Sklavenhalter als Präsidenten - Die Vereinigten Staaten als Herrenvolkdemokratie

Referat auf dem Seminar „Die Gene des US-Kapitalismus“ im Marx-Engels-Zentrum (MEZ) am 6. Juli 2024 [1]

Der mit Abstand wichtigste Staat des Westens, der sich auf den Liberalismus beruft sind die USA. In unzähligen Büchern, Aufsätzen und Reden werden bis heute der amerikanische Liberalismus und das Regierungssystem der USA gewürdigt, ja geradezu verherrlicht. Darunter finden sich berühmte Philosophen und Literaten. Erwähnt sollen hier nur drei, die das Bild der Vereinigten Staaten in den westlichen Ländern bis heute prägen: Alexis de Tocqueville, der die USA in den 1830er Jahren bereiste und anschließend seine Beobachtungen und Wertungen in dem Werk „Über die Demokratie in Amerika“ veröffentlichte. In viele Sprachen übersetzt, wird es noch heute zitiert. Zu nennen ist Hannah Arendt, die als Jüdin vor den Nazis zunächst aus Deutschland und dann aus Frankreich fliehen musste und schließlich in den USA Zuflucht fand. In ihrem Buch „Über die Revolution“ veröffentlichte sie 1963 eine geradezu als Hagiografie der amerikanischen Revolution anzusehende Schrift, die vor allem in der Bundesrepublik Deutschland Verbreitung fand und hier das Bild von den USA prägte. Zu den Bewunderern der USA gehört schließlich Karl Popper mit seinem Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“. Auf Englisch 1945 erschienen, fand es bald eine breite Rezeption in Deutschland und wurde insbesondere von rechten, antikommunistischen Sozialdemokraten wie Helmut Schmidt gewürdigt.

Bis heute sind die USA der wichtigste Exporteur der Ideologie des Liberalismus selbst in die entlegensten Regionen der Welt. Sie scheuen dabei nicht vor der Anwendung von Gewalt zurück. So führen sie Kriege im Namen der Freiheit, zur Verbreitung der liberalen Demokratie, ist es doch diese Gesellschaftsform, die ihnen und den verbündeten westlichen Staaten ökonomische Vorrechte zur Ausbeutung anderer Länder weltweit bietet.

Sklavenhalter als Präsidenten

Mit der Unabhängigkeit der englischen Kolonien in Nordamerika und der Entstehung der Vereinigten Staaten verlagert sich der Schwerpunkt der Sklaverei auf den amerikanischen Kontinent: „Während das britische Empire in seiner Gesamtheit vor allem Iren und Schwarze überrennt, sind Indianer und Schwarze die wichtigsten Opfer des territorialen und kommerziellen Expansionismus zuerst der englischen Kolonien in Amerika und dann der Vereinigten Staaten.“ [2]

Der Unabhängigkeitskrieg der 13 nordamerikanischen Kolonien gegen die britische Kolonialmacht zwischen 1775 und 1783 sowie die 1776 erfolgte Unabhängigkeitserklärung der Konföderation, der Vereinigten Staaten von Amerika, gegenüber Großbritannien bringen zwar für die weißen Siedler die Freiheit aber nicht für die Negersklaven und schon gar nicht für die verfolgten und unterdrückten Ureinwohner des Kontinents, die Indianer. Die auf Sklaverei beruhende Plantagenwirtschaft bleibt für lange Zeit die wichtigste Grundlage der USA. Die Sklaven selbst „bildeten das, nach dem Boden, beachtlichste Vermögen des Landes; 1860 betrug ihr Wert das Dreifache des Aktienkapitals der Manufaktur- und Bahnindustrie; die im Süden angebaute Baumwolle war lange Zeit die wichtigste Exportware der Vereinigten Staaten und half entscheidend mit, die Importe und die industrielle Entwicklung des Landes zu finanzieren.“ [3]

