„Zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden“

Nationalstaat und EU im Lichte von Corona

Vortrag von Andreas Wehr auf der Willi-Gaisch-Sommerschule der KPÖ Steiermark vom 27. bis 30. August 2020

In den deutschen aber auch in französischen und italienischen Medien wird uns folgende Geschichte erzählt: In der Sitzung des Europäischen Rats vom 17. bis 21. Juli 2020 in Brüssel fassten die Regierungschefs der EU-Länder historische Beschlüsse. Die Entscheidungen hätten für die Europäische Union eine neue, helle und hoffnungsvolle Zukunft eröffnet. Nach tagelangem hartem Ringen sei es den Regierungschefs gelungen, eine gemeinsame und solidarische Antwort auf die Herausforderung der mit der Corona-Pandemie verbundenen Wirtschaftskrise zu geben.

So sei es nach einigen unschönen Ereignissen am Beginn der Krise gelungen, wieder zur Einheit der europäischen Völker zurückzufinden. Zu den unschönen Dingen gehörte etwa das von einigen Staaten ausgesprochene Exportverbot medizinischen Materials wie Masken und Schutzkleidung in ein anderes EU-Land.  Auch einseitige Grenzschließungen hätten ganz und gar nicht dem „europäischen Geist“ entsprochen.

Eine „kopernikanische Wende“?

Doch das alles sei nun überwunden - heißt es. So habe nach den Worten von Ratspräsident Charles Michel die Union mit den Beschlüssen des Rats über das Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“ eine „kopernikanische Wende“ vollzogen. Der deutsche Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz spricht gar vom „Hamilton-Effekt“ der EU. Alexander Hamilton war einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten und deren erster Finanzminister.[1] Mit seiner Bezugnahme auf Hamilton sieht Scholz ganz offensichtlich jetzt die EU an einem geschichtlichen Wendepunkt hin zu einem gemeinsamen Staat angekommen.

Kampf zwischen „bösen Nationalisten“ und „guten Europäern“?

Das ist der erste Teil der uns heute erzählten Legende über den Europäischen Rat von Ende Juli 2020.  Der zweite Teil handelt von dem dort angeblich ausgetragenen Kampf zwischen den Mächten des Lichts und jenen der Dunkelheit: zwischen den großherzigen Befürwortern einer gemeinsamen, solidarischen Hilfe der Länder untereinander und den unverbesserlichen Nationalisten.

Die „solidarischen Europäer“ wurden vom Tandem Merkel/Macron angeführt. Mit Genugtuung wurde registriert, dass dafür der deutsch-französische Motor gerade noch rechtzeitig angesprungen war. Auf der anderen Seite standen die „unsolidarischen Europäer“, die so genannten „Geizigen“, „Knausrigen“ oder – auf Englisch - die „frugal four“. Gemeint sind die Regierungschefs Dänemarks, der Niederlande, Österreichs und Schwedens. In der Ratssitzung schloss sich Finnland ihnen an.

Tatsächlich hatte die Bundesregierung zuvor, auf dem deutsch-französischen Videogipfel am 18. Mai 2020, einen spektakulären Kursschwenk vollzogen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) schrieb über die Än­de­rung der deut­schen Hal­tung: „Ber­lin hat­te bis­her die Li­nie ver­tre­ten, die Fi­nan­zie­rung über Kre­di­te lau­fen zu las­sen.“[2] Über das Ergebnis des Gipfels  hieß es im Einzelnen: „500 Milliarden Euro, so haben Merkel und Macron vereinbart, sollen in den wirtschaftlichen Wiederaufbau nach der Krise fließen. Die EU-Hilfen sollen an die Krisenländer in Südeuropa gehen, als bleibende Zuschüsse und nicht als rückzahlbare Kredite. Die Finanzierung soll die Brüsseler EU-Kommission sichern – über Anleihen 'im Namen der EU', die an den Finanzmärkten begeben werden. (…) So einig haben sich Macron und Merkel schon lange nicht mehr gezeigt. Noch vor sechs Wochen, bei einem missglückten EU-Videogipfel, waren sie heftig aneinander geraten. Die Kanzlerin hatte sich auf die Seite der Nordeuropäer geschlagen, die für strikte Budgetdisziplin eintreten und EU-Schulden kategorisch ablehnen.“[3]

