 'großen Staatsmann' erkannte, der Fleisch von ihrem Fleisch, Bein von ihrem Bein war. Er war Emporkömmling, wie jeder echte Bourgeois auch.“ [16]

Über die Gründe weshalb die bürgerliche Gesellschaft das Wahlrecht auch in Krisen nicht grundsätzlich in Frage stellen muss, schrieb Arthur Rosenberg: „Wenn die humane liberale Demokratie in ihr Gegenteil umschlug, in den weißen Terror und in die Säbelherrschaft, dann konnte das allgemeine Stimmrecht diese Wandlung überdauern. Durch Irreführung unaufgeklärter Massen und durch geschickte Ausnutzung vorübergehender Volksstimmungen konnte sich eine großkapitalistische oder militaristische Richtung auch unter dem allgemeinen Wahlrecht die Mehrheit verschaffen. Die herrschende Klasse hatte dann die Armee, die Polizei und die Justiz zur Verfügung, und sie konnte sich dann noch auf den Spruch der 'Demokratie' berufen.“ [17] Das Wahlrecht konnte unter solchen Bedingungen bestehen bleiben, wenn die Massen nur auf andere Weise unterdrückt werden konnten: „Wenn die Opposition nicht auftreten durfte und wenn die Verwaltungsbehörden, besonders auf dem Land und in der Kleinstadt, für richtige Wahlen sorgten, dann konnte auch die terroristische Gegenrevolution sich mit dem allgemeinen Wahlrecht abfinden. (…) So gab die Revolution von 1848/49 den wirklichen Demokraten und Sozialisten die Lehre, dass zwar die Selbstregierung des Volkes nach wie vor das allgemeine Stimmrecht voraussetzt, dass aber zugleich eine Karikatur des allgemeinen Stimmrechts auch mit brutalster Unterdrückung der Volksmassen vereinbar ist.“ [18] Der italienische Historiker und Philosoph Domenico Losurdo ging noch einen Schritt weiter, wenn er das Wahlrecht sogar als unverzichtbar für die neue Form bürgerlicher Herrschaft ansah: „Als nicht praktikabel oder ruinös stellt sich der Weg der ausdrücklichen De-Emanzipation dar, welche fordert, diejenigen erneut vom politischen Bürgerrecht auszuschließen, die Zugang zu ihm erhalten hatten.“ [19]

Das allgemeine Wahlrecht konnte in Frankreich nach dem bonapartistischen Putsch vom 2. Dezember 1851 überleben, da Louis-Napoleon die Welt der öffentlichen Meinung beherrschte. Sie war nach ihm „die Königin des Universums“. „Das Programm, das vom Staatsstreichpräsidenten verkündet wird, ist klar: Es handelt sich darum, ein politisches Regime zu errichten, das stark sein muss, dank der Tatsache, dass es populär ist.“ [20] Aber was ist, fragt Losurdo, für Louis-Napoleon „das Volk, dessen Unterstützung er gewinnen will? Sicher nicht jenes, das in Parteien oder Gewerkschaften autonom organisiert ist. Louis Napoleon stellt sich nicht dar als (hier zitiert Losurdo aus den Schriften Louis Napoleon, A.W.) 'Vertreter einer Partei', sondern als Interpret der Nation und ihrer besten Traditionen, als der, der 'im Interesse der Massen und nicht im Interesse einer Partei zu regieren' beabsichtigt.“ [21]

Als Kaiser Napoleon III. herrschte Louis-Napoleon bis zum 2. September 1870, bis zur Niederlage Frankreichs im Krieg mit Preußen und den mit ihm verbündeten deutschen Ländern. Er selbst geriet dabei in Kriegsgefangenschaft, eine Schmach ohnegleichen. Seine Herrschaft blieb eine Lehre, die seitdem als „Bonapartismus“, als eine Form bürgerlicher Herrschaft, bis heute bezeichnet wird. Und so haben die unterschiedlichsten marxistischen Theoretiker historische Phasen mal offener, mal verdeckter Diktatur an Hand des im 19. Jahrhundert in Frankreich entstandenen politischen Modell des Bonapartismus analysiert.