In den ersten Jahrzehnten der USA waren Sklavenhalter Präsidenten des Landes: „In 32 der ersten 36 Jahre der Existenz der Vereinigten Staaten bekleiden Sklavenhalter aus Virginia den Posten des Präsidenten. Es ist diese Kolonie bzw. dieser auf der Sklaverei basierende Staat, der dem Land seine berühmtesten Staatsmänner liefert; man denke nur an George Washington (den großen militärischen und politischen Vorkämpfer der antienglischen Revolte) oder an Thomas Jefferson und James Madison (die Autoren der Unabhängigkeitserklärung bzw. der Bundesverfassung von 1787): alle drei sind Sklavenhalter (…) Bei den ersten sechzehn Präsidentschaftswahlen zwischen 1788 und 1848 kommt, mit nur vier Ausnahmen, ein Sklavenhalter aus dem Süden in das Weiße Haus“.“[4]

Bei der seinerzeit in den USA praktizierten Sklaverei handelte es sich um eine ihrer brutalsten Formen. Die vorherrschende „Chattel Sklaverei“, wobei chattel auf Deutsch bewegliches Mobiliar (!) bedeutet, erlaubte den getrennten Verkauf von Ehepartnern und selbst von deren Kindern. Nichtdestotrotz preist 1809 „Jefferson die Vereinigten Staaten als 'ein Reich der Freiheit' gegründet auf eine Verfassung, die die Selbstregierung garantiere. Und dabei ist er ein Sklavenhalter, der die Macht über die Sklaven brutal ausübt und nach Bedarf die einzelnen Mitglieder einer Familie aus seinem Eigentum als getrennte Stücke oder Waren verkauft.“ [5]

Die USA sind „das erste geschichtliche Beispiel eines Rassenstaats“. [6] Als weiße Rassenstaaten galten später auch Südafrika und Rhodesien, das heutige Zimbabwe, beide Regime wurden erst durch den erbitterten Widerstand der unterdrückten indigenen Bevölkerung in langen, blutigen Kämpfen überwunden. Mit Israel existiert noch heute ein Rassenstaat.  

Der Liberalismus als Ideologie von der Freiheit des Einzelnen und der Selbstregierung findet seine Verbreitung in Zeiten, in denen zugleich ein erheblicher Teil der Bevölkerung von den liberalen Regimen unterdrückt und gedemütigt werden: „Die Sklaverei dauert nicht trotz des Erfolgs der drei liberalen Revolutionen (gemeint sind hier die niederländische, die englische und die amerikanische, A.W.) fort; im Gegenteil, sie erfährt ihre größte Entfaltung im Gefolge dieses Erfolgs.“ Losurdo zitiert dazu den britischen Historiker Robin Blackburn: „'Die Zahl der Sklaven auf dem amerikanischen Kontinent betrug etwa 330.000 im Jahr 1700, fast drei Millionen 1800, um schließlich ihren Höchststand von über sechs Millionen in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts zu erreichen.' Entscheidend beigetragen zum Aufstieg dieser Institution, die ein Synonym für die absolute Macht des Menschen über den Menschen darstellt, hat die liberale Gesellschaft.“ [7]

In seinem 2010 veröffentlichten Buch „La non-violenza. Una storia fuori da mito“ (auf Deutsch erschien es 2015 unter dem Titel „Gewaltlosigkeit. Eine Gegengeschichte“) zieht der italienische Philosoph und Historiker folgendes Resümee: „In Ländern wie Frankreich und England bereitete der Sieg der liberalen und demokratischen Ordnung dem kolonialen Expansionismus keineswegs ein Ende, sondern gab ihm weiteren Impuls. Die Entstehung der Vereinigten Staaten und der amerikanischen Demokratie schließlich führte zu einer Intensivierung der Kriege gegen die Indianer, die jetzt mehr denn je der Enteignung, Deportation und Dezimierung unterworfen waren. (…) Ähnlich ging in Australien und Neuseeland das Erringen der Selbstregierung, wesentliches Element der Demokratie, Hand in Hand mit den Ausrottungskriegen gegen die Eingeborenen.“ [8]     