Bis Mai 2020 gehörte auch Berlin nicht nur zu den „Geizigen“ - die deutsche Bundesregierung galt bis dahin sogar als Anführer jener mittel- und nordeuropäischen EU-Länder, die vor dem Weg in eine Transfer- bzw. Schuldenunion warnten. Jetzt plötzlich standen die Niederlande, Österreich und die skandinavischen Länder allein da.   

Wie lässt sich dieser Schwenk Berlins erklären? Zunächst ist zu konstatieren, dass „die deutsche Position in der Coronakrise unhaltbar geworden (war). Zu Beginn der Pandemie konnte Merkel noch damit argumentieren, Deutschland sei genauso betroffen wie alle anderen EU-Länder – und Forderungen aus Südeuropa abwehren. Nun, da die Corona-Welle abebbt, zieht dieses Argument jedoch nicht mehr. Deutschland steht als größter Gewinner da – nicht nur bei der Seuchen-Bekämpfung, sondern auch bei der Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Krisenfolgen.“[4] So ist zwar die Wirtschaftsleistung Deutschlands im zweiten Quartal des Jahres 2020 um 9,7 Prozent zurückgegangen, doch der Einbruch war weniger stark als vermutet. Deutlich schlechter erging es den Volkswirtschaften Italiens, Spaniens und Frankreichs.

Der Bundesregierung ist zudem ganz offensichtlich klar geworden, dass die EU und vor allem die Eurozone durch eine unverändert ablehnende Haltung des Nordens gegenüber den Forderungen der Südländer nach direkten finanziellen Hilfen in eine gefährliche Lage kommen könnte. Vor allem in Italien, aber auch in Spanien, hat sich die öffentliche Meinung gegenüber der EU im Zuge der durch COVID-19 ausgelösten Wirtschaftskrise deutlich verschlechtert – man fühlt sich von der Union alleingelassen. In Berlin wächst die Angst vor instabilen Verhältnissen im Süden.

Die wirtschaftliche Stabilisierung dieser Region aber liegt im ureigenen deutschen Interesse, geht es doch um den Bestand der EU und der Eurozone und damit um die Sicherung deutscher Exporte und den Erhalt von Arbeitsplätzen hier. Die Bundesregierung handelte also im nationalen Interesse als sie ihre Position zu direkten Finanzhilfen für die Südländer änderte. Einen Gegensatz zwischen „bösen Nationalisten“ und „guten Europäern“ gab es daher auf der Ratstagung im Juli nicht. Jedes Land stritt auf der europäischen Ebene auf seine Weise für seine nationalen Interessen. So hatte Frankreich das Engagement seiner Banken in Italien im Blick als es auf die Stabilisierung des Landes drängte.

Im Übrigen ist die Kritik an den Transferleistungen auch in Deutschland keineswegs verstummt. Nach der Ratstagung wurde Merkel im Leitkommentar der FAZ vorgeworfen, dass sie dort nicht an der Seite der geizigen Fünf gestanden habe: „Mehr als nur naiv ist der Glaube, wirt­schaft­li­che Proble­me ließen sich einfach mit Geld zuschüt­ten. Die ökono­mi­sche Ratio wurde in Brüs­sel von der Gruppe um Mark Rutte vertre­ten. An deren Seite hätte 'Angela' stehen müssen.“[5] Und der einflussreiche Ökonom und Autor Hans-Werner Sinn schreibt in seinem Buch Der Corona-Schock: „Bisweilen hört man das Argument, dass wir durch den geplanten Wiederaufbaufonds der deutschen Industrie den Export sichern können. Das stimmt zwar als Sachverhalt, doch stimmt die implizite Aussage, das sei deshalb für Deutschland nützlich, definitiv nicht. Wir können unsere Produkte nicht verkaufen, weil die Kunden kein Geld haben, und jetzt schenken wir ihnen das Geld, damit sie die Produkte kaufen können, also verschenken wir die Produkte.“[6]