Marxistische Faschismusanalysen

Verwiesen sei hier auf den deutschen Kommunisten August Thalheimer, der 1930 in seiner Schrift „Über den Faschismus“ die Marxsche Analyse des Aufstiegs Napoleons III. zur Grundlage seiner Studien nahm. Thalheimer schrieb: „Der beste Ausgangspunkt für die Untersuchung des Faschismus scheint mir die Marxsche und Engelssche Analyse des Bonapartismus (Louis Bonaparte) zu sein. Wohlverstanden, ich setze nicht Faschismus und Bonapartismus gleich. Aber es sind verwandte Erscheinungen mit sowohl gemeinsamen als auch mit abweichenden Zügen, die beide herauszuarbeiten sind.“ [22]

Auch Leo Trotzki griff in einer Schrift von September 1932 bei der Analyse der Endphase der Weimarer Republik auf jene Form bürgerlicher Herrschaft zurück, die man als Bonapartismus bezeichnet: „Wir haben seinerzeit die Brüningregierung als Bonapartismus ('Karikatur auf den Bonapartismus') bezeichnet, d.h. als ein Regime militärisch-polizeilicher Diktatur. Sobald der Kampf zweier sozialer Lager – der Besitzenden und Besitzlosen, der Ausbeuter und Ausgebeuteten – höchste Spannung erreicht, sind die Bedingungen für die Herrschaft von Bürokratie, Polizei, Soldateska gegeben. Die Regierung wird 'unabhängig' von der Gesellschaft.“ [23]

Bereits 1923 hatte Clara Zetkin über die Machtkonstellation gesprochen, die den italienischen Faschismus möglich gemacht hatte: „Die Bourgeoisie kann die Sicherheit ihrer Klassenherrschaft nicht mehr von den regulären Machtmitteln ihres Staates allein erwarten. Sie braucht dafür eine außerlegale, außerstaatliche Machtorganisation. Eine solche wird ihr gestellt durch den bunt zusammengewürfelten Gewalthaufen des Faschismus. Deshalb nimmt die Bourgeoisie nicht nur mit Kusshand die Dienste des Faschismus an und gewährt ihm weiteste Bewegungsfreiheit im Gegensatz zu all ihren geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen. Sie geht weiter, sie nährt und erhält ihn und fördert seine Entwicklung mit allen ihr zu gebote stehenden Mitteln des Geldschranks und der politischen Macht.“ [24]

Die Faschismus-Analysen Thalheimers, Trotzkis und Zetkins sind noch heute richtungsweisend, gehen sie doch von der Differenz zwischen politischer und sozialer Herrschaft der bürgerlichen Klasse aus. Sie sind daher jener Faschismusdefinition überlegen, wie sie in der Kommunistischen Internationale ausgegeben und in der Formel von Georgi Dimitroff zusammengefasst wurde, wonach „der Faschismus an der Macht (…) die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals (ist).” [25] Damit wird aber der Faschismus gradlinig-funktionell aus den Produktionsverhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft abgeleitet und auf die Rolle eines Agenten der bürgerlichen Klasse, der „am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“, reduziert. Dabei verschwindet aber die so wichtige Differenz zwischen politischer und sozialer Herrschaft.

Bonapartismus und Faschismus ähneln einander, sind im Kern sogar weitgehend identisch. Nach Thalheimer sind die Unterschiede „teils lokal bedingt – durch die lokale Verschiedenheit der Klassenverhältnisse, geschichtlichen Traditionen usw. (…), so dass der Diktator in Frankreich auf Grund der napoleonischen Legende und der Rolle, die sie bei der Bauernschaft spielt, als 'Kaiser' auftritt; in Italien muss er sich mit der Rolle des 'Duce' begnügen und neben sich die Krone bestehen lassen.“ [26]       

Nach Domenico Losurdo können sowohl der deutsche Nationalsozialismus als auch der italienische Faschismus unter den Begriff „Kriegsbonapartismus“ gefasst werden: „So stellt sich das Dritte Reich im ganzen Verlauf seiner Entwicklung als Kriegsbonapartismus dar, und zwar als ein solcher des totalen Krieges unter dem Zeichen eines permanenten Ausnahmezustandes, der mit einer nie dagewesenen Brutalität durchgeführt wird. Diese Erklärung kann in gewissem Maße auch für Italien gelten, wo außer dem Willen, ein für allemal die Gefahr eines politischen Umsturzes zu beseitigen, der Kriegsbonapartismus und der permanente Ausnahmezustand von einem auch hier wieder revanchistischen Projekt internationaler Politik angeregt werden, in dessen Umfeld der Mythos vom 'verstümmelten Sieg' eine Politik militärischer Abenteuer vorantreibt, vom Marsch auf Fiume über Äthiopien und Spanien bis zum Ultimatum an Griechenland und zur Besetzung von Korfu und zur Katastrophe des Zweiten Weltkrieges.“ [27]

