Rückzug in die Zitadelle Deutschland
Hans-Werner Sinn, Der Corona-Schock. Wie die Wirtschaft überlebt, Verlag Herder, 219 Seiten,
18 Euro, ISBN Print: 978-3-451-38893-4
Bereits im August dieses Jahres legte Hans-Werner Sinn sein Buch „Der Corona-Schock“ vor. Es gehörte damit zu den ersten Büchern, in denen die Pandemie und ihre ökonomischen Folgen behandelt werden. Die Schnelligkeit hatte allerdings ihren Preis: Das Werk ist nicht mehr als ein langes Interview mit dem Autor. Es beruht auf Gesprächen mit dem Lektor des Herder-Verlags Patrick Oelze. Die Frage-Antwort-Form erleichtert zwar das Lesen, führt aber zugleich immer wieder zu Redundanzen und lässt eine klare Gliederung vermissen. Der Leser hat so oft den Eindruck, im Kreis geführt zu werden.[1]
Auch enthält das Buch einige sehr persönliche Beobachtungen und Erlebnisse vorgetragen im Plauderton, die man von einem Ökonomen, der sich mit Rettungsfonds, der Europäischen Zentralbank und der EU-Klimapolitik befasst, nicht erwarten würde. So erfährt man etwa, dass der Autor Geld für das Gesundheitswesen Italiens gespendet hat, dass seine Frau Masken für Bekannte nähte und ähnliches mehr. Überhaupt gewinnt man oft den Eindruck, dass sich hier jemand in typisch professoraler Manier zu Wort gemeldet hat, der zu nahezu allem eine Meinung und eine Antwort parat hat, sei es zu der nicht funktionierenden Corona-App, sei es zur umstrittenen R-Reproduktionszahl des Virus, betrifft es die Mängel bei der Ausstattung der deutschen Krankenhäuser oder handelt es sich um die vermeintlichen Vorteile eines KfZ-Dieselmotors gegenüber dem Elektroantrieb. Fortwährend wird der Leser über Dinge belehrt, die mit dem eigentlichen Thema des Buches, der Situation der Ökonomie in der Corona-Krise, wenig zu tun haben.
Und doch bietet die Lektüre des neuesten Werks des selbsterklärten Ordoliberalen[2] einen Gewinn - nicht zuletzt für Linke. Die aber nehmen seine Kritik der deutschen EU-Politik grundsätzlich nicht zu Kenntnis. Sie sollten es aber tun, schließlich ist es wichtig zu wissen, wie der politische Gegner denkt. Und erst wenn man dessen Bücher liest, versteht man, wie es einem Volkswirt gelingen kann, in der Öffentlichkeit einen solchen Erfolg zu haben. Sinn versteht es nämlich, komplexe ökonomische Zusammenhänge in leicht verständlicher Sprache zu erklären und seine Kritik daran prägnant zu formulieren.[3]
Auch das Buch „Der Corona-Schock“ fand sofort große Aufmerksamkeit. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) besprach es wohlwollend, und die Zeitschrift Focus Money – ein Blatt, das sich in erster Linie an Aktionäre und an die, die es werden möchten wendet - brachte unter der Überschrift „Corona-Schuldenbombe – Die Rechnung zahlen sie!“ Auszüge daraus auf 13 Seiten.[4]
„Der Lockdown war richtig“
Bei aller Kritik des Autors an der Reaktion auf die ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie ist Sinn weit davon entfernt, die Corona-Politik von Bundesregierung und Bundesländern selbst in Bausch und Bogen zu verurteilen. Er hat denn auch nichts mit jenen zu tun, die die Gefahr kleinzureden versuchen, um sie so zu verharmlosen.