Kein Gegensatz von Rechts und Links auf dem Ratsgipfel

Der auf der Ratstagung ausgetragene Streit war keiner zwischen politischen Lagern. Die beiden Hauptkontrahenten des Gipfels, Emmanuel Macron und der niederländische Regierungschef Mark Rutte, sind Liberale. Mit Angela Merkel und dem Österreicher Sebastian Kurz standen sich zwei konservative Regierungschefs gegenüber. Auch die Sozialdemokraten zeigten sich gespalten: Die sozialdemokratisch regierten bzw. mitregierten Länder Italien, Portugal und Spanien plädierten für die gemeinsame Schuldenaufnahme, die gleichfalls sozialdemokratisch geführten Länder Dänemark, Finnland und Schweden lehnten sie ab. Die Trennlinie verlief nicht entlang von Parteilagern. Bestimmt wurde sie von den unterschiedlichen Interessen der Staaten, genauer: vor allem von den Interessen der jeweiligen nationalen Bourgeoisien.     

Die ungleichen Folgen der Corona-Krise

Im Ratsbeschluss zum Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“ heißt es: „Aufgrund der außergewöhnlichen wirtschaftlichen und sozialen Lage in Folge der COVID-19-Krise sind außerordentliche Maßnahmen zur Stärkung des Aufschwungs und der Resilienz der Volkswirtschaften erforderlich.“ Die Folgen der COVID-19-Krise sind in der Tat außerordentlich - weltweit und vor allem in der EU. In all ihren Ländern wird für 2020 ein deutlicher Rückgang der Wirtschaftsleistung erwartet. Die Europäische Kommission geht von einem Einbruch der Wirtschaftsleistung von durchschnittlich 8,3 Prozent aus. Für die 19 Länder der Eurozone wird sogar ein Rückgang von 8,7 Prozent erwartet.[7] Für die besonders schwer von der Corona-Pandemie betroffenen Länder Frankreich, Italien und Spanien prognostiziert die Behörde sogar einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um zweistellige Werte: Für Frankreich minus 10,6 Prozent, für Spanien minus 10,9 Prozent und für Italien sogar minus 11,2 Prozent.

Für Deutschland wird dagegen ein Rückgang von 5,8 Prozent erwartet. Ähnlich glimpflich werden wahrscheinlich die Niederlande (minus 6,8 Prozent), Dänemark (minus 5,2 Prozent), Österreich (minus 7,1 Prozent), Schweden (minus 5,3 Prozent) und Finnland (minus 6,3 Prozent) davonkommen.[8]

Auch die aktuellen Zahlen für die Arbeitslosigkeit spiegeln die Unterschiede wider. In Deutschland stieg sie bis Juli 2020 moderat auf einen Wert von 6,3 Prozent. Damit lag sie in etwa auf dem Jahresniveau von 2017. Ende Juli 2020 meldete die deutsche Bundesanstalt für Arbeit, dass sich der Corona-bedingte Anstieg der Arbeitslosigkeit nicht fortgesetzt hat: „Der massive Einsatz von Kurzarbeit hat stärkere Anstiege der Arbeitslosigkeit und Beschäftigungsverluste verhindert.“[9] Auch in Österreich stieg die Arbeitslosigkeit nur moderat auf 6,2 Prozent. In Frankreich ging sie hingegen in nur zwei Monaten von gut sieben auf zehn Prozent hoch, in Italien von sechs auf zwölf Prozent und in Spanien gar von 14 auf 19 Prozent. Nahezu unverändert hoch liegt sie auch in Griechenland mit mehr als 15 Prozent.