Während in England die Sklaverei 1772 für rechtswidrig erklärt wird und sie in britischen Kolonien 1834 offiziell aufgehoben wird, geschieht dies in den USA erst 1866, und auch dann nur im Ergebnis des überaus blutigen Bürgerkriegs zwischen der Union des Nordens und der Konföderation des Südens, ein Krieg der mehr Opfer fordert als die USA in beiden Weltkriegen zu beklagen haben. „Auf jeden Fall ging mit dem Ende des Sezessionskriegs ein geschichtlicher Zyklus zu Ende. Obwohl als ihr Zwilling geboren und lange in einer allerdings nicht spannungsfreien Beziehung mit ihr verbunden, bricht der Liberalismus in seiner Gesamtheit nun mit der Sklaverei im eigentlichen Sinne, der rassischen und Erb-Sklaverei.“ [9]    

Emanzipation und De-Emanzipation

Doch auf die Emanzipation der Farbigen folgte in der liberalen Gesellschaft der USA eine schmerzhafte Epoche der De-Emanzipation: „Das Ende des Sezessionskriegs eröffnet die glücklichste Periode in der Geschichte der Afroamerikaner, die jetzt die bürgerlichen politischen Rechte erobern und in die Vertretungskörperschaften einziehen. Aber dies ist nur eine Art kurzes Zwischenspiel der Tragödie. Der Kompromiss, der 1877 zwischen den Weißen des Nordens und des Südens geschlossen wird, beinhaltet für die Schwarzen den Verlust der politischen Rechte und oft selbst der bürgerlichen Rechte, wie das Regime der Rassentrennung und die rohe Gewalt der Pogrome und der Lynchjustiz beweisen. Diese Phase von De-Emanzipation im Rahmen einer Gesellschaft, die sich weiterhin 'liberal' nennt, dauert fast ein Jahrhundert.“ [10]

„Die fast vollständige Streichung der Zensusdiskriminierungen innerhalb der weißen Gemeinschaft geht einher mit der beschleunigten Deportation der Indianer und mit der Tendenz zum Ressentiment und zur Gewalt gegen die Schwarzen. (…) Die scharfe Grenzlinie zwischen Weißen einerseits und Schwarzen und Indianern andererseits begünstigt die Gleichheitstendenz innerhalb der weißen Gemeinschaft. Die Mitglieder einer Klassen- und Hautfarbearistokratie neigen dazu, sich selber als 'Pairs' zu werten: die den Ausgeschlossenen aufgezwungene Ungleichheit ist die Kehrseite des Gleichheitsverhältnisses, das sich unter denen durchsetzt, die die Macht haben, die 'Niedrigeren' auszuschließen. (…)“ [11] Im Ergebnis entsteht eine Herrenvolk democracy.

Was die Geschichte der Vereinigten Staaten angeht, so kann „eine ähnliche Betrachtung (…) hinsichtlich der sogenannten 'Progressive Era' angestellt werden, welche die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts umfasst; sicher zeichnet sie sich durch zahlreiche demokratische Reformen aus (die Direktwahl des Senats, das Wahlgeheimnis, die Einführung der Primärwahlen und des Instituts des Referendums usw. werden gewährleistet), stellt aber gleichzeitig für die Indianer (die ihrer letzten Ländereien beraubt und einem unerbittlichen Anpassungsprozess unterzogen werden, der ihnen sogar ihre kulturelle Identität aberkennen will) und für die Schwarzen (Zielscheibe des brutalen Terrors des Ku-Klux-Klan) eine besonders tragische Periode dar.“ [12]       

Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ist im Süden der USA auch die furchtbare Praxis des Lynchens Farbiger verbreitet. In seinem Buch „Der westliche Marxismus“ gibt Losurdo eine vom jungen Ho Chi Minh, dem späteren Befreier Vietnams, beobachtete grausame Szene wieder: „Als er 1924 auf der Suche nach Arbeit in die Vereinigten Staaten kommt, wird er voller Entsetzen Zeuge eines Lynchmordes, der langsamen und endlosen Qualen eines Schwarzen, denen eine amüsierte und feiernde Menge von Weißen beiwohnt. Wir übergehen die einzelnen Grausamkeiten, um uns auf die politische Zusammenfassung zu konzentrieren: 'Auf dem Boden, umgeben von Dreck aus Fett und Rauch, schneidet ein schwarzer Kopf, verstümmelt, geröstet, deformiert, eine schreckliche Grimasse und scheint die untergehende Sonne zu fragen: Und das ist Zivilisation?'“ [13] „Zwischen 1880 und 1900 wurden 2060 Afroamerikaner gelyncht. Einem Drittel von ihnen warf man sexuelle Übergriffe oder einfach unangemessenes Verhalten gegenüber weißen Frauen vor.“ [14]

Trotz aller Erfolge der Bürgerrechtsbewegung sind die USA auch heute noch – mehr als 150 Jahre nach Aufhebung der formellen Sklaverei – von einer Überwindung des Rassismus weit entfernt: Vor allem Farbige leiden unter bitterer Armut, sind häufiger als Weiße Opfer von Polizeigewalt, und ihr Anteil an Häftlingen ist weit überproportional.

Wie tief die rassische Diskriminierung in der weißen Gesellschaft der USA bis heute verankert ist, zeigt die alltägliche rassistische Gewalt von Polizisten gegenüber Schwarzen. Nach der Tötung von Trayvon Martin kam es 2013 zum Aufruhr von Empörten gegen diese Gewalt und zur Gründung der Bewegung „Black Lives Matters“. Auf die Ermordung des Schwarzen George Floyd im Mai 2020 durch weiße Polizisten in Minneapolis folgten erneut die ganzen USA erfassende Proteste. Auch in Europa kam es in vielen Städten zu Solidaritätsbekundungen.

Das Urteil des italienischen Historikers und Philosophen Domenico Losurdo über den Charakter der drei Länder Niederlande, Britannien und USA ist eindeutig: „Fest steht, dass in allen drei liberalen Revolutionen Freiheitsanspruch und Rechtfertigung der Sklaverei sowie der Dezimierung (oder Vernichtung) der Barbaren Hand in Hand gehen. (…) Die Länder der drei großen liberalen Revolutionen sind also zugleich die Protagonisten zweier tragischer Kapitel der modernen und Zeitgeschichte.“ [15] In seinem 1998 geschriebenen Buch „Das 20. Jahrhundert begreifen“ kommt er zum ernüchternden Ergebnis: „Die Geschichte des Westens führt uns ein Paradoxon vor Augen, das von der Geschichte seines heutigen Führungslandes her begriffen werden kann: Die Demokratie innerhalb der weißen Gemeinschaft hat sich gleichzeitig mit der Versklavung der Schwarzen und der Deportation der Indianer entwickelt.“ [16]

Die fest etablierte Existenz der Sklaverei im klassischen Liberalismus ist für Losurdo daher der Schlüssel für das Verständnis des Westens gestern und heute. Die von Marx so treffend als „Handelsjagd auf Schwarzhäute“ beschriebenen, nicht enden wollenden Strafexpeditionen und Kolonialkriege mit unzähligen Toten und Entrechteten hatte die rassische Diskriminierung ganzer Völker zur Voraussetzung bzw. zur Folge. Ein Gift, das noch heute wirkt und zur gegenwärtigen Teilung der Welt in einen weißen Westen und einen farbigen globalen Süden entscheidend beiträgt.          