Unter der Überschrift „Der Lockdown war richtig“ (25) schreibt er vielmehr: „Ich halte persönlich die Maßnahmen, die die Bundesländer in dieser Krise beschlossen haben, um die Epidemie zu bekämpfen, für richtig. Man muss den politischen Entscheidungsträgern zugutehalten, dass sie bei großer Unsicherheit entschieden haben, ohne genau zu wissen, was die Datenlage ist. Und dass man, wenn man einen möglichen Irrtum in Kauf nimmt, auf der richtigen Seite irren möchte, indem man eher zu radikal vorgeht, um Leben zu schützen, als umgekehrt zu wenig radikal, um die Wirtschaft zu retten. Das ist eine sinnvolle Strategie.“ (26)
Auch lässt er keinen Zweifel daran, dass es richtig ist, jetzt „die Staatsverschuldung hochzufahren, um die Firmen, besonders betroffene Haushalte, Kleinselbständige und andere zu retten“, (143) schließlich habe „eine weitaus schlimmere Rezession als nach der Lehman-Krise die Welt erfasst“. (39) Er beteiligt sich auch nicht an dem in den Medien so beliebten China-Bashing. Im Gegenteil: „China scheint sich schnell zu erholen. Das kann eben daran liegen, dass die Chinesen die Epidemie besser im Griff haben.“ (20)
Die Corona-Krise als Fortsetzung der Lehman-Krise
Die Kritik des Autors setzt woanders an. Verurteilt wird, dass mit den von der Bundesregierung jetzt mitinitiierten europäischen Programmen zur Stützung der unter Druck geratenen südlichen Euroländer die Fehler wiederholt bzw. vertieft werden, die bereits bei der „Lösung“ der Lehman-Krise gemacht wurden: „Jene Länder, die ohnehin strukturelle Schwierigkeiten hatten und sie nur mittels einer massiven Auslandsverschuldung übertüncht hatten, kamen damals auch nicht wieder hoch. Selbst Frankreich kann man in dieser Hinsicht teilweise zum Süden rechnen.“ (39) Das Land „blieb bei 90 Prozent seiner ehemaligen Industrieproduktion stehen. Italien ist noch stärker abgestürzt als Deutschland und hängt seit Jahren irgendwo bei 20 Prozent weniger Industrieproduktion. Noch etwas schlimmer war es in Spanien und Griechenland. All diese Länder sind nicht wieder hochgekommen. Und das ist bis zum heutigen Tage, bis zur Corona-Krise, zwölf Jahre nach Lehman, das Dauerproblem in Südeuropa.“ (40)
Das Resümee des Autors lautet: „Die Ursachen für die Probleme dieser Länder reichen vor die Zeit der großen Finanzkrise zurück, die mit der Lehman-Pleite 2008 kulminierte. Die Corona-Epidemie und die Finanzkrise sind nur Brandbeschleuniger, die aus einer gravierenden wirtschaftlichen Schieflage, die der Euro zwischen Nord- und Südeuropa erzeugt hat, eine akute Wirtschaftskrise in Südeuropa und eine Krise der EU an sich gemacht hat.“ (55)
Im Einzelnen bedeutet das nach Sinn: „Der gesamte Mittelmeerraum ist seit der Lehman-Krise abgerutscht und hat seine Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Deutschland und dem Rest der Welt verloren. Das galt selbst für Frankreich, dessen wirtschaftliche Entwicklung immer irgendwo zwischen der Entwicklung von Deutschland und Italien verlief. (…) Die Corona-Krise gibt den bereits angeschlagenen Ländern nun den Rest, denn sie wurden von der Epidemie stärker getroffen als alle anderen kontinentaleuropäischen Länder (…). Kein Wunder, dass die Industrieproduktion nun noch einmal abgerutscht ist. Spanien stand im April 2020 bei minus 29 Prozent und Italien gar bei minus 32 Prozent im Vergleich zum Vor-Lehman-Niveau vom Herbst 2007. Und während Deutschlands Industrie von plus zwei Prozent auf minus sechs Prozent schrumpfte, ging Frankreichs Industrie von minus zehn Prozent auf minus 20 Prozent. Offenbar kommen die mediterranen Länder mit dem Euro überhaupt nicht zurecht und rutschen bei jeder neuen Krise noch ein Stück tiefer in den Graben.“ (59f.) Auf diese Weise verschärft die Corona-Krise „die Krise des Euroraums“. (53)
Es entstehen „riesige Schattenhaushalte“
In dem Buch konnten die Ergebnisse des EU-Gipfels vom 17.-21. Juli 2020 und das dort verabschiedete Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“ noch nicht berücksichtigt werden.[5] Bekannt war aber bereits die Vereinbarung zwischen dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel vom Mai des Jahres, den besonders von der Krise getroffenen EU-Ländern 500 Milliarden Euro als direkte Finanzhilfen zur Verfügung zu stellen. Die Europäische Kommission hatte diesen Betrag anschließend auf 750 Milliarden Euro erhöht. Der Gipfel vom Juli hatte dann die Hilfen so beschlossen. Finanziert werden sollen sie durch Kredite, die die EU dafür erstmals in ihrer Geschichte auf den Finanzmärkten aufnehmen kann.