Die südlichen EU-Staaten wurden von der Corona-Krise in einer Situation getroffen, in der sie sich noch immer nicht von den Folgen der internationalen Finanzkrise 2007/08, der sogenannten Lehman-Krise, erholt hatten. Bei Ausbruch der neuen Krise lag die Industrieproduktion Italiens, Spaniens und Griechenlands noch immer um ein Fünftel unter dem Vor-Lehman-Niveau.

Auch die Zahl der Corona-Infizierten und die der an und mit der Krankheit Gestorbenen liegt im Süden deutlich höher als in Deutschland, den Benelux-Ländern, Österreich oder Skandinavien. Der angeordnete Lockdown des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft fiel dort umfangreicher und lang andauernder aus. Es kann daher nicht überraschen, dass auch die Industrieproduktion jetzt noch einmal abgerutscht ist: Spanien stand im April 2020 bei minus 29 Prozent und Italien gar bei minus 32 Prozent im Vergleich zum Vor-Lehman-Niveau vom Herbst 2007. Auch bei den Dienstleistungen fällt der Rückgang im Süden überdurchschnittlich aus. Hier wirkt sich der von der Corona-Krise besonders betroffene Tourismus in Ländern wie Italien, Spanien, Portugal und Griechenland negativ aus.        

Wachsende Verschuldung des Südens

Extrem ungleich sind auch die Quoten der Verschuldung der EU-Mitgliedstaaten. An der Spitze steht Griechenland mit 176 Prozent in Relation zum BIP, gefolgt von Italien mit 137 Prozent, Portugal mit 120 Prozent, Belgien mit 104 und Frankreich mit 101 Prozent. Spanien hat eine Verschuldung von knapp 99 Prozent. Zum Vergleich: Österreich liegt bei knapp 73 und Deutschland bei 61 Prozent. Auch Dänemark, Finnland und Schweden liegen unter dem EU-Durchschnitt von 79,5 Prozent, Dänemark mit 33,2 Prozent und Schweden mit 35,9 Prozent sogar weit darunter. Die „geizigen Fünf“ gehören in der EU hingegen alle zu den gering verschuldeten Ländern.       

Damit sind die unterschiedlichen ökonomischen Positionen der EU-Länder in Umrissen beschrieben. Und damit ist zugleich klar, wer von der Union Hilfe erwartet und wer nicht.

Das Programm „Next Generation EU“

Der Rat einigte sich mit dem Programm „Next Generation EU“ auf eine Fördersumme von insgesamt 750 Mrd. Euro. Bis zuletzt stark umstritten war die Aufteilung der Mittel zwischen Darlehen und direkten Finanzhilfen für die Länder.

Nach dem Vorschlag von Merkel und Macron für einen Wiederaufbaufonds in Höhe von 500 Mrd. Euro legte die Europäische Kommission Ende Mai 2020 ihren Plan vor. Die zu vergebende Summe wurde auf 750 Mrd. Euro erhöht. Zwei Drit­tel davon (500 Mrd. Euro) sollten als nicht zurück­zah­lbare Zuschüs­se vergeben werden, ein Drit­tel (250 Mrd. Euro) als Kredit. Das Europäische Parlament hatte insgesamt zwei Billionen Euro vorgeschlagen. In solchen Fragen aber kommt es auf das Parlament nicht an.

Die von der Kommission genannte Summe von Zuschüssen war den „geizigen Fünf“ jedoch  viel zu hoch. Am Ende konnten sie erreichen, dass nicht 500 Mrd. sondern nur 390 Mrd. Euro als direkte Finanzhilfen vergeben werden. Die restlichen 360 Mrd. Euro stehen für Kredite bereit.