Französische Revolution und die Erschütterung der Institution Sklaverei

Ein anderes Bild zeigt, zumindest was die Akzeptanz der Sklaverei angeht, die Französische Revolution. Sie ist zwar gleichfalls eine bürgerliche Revolution, die eine liberale Gesellschaft hervorbringt, trägt aber zugleich Elemente in sich, die darüber hinausgehen. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Nationalversammlung vom 26. August 1789 bezieht sich ausdrücklich auf alle Menschen ungeachtet ihrer Hautfarbe und nimmt die Sklaverei nicht hin, wie in der US-amerikanischen Verfassung geschehen. Dort wird die Institution der Sklaverei „in dem Staat rechtlich und sogar verfassungsmäßig legitimiert, der aus dem Aufstand der Siedler hervorgegangen ist, die sich nicht als 'Neger' behandeln lassen wollten – wenn auch unter Anwendung der Euphemismen und Umschreibungen (…). Es entsteht damit ein Land, das durch die (Losurdo zitiert hier Robin Blackburn) 'feste und direkte Verbindung von Eigentum an Sklaven und politischer Macht' gekennzeichnet ist, wie sowohl die Verfassung als auch die Zahl der Sklavenhalter verdeutlicht, die zum höchsten Staatsamt aufsteigen.“ [17]  

Die französischen Revolutionäre ließen sich demgegenüber in ihrem Handeln von Persönlichkeiten leiten, die bereits weit vor den revolutionären Ereignissen die Sklaverei ablehnten, sie zumindest aber grundsätzlich in Frage stellten: „Die Kritik an der Sklaverei entwickelte sich im 18. Jahrhundert stärker in Frankreich und wird schließlich wesentlicher Bestandteil der ideologischen Vorbereitung der französischen Revolution, wobei allerdings Dissonanzen und Zweideutigkeiten nicht fehlen.“ [18] Losurdo hebt dabei die Rollen der Aufklärer Montesquieu vor allem aber die von Rousseau hervor: „Tatsache ist jedenfalls, dass die gegen die Sklaverei gerichtete Polemik der philosophes nicht nur wesentlicher Bestandteil der ideologischen Vorbereitung der französischen Revolution ist, sondern auch eine Rolle bei dem Aufstand der Negersklaven gespielt hat, der auf der Woge dieser Revolution in Saint Domingue ausgebrochen war. Toussaint Louverture, der Anführer dieses Aufstandes bewunderte zutiefst die französische aufklärerische Kultur und hatte Raynalds Historie gelesen, wo er mit aller Wahrscheinlichkeit auch auf dessen Voraussicht eines neuen Spartakus gestoßen ist. (…) Der neue Spartakus scheint sich jedenfalls in Toussaint Louverture zu verkörpern. Im Gefolge des von ihm angeführten Aufstands schafft der Konvent 1794 die Sklaverei in den Kolonien ab, die dann 1802 von Napoleon wieder eingeführt wird.“ [19] Toussaint Louverture, der große Vorkämpfer der Revolution von San Domingo, fordert, (hier zitiert Losurdo Florence Gauthier, Triomphe et mort du droit naturel en Révolution) 'die absolute Geltung des Grundsatzes, dass kein Mensch, sei er rot, schwarz oder weiß, Eigentum von seinesgleichen sein kann'“ [20] Ohne Zweifel ist Louverture für Domenico Losurdo ein hervorragender Freiheitskämpfer, der Jahrzehnte vor Marx und Engels und ein Jahrhundert vor Lenin in Wort und Tat für Emanzipation und Gleichberechtigung kämpfte und dennoch bis heute kaum bekannt ist, obwohl „der große Protagonist der Revolution der Sklaven“ [21] in die Reihe der großen Revolutionäre gehört.