Nach Sinn ist mit dieser neuen Verschuldenskompetenz der EU „das Eis gebrochen, auch wenn das Programm nun als Einmalprojekt tituliert wird. Diese Schulden sind Staatsschulden der europäischen Länder, aber sie werden nirgends verbucht, und sie werden auch auf die nationalen Schuldenquoten nicht angerechnet. Sie stellen einen riesigen Schattenhaushalt der EU-Mitgliedstaaten dar.“ (179) Und was ihren Zweck angeht, so werden „diese Rettungsprogramme (…) zwar als Wachstums- und Wiederaufbauprogramme tituliert, doch in Wahrheit handelt es sich dabei um konsumerhaltende Seitenzahlungen zum Erhalt einer EU-freundlichen Gesinnung in der Bevölkerung.“ (58) Es sei die vor allem in Italien, Spanien, Griechenland, Portugal aber auch in Frankreich wachsende Kritik an der EU, der man in der Corona-Krise Untätigkeit vorwirft, die dadurch beruhigt werden soll.
Bei den Corona-Bonds handele es sich daher um nichts anderes als um die über Jahre in der EU umstrittenen Euro-Bonds, die bisher von Politik und Medien der Bundesrepublik strikt abgelehnt wurden. Der Autor kommt angesichts des jetzt erfolgten Einknickens der Bundeskanzlerin zu einem vernichtenden Urteil über ihre Glaubwürdigkeit: „So viel zu Angela Merkels berühmter Aussage, Euro-Bonds werde es zu ihren Lebzeiten nicht geben. Jetzt soll es sie sogar zur Zeit ihrer Kanzlerschaft geben.“ (181)
Gegen den „Export-Wahn“
Es kam aber nicht allein nur in der Bundesregierung zu einem Sinneswandel, auch führende Medien, wichtige Ökonomen und selbst der einflussreiche Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) schwenkten in der Corona-Krise um. Direkte Finanzhilfen waren plötzlich kein Tabu mehr. Als Begründung für diesen Schwenk wird immer wieder angeführt, dass nur mit der Stützung der schwachen EU-Länder der Erhalt der Eurozone bzw. der EU gesichert und damit auch der hohe Export deutscher Waren und Dienstleistungen dorthin weiter garantiert werden könne. Ein Argument, das nicht zuletzt von den deutschen Gewerkschaften geteilt wird. Vor allem die IG Metall, die Gewerkschaft, die die Beschäftigten der stark exportorientierten Sektoren Maschinenbau und Automobilindustrie vertritt, begrüßte die Corona-Bonds.
Die Antwort des Autors auf diese Argumentation ist bemerkenswert: „Bisweilen hört man das Argument, dass wir durch den geplanten Wiederaufbaufonds der deutschen Industrie den Export sichern könnten. Das stimmt zwar als Sachverhalt, doch stimmt die implizite Aussage, das sei deshalb für Deutschland nützlich, definitiv nicht. Wir können unsere Produkte nicht verkaufen, weil die Kunden kein Geld haben, und jetzt schenken wir ihnen Geld, damit sie die Produkte kaufen können, also verschenken wir die Produkte. (…) Dass Export nicht notwendigerweise und automatisch gut ist für ein Land, verstehen viele Leute nicht. (…) Exportieren heißt, Güter im Schweiße seines Antlitzes zu produzieren und sie anderen zu geben. Wieso soll man davon etwas haben? Diese Güter hätte man doch auch selber konsumieren können oder andere, die man mit einem entsprechenden Einsatz von Arbeit gemäß den nationalen Präferenzen hätte produzieren können, seien es Häuser, Autobahnen oder schicke Einbauküchen oder Autos. Tatsächlich hat man nur was vom Export, wenn man dafür Güter eintauscht, die man selber konsumieren kann, also importiert.“ (183f.)