Näher besehen besteht das Programm „Next Generation EU“ aus sieben Einzelprogrammen, wovon die „Aufbau- und Resilienzfazilität“ mit 672,5 Mrd. EUR das mit Abstand größte ist. Unmittelbare Hilfe für die von der Pandemie am stärksten Betroffenen soll mit dem Programm REACT-EU geleistet werden. REACT-EU steht für „Recovery Assistance for Cohesion and the Territories of Europe“ (Aufbauhilfe für den Zusammenhalt und die Gebiete Europas). Zu den Zielen dieses Programms heißt es: „Diese Unterstützung wird für alle Wirtschaftszweige, auch für die stark in Mitleidenschaft gezogenen Sektoren Tourismus und Kultur, zur Verfügung stehen. Diese zusätzliche Unterstützung ist auch für Investitionen in den europäischen Grünen Deal und die digitale Wende gedacht, um die beträchtlichen Investitionen in diesen Bereichen, die bereits im Rahmen der EU-Kohäsionspolitik getätigt werden, zu stärken."[10] Für ReactEU sind aus dem Gesamtprogramm  „Next Generation EU“ 47,5 Mrd. Euro vorgesehen. Das ist angesichts der sozialen Probleme von Millionen Menschen im Zuge der Corona-Krise eine recht bescheidene Summe.   

Die Mittel für eine gemeinsame EU-weite Gesundheitspolitik wurden nur geringfügig aufgestockt. Und das gemeinsame Katastrophenschutzprogramm der EU (rescEU) erhält von den 750 Mrd. Euro lediglich 1,9 Mrd. Euro.

Wer bekommt die Hilfen?

Nach einer Aufstellung der Kommission verteilen sich die Ansprüche auf die Hilfen aus der Aufbau- und Resilienzfazilität wie folgt: Größter Empfänger ist Italien mit 63,38 Mrd. Euro, gefolgt von Spanien mit 61,62 Mrd. Euro. Frankreich stehen 32,17 Mrd. Euro zu, Polen 26,80 Euro. Deutschland liegt mit 21,54 Mrd. Euro noch vor Griechenland mit 17,87 Mrd. Euro. Für Österreich sind 2,95 Mrd. Euro vorgesehen.[11]    

Die Hilfen werden nicht – wie man angesichts der mit der Coronakrise verbundenen akuten Finanzierungsschwierigkeiten vermuten könnte – sofort, sondern erst 2023 ausgezahlt. Lediglich eine Summe von 10 Prozent der „Aufbau- und Resilienzfazilität“ soll bereits 2021 bereitstehen.

Für Soforthilfen hingegen wurde bereits im April 2020 das „Corona-Sicher­heits­netz“ beschlossen. Das wichtigste Programm darin ist das europäische Kurzarbeitergeld SURE, für das insgesamt 100 Mrd. Euro zur Verfügung stehen. Diese Mittel werden aber nur als Darlehen an die Mitgliedstaaten vergeben. Ausdrücklich festgelegt ist, dass die einem Jahr auszahlbare Höchstsumme 10 Mrd. Euro nicht übersteigen darf. Zum Vergleich: Für die Verlängerung der Bezugsdauer von Kurzarbeitergeld bis Ende 2021 werden allein für Deutschland zusätzlich zehn Milliarden eingeplant.

Die Kommission behält die Kontrolle und verbucht einen Machtzuwachs

Aufschlussreich ist das Verfahren, nach dem die Mittel des Programms „Next Generation EU“ abgerufen werden können. Dazu heißt es im Ratsbeschluss: „Die Mitgliedstaaten erstellen nationale Aufbau- und Resilienzpläne, in denen die Reform- und Investitionsagenda für den betreffenden Mitgliedstaat für die Jahre 2021-2023 dargelegt sind. Die Pläne werden 2022 überprüft und erforderlichenfalls angepasst, um der endgültigen Mittelzuweisung für 2023 Rechnung zu tragen.“[12]