Die Erschütterung, die die Institution der Sklaverei weltweit durch die Französische Revolution erfährt, ist auch in Deutschland zu spüren: „Im Jahre 1795 verurteilt Kant energisch die 'allergrausamste und ausgedachteste Sklaverei', die auf den 'Zuckerinseln' stattfindet; wichtig ist hier, dass Kant seine Verurteilung unter besonderer Bezugnahme auf die 'handeltreibenden Staaten unseres Weltteils' und auf die Länder ausspricht, 'die von der Frömmigkeit viel Werks machen' (…). Die Verurteilung konzentriert sich also auf England und auf die Staaten, die sich geweigert hatten, dem Beispiel des Konvents hinsichtlich der Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien zu folgen, und die gegen das revolutionäre (und gegen die Sklaverei gerichtete) Frankreich einen Kreuzzug auch im Namen der Revolution führten.“ [22]   

Somit haben „sowohl die Niederländische als auch die Englische sowie die Amerikanische Revolution (…) der Entwicklung der Freiheit, der politischen Gleichheit und der Demokratie entscheidende Impulse gegeben. Doch das alles galt nur für die Weißen, für die Bevölkerungen der westlichen, kolonisierenden Länder und auch lange Zeit nur für die wenigen Besitzenden dort. In den Kolonien erkämpften sich europäische Einwanderer Freiheitsrechte und verlangten nach staatlicher Unabhängigkeit. Doch ohne „die Sklaverei (und die darauffolgende Rassentrennung) kann man die 'amerikanische Freiheit' nicht verstehen: sie wachsen, sich gegenseitig stützend, gemeinsam heran. (…)

Die Herrenvolk democracy der USA     

Es ist Hannah Arendt, die 1967 – inzwischen US-Bürgerin – eine Beurteilung der beiden Revolutionen, der Amerikanischen sowie der Französischen, vornimmt: „Die Französische Revolution mündete in eine Katastrophe und wurde zu einem Wendepunkt der Weltgeschichte; die Amerikanische Revolution war ein triumphaler Erfolg und blieb eine lokale Angelegenheit (…).“ [23] Doch kommt auch sie nicht umhin einzugestehen, dass dieser „triumphale Erfolg“ nur für Weiße galt, für Schwarze und Indianer verhieß die Amerikanische Revolution hingegen nichts Gutes: Die Revolution verdankte – nach Arendt - „ihren Erfolg zu einem Gutteil dem Fehlen verzweifelter Armut unter den Freien und der Unsichtbarkeit der Sklaven in den Kolonien der Neuen Welt. Natürlich gab es Armut und Elend in Amerika, die durchaus mit der Lage der 'laboring poor' in Europa vergleichbar waren. Mochte Amerika in der Tat 'a good poor Man´s country' sein, wie William Penn meinte, ein gutes Land für arme Männer, und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts für die Verarmten Europas der Traum vom gelobten Land bleiben, so ist nicht weniger wahr, dass diese 'Gutheit' zu einem beträchtlichen Maß vom Elend der Schwarzen abhing. (…) Der Unterschied bestand somit darin, dass die Amerikanische Revolution aufgrund der Institution der Sklaverei und wegen der Überzeugung, Sklaven würden einer anderen 'Rasse' angehören, die Existenz der Elenden übersah und damit die beachtliche Aufgabe aus dem Blick verlor, diejenigen zu befreien, die weniger durch politische Unterdrückung als durch die einfachsten Grundbedürfnisse des Lebens gefesselt waren. Les malheureux, die Unglücklichen, die im Verlauf der Französischen Revolution eine so gewichtige Rolle spielen und von ihr le peuple gleichgesetzt wurden, existieren in Amerika entweder nicht oder blieben völlig im Verborgenen.“ [24]           