Sinn knüpft hier an seine Kritik an, die er bereits im Zusammenhang mit der Finanzkrise 2007/2008 vorgebracht hatte. Er sprach seinerzeit von einem „pathologischen Exportwahn“[6] und brachte dies auf die griffige Formel, dass in einer solchen Ökonomie „Porsches gegen wertlose Schuldverschreibungen“ getauscht werden.
Diese Erkenntnis steht allerdings im Widerspruch zu der von ihm gleichfalls vorgenommenen Verteidigung des EU-Binnenmarktes. So bezeichnet Sinn den von der EU geschaffenen „Handelsfreiraum“ als „äußerst erfolgreiche Einrichtung“ (194). Er verkennt dabei, dass der von ihm beklagte dauerhaft hohe Exportüberschuss zu einem erheblichen Teil erst durch diesen EU-Binnenmarkt möglich wird. Die Kritik am Exportüberschuss steht auch im Gegensatz zu seiner Glorifizierung der deutschen Autoindustrie. Hier befürchtet der Autor ihre „Zerstörung“ durch eine falsche Umweltpolitik. Doch gerade diese Industrie treibt den Exportüberschuss auf immer neue Höhen.
Dennoch ist seine Kritik am „pathologischen Exportwahn“ vernünftig. Linke, die sie eigentlich teilen müssten, bringen sie hingegen kaum noch vor, ganz offensichtlich nehmen sie Rücksicht auf die Gewerkschaften, die die Parolen der Industrie längst übernommen haben und stolz darauf sind, zum „Exportweltmeister Deutschland“ zu gehören.
Wer rettet wen?
Der Autor stellt aber nicht allein nur die Begründung für die Corona-Bonds in Frage. Er bezweifelt auch ihre Wirksamkeit: „Das sind aber alles keine wirklichen Lösungen der europäischen Misere, denn man kann die Wirtschaft nicht durch solche Fonds wieder aufbauen, man kann nur sicherstellen, dass das Finanzsystem nicht kollabiert, solange hinreichend viel Geld da ist, und man kann die Gläubiger der angeschlagenen Länder schützen, die die Papiere in ihrem Portfolio haben, allen voran französische Banken und andere französische Investoren. Deren Exposure gegenüber italienischen Schuldnern ist beispielsweise viermal so groß wie jenes deutscher Gläubiger.“ (62 f.)
Offen wird ausgesprochen, wem diese Politik in Wirklichkeit nützt: „Viele denken, bei dem großen Corona-Fonds geht es darum, Italien zu retten, es geht aber vor allem darum, die Gläubiger des italienischen Staats zu retten. Das sind zunächst einmal die Italiener selbst, die auf dem Umweg über verschiedene Fonds und Versicherungsgesellschaften den größten Teil der Staatspapiere besitzen. Zu den Gläubigern gehören auch unsere eigenen Lebensversicherer sowie Investoren aus aller Welt inklusive der amerikanischen Pensionsfonds, die von erheblicher Bedeutung für den Weltkapitalmarkt sind. Doch die bei Weitem meisten der nichtitalienischen Gläubiger sitzen wieder in Frankreich. Die Investitionen von französischen Institutionen in Italien ist nach Auskunft der BIZ, der Bank für Internationalen Zahlungsverkehr, viermal so groß wie jene deutscher Institutionen.“ (95f.)