Für die Genehmigung ist folgender Fahrplan vorgesehen: „Die Aufbau- und Resilienzpläne sind von der Kommission innerhalb von zwei Monaten nach ihrer Vorlage zu bewerten. Die Kriterien Übereinstimmung mit den länderspezifischen Empfehlungen sowie Stärkung des Wachstumspotenzials, Schaffung von Arbeitsplätzen und wirtschaftliche und soziale Resilienz des Mitgliedstaats müssen die höchste Punktzahl bei der Bewertung erhalten. Ein wirksamer Beitrag zur grünen und digitalen Wende ist ebenfalls Voraussetzung für eine positive Bewertung. Die Bewertung der Aufbau- und Resilienzpläne ist vom Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission im Wege eines Durchführungsrechtsakts zu billigen, wobei der Rat anstrebt, diesen innerhalb von vier Wochen nach Vorlage des Vorschlags zu erlassen. Voraussetzung für die positive Bewertung der Zahlungsanträge ist eine zufriedenstellende Erfüllung der einschlägigen Etappenziele und Zielvorgaben.“[13]  

Danach müssen die Pläne der Antragsteller bestimmten Kriterien entsprechen, die auch jetzt schon zu den wirtschaftspolitischen Zielen der Europäischen Kommission gehören und politisch umstritten sind. Unter den Begriffen „Stärkung des Wachstumspotenzials, Schaffung von Arbeitsplätzen und wirtschaftliche und soziale Resilienz“ versteht die Kommission regelmäßig tiefgreifende Reformen der sozialen Sicherungssysteme und Reformen des Arbeitsmarktes - also die altbekannte Austeritätspolitik, die stets zu Lasten der Lohnabhängigen und sozial Schwachen geht.

Ein besonderes Anliegen der „geizigen Fünf“ war hier, dass der Rat ein Mitspracherecht bei der Bewertung der Aufbau- und Resilienzpläne erhält. Voraussetzung für die positive Bewertung der Zahlungsanträge durch den Rat ist nun „eine zufriedenstellende Erfüllung der einschlägigen Etappenziele und Zielvorgaben.“

Herausgehoben wurde im Ratsbeschluss die Bedeutung der Klimaziele als Kriterien für die Bewertung: „Klimaschutzmaßnahmen werden in den Strategien und Programmen, die über den MFR (Mittelfristiger Finanzrahmen der EU, A.W.) und NGEU (Next Generation EU, A.W.) finanziert werden, durchgängig berücksichtigt. Für den Gesamtbetrag der Ausgaben aus dem MFR und NGEU wird ein Gesamtklimaziel von 30 Prozent gelten, das sich in angemessenen Zielen in den sektoralen Rechtsvorschriften niederschlagen wird. Bei beiden muss das Ziel einer klimaneutralen EU bis 2050 eingehalten werden, und beide müssen zur Verwirklichung der neuen Klimaziele der Union für das Jahr 2030, die bis zum Jahresende aktualisiert werden, beitragen. Grundsätzlich sollten alle Ausgaben der EU mit den Zielen des Übereinkommens von Paris vereinbar sein.“[14]

Auf den Machtzuwachs der neoliberal ausgerichteten Kommission durch die Schaffung des Programms „Next Generation EU“  hatte Steffen Stierle in der Tageszeitung junge Welt bereits frühzeitig hingewiesen: „Zudem bietet der Wiederaufbaufonds eine vielleicht einmalige Chance, endlich Zugriff auf die Wirtschaftspolitik Italiens und Spaniens zu bekommen. (…) Im Kommissionsvorschlag werden die Transfers mit Programmen verbunden, die sich an den Empfehlungen des Europäischen Semesters orientieren – also der Wunschliste Brüssels.“[15]