Arthur Rosenberg hat in einem 1934 erschienenen Aufsatz darauf hingewiesen, dass Bonapartismus und Faschismus durch ein weiteres gemeinsames Merkmal gekennzeichnet sind: „Gewalttätige Stoßtrupps.“ „Die französische Kapitalistenklasse hat 1848 und 1871 in blutigen Metzeleien die Pariser Arbeiter niedergeworfen. Bismarck hat von 1878 bis 1890 die deutsche Arbeiterschaft in den Fesseln des Sozialistengesetzes gehalten. Aber es schien doch selbstverständlich zu sein, dass die herrschende Klasse die Gewalt in ihrem Staat mit ihrem Staatsapparat ausübte, der doch für diese Zwecke da ist: Die Obrigkeit, Polizei, und Justiz haben gegen den Umsturz zu kämpfen, und wenn das nicht ausreicht, hat das Militär einzugreifen.“ [28] Anders aber bei der Übernahme der Macht durch bonapartistische bzw. faschistische Diktatoren. Sie bedienen sich „gewalttätiger Stoßtrupps“. Bei der Machtergreifung Louis Napoleon Bonapartes 1851 spielte die „Gesellschaft vom 10. Dezember“, benannt in Erinnerung an den 10. Dezember 1848, der Tag des Wahlsiegs Louis Bonapartes bei den französischen Präsidentschaftswahlen, als ein solcher Stoßtrupp die entscheidende Rolle. Diese Truppe setzte sich zusammen aus Lumpenproletariern, Glücksrittern, skrupellosen Militärs und nicht zuletzt Kriminellen. Karl Marx schrieb über sie: „In seiner Gesellschaft vom 10. Dezember sammelt er 10.000 Lumpenkerle, die das Volk vorstellen müssen.“ [29]

Ähnlich verhielt es sich mit den „Schwarzhemden“, jenem nach Clara Zetkin „bunt zusammengewürfelten Gewalthaufen des Faschismus“, die die Gegner des italienischen Faschismus terrorisierten und einschüchterten und so dem Duce 1922 bei seinem Marsch auf Rom den Weg zur Macht ebneten. Und schließlich die nationalsozialistische „Sturmabteilung“ (SA)“, die beim Zeitpunkt der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 über 400.000 Mitglieder zählte. Nur durch ihren rücksichtslosen Terror war es möglich gewesen, jegliche Opposition gegen die NS-Herrschaft zu unterdrücken.

Rosenberg stellte die Gemeinsamkeiten all dieser „Stoßtrupps der faschistischen Art“ heraus: „Die Regierung und die herrschenden Schichten setzen zum Kampf gegen die Opposition nicht die übliche, reguläre Staatsgewalt ein, sondern freiwillige Scharen aus der Masse des Volkes gehen ans Werk. Sie überfallen, misshandeln oder töten alle Menschen, die sich unbeliebt gemacht haben, erschlagen oder rauben ihr Eigentum, verbreiten eine Welle von Grausamkeit und Schrecken, in der jede Opposition ertrinken soll. Die Handlungen dieser Stoßtrupps des faschistischen Typs verstoßen gegen die gedruckten Gesetze des Landes. Nach dem geltenden Recht müssten die Stoßtrupps vor Gericht gestellt und ins Zuchthaus geschickt werden. Aber es geschieht ihnen tatsächlich gar nichts. Wenn man sie verurteilt, ist es nur Schein, entweder sie verbüßen keine Strafen, oder sie werden schnell begnadigt. Auf jede Weise zeigt die herrschende Gesellschaft den Stoßtrupphelden ihre Sympathie und Dankbarkeit.“ [30]

Über die einzelnen Stufen bei der Herstellung der offenen Diktatur schrieb Thalheimer: „Die Aushöhlung des bürgerlich-parlamentarischen Regimes erfolgt schrittweise. Und die Bourgeoisie selbst ist dabei der Hauptagent. Marx' 18. Brumaire schildert gerade diesen Aushöhlungsprozess in seinen einzelnen Etappen. Die Herstellung der offenen Diktatur kann aber nur durch einen Sprung, einen Putsch oder Staatstreich erfolgen, bei dem die Bourgeoisie selber das passive Element ist. Ihre Sache ist es, die Bedingungen zu schaffen, damit sie sozial 'gerettet' und politisch vergewaltigt werden kann. Das Individuum oder die Organisation findet sich dazu immer, wenn ein Bedürfnis dazu da ist. Die entsprechenden Organisationen fördert die Bourgeoisie selber aktiv oder passiv.“ [31]