Konfrontative Stellung gegenüber Frankreich
Es fällt auf, dass Sinn in Frankreich den eigentlichen Gegner einer deutschen Stabilitätskultur, wie er sie versteht, sieht. „Was mich aber am meisten stört an diesem Programm (das im Juli 2020 beschlossene Programm „Next-Generation EU“, A.W.) ist (…) der Umstand, dass die deutsche Kanzlerin nun abermals eingeknickt ist und sich von Frankreich zu einer gemeinschaftlichen Verschuldung hat drängen lassen.“ (181) „Abermals“, da dies bereits am Beginn der Griechenlandkrise im Frühjahr 2010 so war. Damals hieß der fordernde französische Präsident Nicolas Sarkozy, heute ist es Emmanuel Macron. Und beide Mal war es Angela Merkel, die einknickte.
Tatsächlich zielten die unter französischer und deutscher Führung von der Eurogruppe beschlossenen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit Griechenlands nicht auf die Rettung der griechischen Wirtschaft oder gar auf die Sicherung des Lebensstandards der griechischen Bevölkerung. Es war vielmehr die Furcht, das viele aus Kerneuropa dorthin verliehene Geld zu verlieren. Ein führendes Mitglied der damals regierenden linken Syriza-Partei formulierte es so: „Zusammen mit dem Euro waren auch einige europäische Banken in Gefahr, in erster Linie französische und deutsche, welche mit den griechischen Banken auch den Löwenanteil an griechischen Staatsanleihen hielten.“[7]
Was die Bewertung der heutigen Situation angeht, so steht für Sinn fest: „Im Grunde werden auf der Ebene der EU nun wieder alte politische Forderungen aktiviert und mit Corona begründet, die damit wenig zu tun haben. Frankreich, und speziell Macron, liegen der Bundesregierung schon jahrelang in den Ohren mit dem Wunsch nach einer Fiskalkapazität, einem Eurobudget, Umverteilungsmaßnahmen etc.“ (185)
Mit seinem Frankreich-Bashing greift Sinn die wichtigste Grundlage deutscher EU-Politik an: Die deutsch-französische Zusammenarbeit, die so gern auch als europäischer Motor umschrieben wird. Tatsächlich geht hier seine Kritik zu weit, macht er doch Paris zum Prügelknaben von nahezu allem, was in der EU schief läuft. Zugleich greift sie aber auch zu kurz, relativiert er damit doch die von ihm an anderer Stelle zu Recht gegeißelte deutsche Europapolitik, die sich – wie von ihm selbst beschrieben - an der bedingungslosen Förderung des Exports der eigenen Industrie orientiert.
Grundsätzliche Kritik am Euro
Sinn beschreibt die negativen Wirkungen des Euro ganz ähnlich wie es etwa Wolfgang Streeck in seinem Buch „Gekaufte Zeit“[8] tat: „Hätten die Mittelmeerländer, einschließlich Frankreichs noch die Möglichkeit, ihre Produkte durch Abwertungen ihrer Währungen zu verbilligen, wäre alles halb so schlimm. Dann würde sich der Konkurrenzdruck auf dem Wege über steigende Importpreise zwar in einer Dämpfung des Lebensstandards, aber nicht in einem großen Industriesterben und einer hohen Arbeitslosigkeit äußern.“ (61) Sinn erinnert an seinen auf dem Höhepunkt der Griechenlandkrise gemachten Vorschlag, zu einer „atmenden Währungsunion“ (70) überzugehen. Danach hätte man Griechenland vorübergehend aus dem Euro-Verband entlassen können, um so dem Land mit einer neuen, gegenüber dem Euro niedrig bewerteten nationalen Währung Zeit für einen Erholungsprozess zu geben. Später hätte Griechenland dann wieder Mitglied der Währungsunion werden können.[9] Angeblich soll er den damaligen Bundefinanzminister Wolfgang Schäuble 2015 für dieses Konzept bereits gewonnen haben. Gescheitert sei der Plan dann aber an dem Veto Merkels.