Ganz ähnlich sieht es auch die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Kommis­si­ons­che­fin Ursula von der Leyen sieht den Fonds erkenn­bar nicht als Instru­ment für Notfäl­le. Nach ihrem Willen sollen die Mittel vor allem für den EU-Umbau nach den von ihr ausge­ge­be­nen Zielen verwandt werden, für eine 'grüne' und digi­ta­le Wirt­schaft. Der Chef des Deut­schen Insti­tuts für Wirt­schafts­for­schung, Marcel Fratz­scher, sieht das genau­so: Der Fonds sei 'ein neues Instru­ment, um euro­päi­sche Aufga­ben gemein­sam zu bewäl­ti­gen' und 'der Start­punkt für eine Trans­for­ma­ti­on in den Berei­chen Klima­schutz und Digi­ta­li­sie­rung'. Das klingt nicht danach, dass der Fonds wieder abge­schafft werden soll.“[16] Und in einem weiteren Artikel der FAZ heißt es: „Erst­mals kann die EU-Kommis­si­on selbst in größe­rem Umfang Schul­den machen. Zugleich soll sie die Verwen­dung der Mittel in den Mitglied­staa­ten über­wa­chen. Das erhöht ihre Macht selbst dann, wenn sie die Kontroll­rech­te erwar­tungs­ge­mäß lax ausübt. Es ist eine alte Erkennt­nis, dass die Macht der EU-Zentra­le vor allem davon abhängt, wie viel Geld ihr zur Verfü­gung steht.“[17]

Corona-Bonds – die lange geforderten Euro-Bonds?

Stellen nun die direkten Finanzhilfen sowie die Kreditzusagen die lange geforderten Euro-Bonds dar? Und hat es auf dem Ratsgipfel den Durchbruch zu ihrer dauerhaften Etablierung gegeben? Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sieht das jedenfalls so. In seiner Erklärung zum Ausgang des Gipfels heißt es: „Das ist der Einstieg in eine gemeinschaftliche Teilung der Schuldenlast. Eine Forderung, die der DGB seit langem stellt. (…) Politisch bedeuten die Beschlüsse einen enormen Integrationssprung.“ Auch SPD, Grüne und die Partei DIE LINKE begrüßten die Corona-Bonds emphatisch und feierten sie als Durchbruch zu einer neuen, europäischen Solidarität.

Auf jeden Fall aber hat Angela Merkel eine erneute Kehrtwendung in ihrer langen Kanzlerschaft vollzogen. Vor noch gar nicht langer Zeit hatte sie erklärt, „Euro-Bonds werde es zu ihren Lebzeiten nicht geben. Jetzt soll es sie sogar zur Zeit ihrer Kanzlerschaft geben.“[18] Wie bereits bei der Entscheidung über Finanzhilfen für Griechenland vom Frühjahr 2010 ist die Kanzlerin erneut vor den Forderungen einer französischen Regierung eingeknickt. Damals hieß der Präsident Nicolas Sarkozy, heute ist es der ehemalige Investmentbanker der Rothschild-Bank Emmanuel Macron. Und jedes Mal ging bzw. geht es nicht um die Rettung der griechischen bzw. heute der italienischen Bevölkerung. Gerettet werden die Gläubiger der jeweiligen Staaten, die Banken, Lebensversicherer, Pensionsfonds und nicht zuletzt Spekulanten. Und diese Gläubiger kommen aus der ganzen Welt, auch aus Deutschland – vor allem aber aus Frankreich.        

Immerhin ist es Merkel auf dem Gipfel gelungen, eine gesamtschuldnerische Haftung für die Kredite auszuschließen, die die EU zur Finanzierung der Finanzhilfen und Darlehen auf den Kapitalmärkten aufnehmen wird. Die EU-Staaten sollen nur für jenen, begrenzten Anteil haften, den sie als Garantie im Budget einbringen.    