Das dafür geeignete Individuum hieß 1851 Louis Bonaparte: „In allen Wassern gewaschen, karbonaristischer Verschwörer in Italien, Artillerieoffizier in der Schweiz, verschuldeter Lumpacivagabundus und Spezialkonstabler in England, aber stets Prätendent.“ [32] 1922 hieß es Benito Mussolini, ein anfangs glühender Anhänger des syndikalistischen Sozialismus, 1914 zum begeisterten Befürworter des Kriegseintritts Italiens konvertiert und dafür aus dem Direktorium der Sozialistischen Partei Italiens ausgeschlossen – bei nur einer Gegenstimme, seiner eigenen. Und schließlich Adolf Hitler, der „Anstreicher“.

Bonapartistische bzw. faschistische Machtergreifungen folgten regelmäßig gescheiterten Revolutionen. 1848 war es die Niederlage der Pariser Arbeiter im Juni-Aufstand. Die dabei demonstrierte neue Macht des Proletariats versetzte das Bürgertum derart in Angst und Schrecken, dass es die Diktatur Louis Bonapartes als geringeres Übel zu akzeptieren bereit war. In Italien und Deutschland waren es Revolutionen am Ende des Ersten Weltkriegs, welche die soziale Herrschaft der Bourgeoisie zwar nicht in Frage stellen konnten, aber von den reaktionären Kräften im Staatsapparat, Militär und in den kapitalistischen Unternehmen als unerträgliche Einschränkungen ihrer bisherigen Alleinherrschaft bekämpft wurden. Die faschistischen Machtergreifungen in beiden Ländern waren daher auch Reaktionen auf die ihnen in den Revolutionen angetane Schmach. Es hatte sich als verhängnisvoller Fehler erweisen, dass es nicht gelungen war, diese konterrevolutionären Kräfte rechtzeitig auszuschalten. Und so bewahrheitete sich einmal mehr jene Prophezeiung von Karl Marx, wonach auf eine „halbe Revolution immer eine ganze Konterrevolution folgt“.

Droht ein neuer Faschismus?

Die Situation der Länder des „Westens“ und damit Deutschlands, unterscheidet sich heute grundlegend von der der Zwischenkriegsphase mit dem Aufstieg faschistischer Kräfte in Italien und Deutschland, aber auch in Polen, Österreich, Ungarn, Spanien und Portugal. Es gibt in der Bundesrepublik gegenwärtig keine relevanten Kräfte im Militär, in der Staatsbürokratie und unter den führenden Kapitalisten, die den Sturz der verfassungsmäßigen parlamentarischen Ordnung herbeiführen wollen. Es gibt weder eine relevante faschistische Partei noch „faschistische Stoßtrupps“. Auch gibt es heute keine relevante Kraft, die das kapitalistische Herrschaftssystem in Frage stellen könnte. Mit dem Ende der Sowjetunion und der DDR 1989/91 verschwand die Systemalternative Sozialismus, damit ging den militanten Rechtskräften zugleich das kommunistische Feindbild verloren. Es gibt daher nicht die gegenwärtig so oft beschworene faschistische Gefahr. Wer anderes behauptet, verharmlost zugleich den wirklichen Faschismus, wie er in Deutschland zwischen 1933 und 1945 an der Macht war.

Was es mit der „Alternative für Deutschland“ allerdings gibt, ist eine neue konservative, reaktionäre Partei, in der sich auch rechtsradikale Kräfte organisieren, die aber insgesamt eine Verselbständigung des rechten Flügels von CDU/CSU darstellt, wie er seit Beginn der Bundesrepublik existierte, und der in der Kanzlerkandidatur von Franz-Josef Strauß 1980 einen Höhepunkt an Einfluss in den Unionsparteien erreicht hatte. [33] Es ist daher alles andere als zufällig, dass der AfD viele ehemaligen Funktionäre und Mandatsträger von CDU/CSU angehören.