Das Urteil des Autors über die Aussichten des Euros ist in den letzten Jahren schärfer geworden. Noch 2015 beschrieb er die Perspektive der gemeinsamen Währung als offen. In seinem Buch „Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel“ hieß es darüber noch: „Der Weg über eine gemeinsame Währungsunion erwies sich zuletzt als unerwartet steinig und es steht noch in den Sternen, ob er überhaupt zum Ziel führt.[10] Jetzt schreibt er: „Realistischer und aus deutscher Sicherheit zuträglicher wäre es auch einzugestehen, dass wir über den Umweg der gemeinsamen Währung – und draufgesattelt auch noch einer Fiskalunion – das angestrebte Ziel der politischen Union nicht erreichen werden.“ (198) Und noch entschiedener formuliert er: „Im Grunde zeigt sich an dieser Entwicklung wie verheerend es war, überhaupt in den Euro zu gehen. Das war der große historische Fehler in der europäischen Entwicklung.“ (194)
Wie schon in seinen früheren Büchern empfiehlt Sinn stattdessen einen anderen Weg zur europäischen Einigung: „Eine politische Union ist durch eine gemeinsame Regierung definiert, die demokratisch kontrolliert wird und über ein Gewaltmonopol nach innen und nach außen verfügt, vor allem natürlich über eine gemeinsame Armee.“ (198) Doch kein einziger EU-Mitgliedstaat dürfte bereit sein, diese Machtmittel und damit sich selbst aufzugeben Sein Vorschlag entbehrt daher jeder realistischen Grundlage.
Rückzug in die Zitadelle Deutschland
Das Buch „Der Corona-Schock“ reflektiert, ebenso wie schon die vorangegangenen Bücher Sinns, die wachsende Ernüchterung breiter Teile der Bevölkerung über die EU angesichts ihrer nicht enden wollenden Krisen, die inzwischen auf vielen Feldern zur Stagnation und sogar zum Rückschritt bei der Integration geführt haben. Dazu passt, dass die Bedeutung der EU für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands als nicht mehr so zentral wie einst bewertet wird: „Trotz der europäischen Integration und des Euro hat sich der Handel mit den westlichen EU-Ländern längst nicht so schnell entwickelt wie der Handel mit dem Rest der Welt und verlor relativ gesehen in den letzten 20 Jahren zunehmend an Bedeutung für Deutschland (…).“ (41) Nach Sinn ist die EU dabei, sogar zu einer Last für Deutschland zu werden: „Den Wettbewerb mit den Völkern Asiens und auch den immer aggressiver agierenden USA zu bestehen, wird nicht leicht sein. Angesichts dessen können wir uns gar nicht leisten, Europa dauerhaft durch eine Transferunion à la Macron (…) zuzulassen, dass der gesamte Mittelmeerraum in Lethargie verharrt und zu einem großen Mezzogiorno mutiert, der vom Tropf des Nordens nicht mehr loskommt.“ (68)
Es scheint, eine alte Kontroverse der deutschen Politik zurückgekehrt zu sein, die bereits bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 im Raum stand. Damals zeigte sich Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard – wie Hans-Werner Sinn ein Ordoliberaler - ausgesprochen skeptisch gegenüber der neuen Gemeinschaft, in der er in erster Linie eine Abschottung der sechs Gründerstaaten, zusammen mit den damals noch zu Frankreich und Belgien gehörenden Kolonialgebieten, sah. Dieser Gründung eines europäischen Großraums setzte Erhard die Parole „Unser Markt ist die Welt“ entgegen.[11] Heute scheint es so, dass in der deutschen Öffentlichkeit, wie auch unter den politischen und wirtschaftlichen Eliten, der Wunsch heranwächst, es wie jetzt die Briten zu machen und sich auf die Zitadelle des Nationalstaats zurückzuziehen, um dann von dort aus auf eigene Faust um Weltgeltung politisch wie ökonomisch zu kämpfen.
Diese Position wird vor allem für diejenigen attraktiv, die sich mehr und mehr von der EU abwenden, da sie deren Politik für die Verschlechterung ihres Lebensstandards verantwortlich machen. Es sind jene, die die mit der massiven Geldschöpfung der Europäischen Zentralbank (EZB) einhergehende Verbilligung von Krediten kritisieren, fließen diese Mittel doch massiv in den Immobilienmarkt mit dem Ergebnis steil ansteigender Preise für Eigenheime und Eigentumswohnungen und immer höheren Mieten. Es sind jene, deren Sparguthaben aufgrund der schon seit Jahren andauernden Nullzinspolitik der EZB nichts mehr abwerfen, und die jetzt sogar Negativzinsen an die Banken zahlen sollen. Es sind schließlich jene, deren Pensionsfonds und Lebensversicherungen keine oder nur noch sehr geringe Gewinne abwerfen, da die Renditen für Staatsanleihen von der europäischen Politik künstlich niedrig gehalten werden.