Ganz ähnlich, in seiner Wortwahl nur deutlich schärfer, beschreibt Losurdo den Liberalismus der USA: „Wir haben es (hier) mit einem Rassenstaat zu tun, der sich, der ausdrücklichen Erklärung seiner Theoretiker und Apologeten im Süden zufolge, in 'drei Kasten, die freien Weißen, die freien Farbigen, die farbigen Sklaven' gliedert“ [25] Und somit spielt die Rassendiskriminierung „in den Vereinigten Staaten eine entscheidende Rolle im nationalen Maßstab (…), so empfiehlt es sich von einer Herrenvolk democracy zu sprechen.“ Heutige amerikanische Historiker verwenden dabei bewusst die deutsche Formulierung Herrenvolk, um die enge Verwandtschaft zwischen dem US-amerikanischen Rassismus und der rassistischen Ideologie des deutschen NS-Staats zu betonen. [26]

Und diese Herrenvolk democracy verschwindet auch nicht mit dem Ende der Sklaverei, nach dem Sieg der Union über den abtrünnigen Süden im amerikanischen Bürgerkrieg: „Die formelle Abschaffung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten im Jahre 1865, dreißig Jahre nach der entsprechenden Maßnahme in den englischen Kolonien und mit einer noch größeren Verspätung im Vergleich zu den Ländern, die die Unabhängigkeit von Spanien erobert hatten, setzt diesem Rassenstaat keineswegs ein Ende.

Wir sehen ein Regime der white supremacy am Werk, dass die Rassentrennung in den Schulen, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, in den Aufzügen und auf dem Friedhof und in jedem Aspekt des sozialen Lebens sanktioniert und die sexuellen Beziehungen und Eheverbindungen zwischen den Rassen verbietet und wie ein Verbrechen behandelt.“ [27] In Florida „werden sogar verschiedene Galgen für Schwarze und Weiße Todeskandidaten verwendet.“ [28]

Diese Zweiteilung wird als Segregation bezeichnet. Es ist „ein Begriff, den die Gesetzgeber in den Südstaaten selbst verwenden, bevor er Eingang in die Geschichtswissenschaft fand. (…) Im Verlauf der beiden ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts veränderte sich das Erscheinungsbild der Städte im Süden der USA durch die Errichtung von Mauern und Trennwänden, Schilder mit den Aufschriften 'Whites only' und 'Colored only' wurden aufgehängt, etwa an Trinkbrunnen oder Wartesälen. In öffentlichen Gebäuden und privaten Geschäften gab es doppelte Eingangstüren.“ [29]

Herrenvolk democracy als westliches Phänomen

Nach Domenico Losurdo kann „Die Kategorie Herrenvolk democracy zur Erklärung der gesamten Geschichte des Westens herangezogen werden. Zwischen dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts geht in Europa die Ausweitung des Wahlrechts Hand in Hand mit dem Kolonisationsprozess, der für die unterworfenen Völker den Zwang zu sklavischer oder halbsklavischer Arbeit mit sich brachte. Die Rechtsstaatlichkeit in der kapitalistischen Metropole ist eng verknüpft mit der Gewalt, der bürokratischen und Polizeiwillkür und mit dem Belagerungszustand in den Kolonien. Letztendlich ist es das gleiche Phänomen, das in den Vereinigten Staaten auftritt, nur erscheint es im Fall Europas nicht so offensichtlich, weil die Kolonialbevölkerungen nicht in der kapitalistischen Metropole leben, sondern von ihr durch den Ozean getrennt sind.“ [30]        

Das südafrikanische Apartheitssystem kopiert dieses System der Rassentrennung. In Nazideutschland wird es auf die Diskriminierung der Juden angewandt: So werden Parkbänke als „Nur für Arier“ benutzbar erklärt. Die wenigen für Juden vorgesehenen werden gelb angestrichen. In verschiedenen Landesteilen wird selbst der Wald zum „deutschen Wald“ erklärt, zu dem Juden keinen Zutritt haben. [31]          