Der Aufstieg dieser neuen deutschen konservativen Partei steht im Kontext mit vergleichbaren Entwicklungen in Europa. In Frankreich ist der Rassemblement National unter Marine Le Pen auf dem Vormarsch, die italienische Partei Fratelli d'Italia, die Nachfolgepartei der Neofaschisten, befindet sich bereits an der Macht. In den Niederladen regiert die rechtspopulistische Freiheitspartei. In Belgien führen die flämischen Nationalisten die Regierung. Und in Österreich wurde die FPÖ zur stärksten Kraft. Einflussreiche rechtspopulistische Parteien existieren auch in Spanien, Portugal, in Osteuropa und in den skandinavischen Ländern.

Der anfangs zitierte Vergleich von Friedrich Merz mit der Situation von 1933 entbehrt daher jeder Grundlage und kann nur als Polemik gegen eine konkurrierende neue konservative Partei verstanden werden. Für die fortschrittlichen Kräfte stellt hingegen der Aufstieg der reaktionären und zugleich neoliberalen AfD eine große Herausforderung dar, zumal sich erhebliche Teile der Deklassierten und Lohnabhängigen an ihr orientieren.

 

[1] Moment der Wahrheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 27.01.2025

[2] Vgl. hierzu die Darstellung der Ereignisse bei Arthur Rosenberg, Demokratie und Sozialismus. Zur politischen Geschichte der letzten 150 Jahre, Frankfurt am Main 1962, S. 69-90

[3] Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Band 7, S. 31

[4] Ebenda

[5] Arthur Rosenberg, Demokratie und Sozialismus. Zur politischen Geschichte der letzten 150 Jahre, a.a.O., S. 89

[6] Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, a.a.O., S. 43

[7] Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, a.a.O., S. 44

[8] Arthur Rosenberg, Demokratie und Sozialismus. Zur politischen Geschichte der letzten 150 Jahre, a.a.O., S. 90

[9] Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, a.a.O., S. 45

[10] Ebenda

[11] Heinz Köller/Bernhard Töpfer, Frankreich. Ein historischer Abriss, Berlin (DDR), 1976, S. 183

[12] Arthur Rosenberg, Demokratie und Sozialismus. Zur politischen Geschichte der letzten 150 Jahre, a.a.O., S. 113 f.

[13] Ebenda

[14] Heinz Köller/Bernhard Töpfer, Frankreich. Ein historischer Abriss, a.a.O., S 190

[15] Ebenda

[16] Friedrich Engels, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Band 21, S. 413

[17] Arthur Rosenberg, Demokratie und Sozialismus. Zur politischen Geschichte der letzten 150 Jahre, a.a.O., S. 113

[18] Ebenda

[19] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus. Triumph und Niedergang des allgemeinen Wahlrechts, Köln, 2008, S. 70

[20] Ebenda

[21] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus. Triumph und Niedergang des allgemeinen Wahlrechts, a.a.O., S. 71

[22] August Thalheimer, Über den Faschismus, in: Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus, herausgegeben von Wolfgang Abendroth, Frankfurt am Main 1972, S. 19-39 und auch unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/thalheimer/1928/xx/fasch.htm

[23] Leo Trotzki, Der einzige Weg, in: Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen? Auswahl aus „Schriften über Deutschland“, Frankfurt am Main, 1971, S. 203-267. Auszugsweise auch unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1932/09/01-bonfasch.htm  

[24] Clara Zetkin, Der Kampf gegen den Faschismus, Bericht auf dem Erweiterten Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale am 20. Juni 1923, in: Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Band II, S. 689 ff, erneut abgedruckt in: Beilage Marxistische Blätter 2, 2023, Essen, S. 5

[25] Georgi Dimitroff, Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus, in: Pieck, Dimitroff, Togliatti, Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunisten im Kampf für die Volksfront gegen Krieg und Faschismus, Berlin (DDR) 1960, S. 85

[26] August Thalheimer, Über den Faschismus, in: Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus. Hrsg. Von Wolfgang Abendroth, Frankfurt am Main 1972, S. 34

[27] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus. Triumph und Niedergang des allgemeinen Wahlrechts a.a.O., S. 247 f.

[28] Arthur Rosenberg, Der Faschismus als Massenbewegung, in Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus. Hrsg. Von Wolfgang Abendroth, Frankfurt am Main 1972, S.88

[29] Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Band 8, S. 161

[30] Arthur Rosenberg, Der Faschismus als Massenbewegung, a.a.O., S.88 f.

[31] August Thalheimer, Über den Faschismus, a.a.O., S. 38

[32] Friedrich Engels, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, a.a.O., S. 413 f.

[33] Vgl. dazu: Bernt Engelmann, Das neue Schwarzbuch Franz-Josef Strauß, Köln 1980  

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