All diese Opfer werden den Bürgern abverlangt, um die Refinanzierungskosten der südlichen Euroländer niedrig, diese Länder über Wasser und damit das Euro-Währungsgebiet zusammen zu halten. Sozialdemokraten und Grünen gehören EU-weit zu den glühendsten Anhängern dieser Politik, die sie „solidarisch“ nennen, obgleich sie die Lebenssituation der Menschen dort nicht nachhaltig verbessert. Das, was von der Linken europaweit noch übriggeblieben ist, folgt Sozialdemokraten und Grünen brav. Da hat es ein Ordoliberaler wie Sinn leicht, die vielen von der EU Enttäuschten mit seinen Argumenten anzusprechen.
Wie nach ihm die Krisenlasten unter den Einwohnern der Zitadelle Deutschland verteilt werden sollen, erwähnt er nur kurz am Rande. Dezidiert spricht er sich gegen eine Reichensteuer aus. (163) Geht es nach dem Autor, sollte „niemand von der Finanzierung der durch (die Corona-Krise, A.W.) entstehenden Lasten ausgenommen werden, auch nicht die Rentner und Rentiers.“ Er empfiehlt daher eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, was bedeutet, dass die breite Masse die Lasten zu tragen hat. Da ist der Ordoliberale Sinn eben ganz Liberaler.
[1] Bereits in seinem 2014 veröffentlichten Buch „Gefangen im Euro“ hatte Hans-Werner Sinn die Interviewform gewählt.
[2] So sein Selbstzeugnis in „Gefangen im Euro“, S.81.
[3] Hans-Werner Sinn galt als Chef des Ifo-Instituts als einer der wichtigsten Ökonomen der Bundesrepublik. Auf der FAZ Ranking-Liste der einflussreichsten Ökonomen Deutschlands stand er mehrere Jahre auf Platz eins. Auch nach seinem Abschied vom Ifo-Instituts blieb er in der Spitzengruppe. Beim Ranking 2020 kam er auf Platz sieben von insgesamt 30 Ausgewählten, noch vor Michael Hüther (IW Köln), Ottmar Edenhofer (PK Potsdam), Claudia Kemfert (DIW Berlin) sowie allen gewerkschaftlich orientierten Ökonomen.
[4] Vgl. Focus Money, Nr. 38 vom 09.09.2020
[5] Vgl. zu den Beschlüssen des Europäischen Rats vom 17.-21.07.2020: Andreas Wehr, Zuerst mit der eigenen Bourgeoisie fertig werden, 30.08.2020, https://www.andreas-wehr.eu/zuerst-mit-seiner-eigenen-bourgeoisie-fertig-werden-nationalstaat-und-eu-im-lichte-von-corona.html
[6] Hans-Werner Sinn, Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist, Berlin 2010, S. 32
[7] Giorgos Chondros, Die Wahrheit über Griechenland, die Eurokrise und die Zukunft Europas, Frankfurt/M., 2015, S. 40; vgl. zur Krise um Griechenland auch: Andreas Wehr, Der kurze griechische Frühling. Das Scheitern von Syriza und seine Konsequenzen, Köln 2016
[8] Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit – die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin, 2015
[9] Vgl. zu dem Konzept einer „atmenden Währungsunion“ den Abschnitt „Das Eurosystem überdenken“ in: Hans-Werner Sinn, Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel, München 2015, S. 453-501
[10] Ebenda, S.453
[11] Vgl. zu dieser Kontroverse: Andreas Wehr, Die Europäische Union, 3. grundlegend aktualisierte und erweiterte Auflage 2018, Köln, S. 40 ff.
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