Losurdo ist aber davon weit entfernt, die USA des ewigen Rassismus zu beschuldigen und es etwa gegenüber europäischen Kolonialländern wie Belgien, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, die Niederlande, Portugal und Spanien zurückzusetzen: „Das jahrhundertlange Andauern des Rassenstaats in den Vereinigten Staaten kann nicht mit einem mythischen, ewigen und einförmigen Amerika erklärt werden, sondern damit, dass sich in diesem Land die Kolonialvölker auf dem gleichen Territorium befinden, auf dem die herrschende Rasse lebte, und diese sah sich daher zu Maßnahmen gezwungen, die in Europa überflüssig waren. Dort kam die herrschende weiße Rasse wegen der räumlichen Distanz, die sie von den 'niederen' Rassen trennt, die jenseits der Meere angesiedelt sind, leichter ihre Reinheit bewahren.“ [32]

Seit einiger Zeit sehen sich allerdings auch die alten europäischen Kolonialländern mit einer starken Zuwanderung vor allem aus ihren früheren Kolonien konfrontiert, die sie womöglich bald vor ähnliche Herausforderungen stellen werden wie sie in den USA schon lange existieren.


[1] Ich beziehe mich bei den folgenden Ausführungen vor allem auf Arbeiten des italienischen Historikers und Philosophen Domenico Losurdo. Im Mittelpunkt seines Werks stand die Kritik am Liberalismus und hier vor allem die Entstehung und Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Die USA sind bis heute der Hort des Liberalismus und das mit Abstand wichtigste Land des liberalen Westens. Zitiert wird hier vor allem aus Losurdos Bücher „Freiheit als Privileg. Eine Gegengeschichte des Liberalismus“ und „Demokratie oder Bonapartismus – Triumpf und Niedergang des allgemeinen Wahlrechts“.

[2] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg. Eine Gegengeschichte des Liberalismus, Köln 2010, S. 33

[3] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 140

[4] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 23

[5] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 317

[6] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 196

[7] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 50

[8] Domenico Losurdo, Gewaltlosigkeit. Eine Gegengeschichte, Hamburg 2015, S. 244

[9] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 90

[10] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 436

[11] Domenico Losurdo, Lenin, die Herrenvolk democracy und das Schwarzbuch des Kommunismus, in: Topos – Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, Heft 22, 2003, Napoli, S. 49

[12] Domenico Losurdo, Fortschritt, Emanzipation und „Ernst des Negativen“. Zur Rehabilitierung einer heute verrufenen Idee, in: Das Argument 230, 41. Jahrgang Heft 2/3, 1999, S. 242

[13] Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus. Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte, Köln, 2021, S. 51

[14] Loïc Wacquant, Ein teuflisch penibles System, in: LE MONDE diplomatique, März 2024, Berlin, S.13

[15] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 41

[16] Domenico Losurdo, Da 20. Jahrhundert begreifen, Köln 2013, S. 21

[17] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 73

[18] Domenico Losurdo, Lemma Sklaverei, a.a.O., S. 302

[19] Domenico Losurdo, Lemma Sklaverei, a.a.O., S. 305

[20] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 236

[21] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 262

[22] Domenico Losurdo, Lemma Sklaverei, in: Europäischen Enzyklopädie zu Philosophie und Sozialwissenschaften, Hrsg. Hans Jörg Sandkühler, Hamburg 1990, Band 4 R-Z, S. 305

[23] Hannah Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, 14. Auflage 2023, München, S. 32

[24] Hannah Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, a. a. O., S. 24 f.

[25] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 136

[26] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 141

[27] Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? Berlin 2010, S. 33

[28] Loïc Wacquant, Ein teuflisch penibles System, in: LE MONDE diplomatique, a.a.O., S.13

[29] Ebenda

[30] Domenico Losurdo, Lenin, die Herrenvolk democracy und das Schwarzbuch des Kommunismus, a.a.O. S. 50

[31] In seinen Tagebüchern zählt Victor Klemperer unzählige Beispiele solcher Diskriminierungen auf, die den Juden in Nazideutschland das Leben schwermachten, bevor man schließlich zu ihrer Ermordung überging.

[32] Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? Berlin 2010, S. 36 f.

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