Der Weg in eine Transferunion ist damit aber dennoch eingeschlagen worden. Auch wenn die Kanzlerin nicht müde wird zu betonen, dass es sich um eine einmalige Hilfsaktion in einer besonderen historischen Situation handele. Ihr Vizekanzler und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz sieht das anders. Nach ihm ist „Der Wiederaufbaufonds ein echter Fortschritt für Deutschland und Europa, der sich nicht mehr zurückdrehen lässt.“[19]

Die Entscheidungen des Gipfels vom Juli verstoßen gegen die europäischen Verträge. In Artikel 125 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ist eindeutig festgelegt, dass die Union nicht für die Verbindlichkeiten eines Mitgliedslandes haftet. Genau das wird sie aber in Zukunft tun. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass sich bald das deutsche Bundesverfassungsgericht mit den Corona-Bonds beschäftigen wird.

Wie sind die Beschlüsse des Rats vom Ende Juli 2020 zu bewerten? Handelt es sich tatsächlich um eine „kopernikanische Wende“ bei der Entwicklung der EU?

Die Hilfen werden zu spät kommen, um den unmittelbaren sozialen Verwerfungen der COVID-19-Pandemie in der EU begegnen zu können. Im Jahre 2021 sollen lediglich 10 Prozent für die Vorfinanzierung der Aufbau- und Resilienzpläne bereitstehen. Genau dann aber werden sie am dringendsten gebraucht werden.

Die Dimension der Hilfen erscheint auf den ersten Blick sehr hoch. Im Verhältnis zur Größe der EU von etwa 450 Millionen Einwohnern hingegen ist sie nicht sehr beindruckend. Zum Vergleich: Zur Krisenbekämpfung haben Bundesregierung und Bundesländer für Deutschland sehr viel umfangreichere finanzpolitische Maßnahmenpakete auf den Weg gebracht. Das Volumen der gesamtstaatlichen haushaltswirksamen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen liegt allein für das Jahr 2020 bei rund 453 Milliarden Euro. Rechnet man die Garantien dazu, sind es rund 820 Milliarden Euro. Hinzu kommen die Ausgaben für Kurzarbeitergeld.

Deutschland profitiert zudem überdurchschnittlich von der weitgehenden Aufhebung der Beihilfenkontrolle durch die EU-Kommission. 51 Prozent der Summe aller in der EU bewilligten Beihilfen dienen der Stützung der deutschen Wirtschaft. Auf Platz zwei liegt Frankreich mit nur 17 Prozent und Italien mit 15,5 Prozent. In der Konsequenz kommen Deutschland und eine Reihe anderer mittel- und nordeuropäischer Länder wirtschaftlich gut durch die COVID-19 Wirtschaftskrise. Dies gilt aber nicht für die südeuropäischen und einige südosteuropäische Staaten.  

Durch die Erhöhung des Anteils der Darlehen am Programm „Next Generation EU“ ist es für die südeuropäischen Staaten weniger attraktiv geworden. Eine weitere Kreditaufnahme wird deren jetzt schon hohe Verschuldungsquote weiter ansteigen lassen. Ihre Stellung auf den Finanzmärkten würde sich daher weiter verschlechtern. Italien hatte deshalb bereits Hilfen aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) abgelehnt. Es befürchtet einen Stigmatisierungseffekt, wenn es sich den Bedingungen des ESM unterwerfen müsste. Die schlechten Erfahrungen Griechenlands mit der Troika nach 2010 wirken hier abschreckend.

Die Bewältigung der Folgen der mit der Pandemie einhergehenden Wirtschaftskrise stehen zwar im Mittelpunkt des Programms „Next Generation EU“, aber die Mittel sollen zugleich zur Verfolgung weiterer Ziele eingesetzt werden. Genannt wird hier vor allem die „grüne und digitale Wende“. Es geht um die Verwirklichung des bereits im November 2019 von der Europäischen Kommission verkündeten ehrgeizigen Ziels, die gesamte EU bis zum Jahre 2050 klimaneutral zu machen.[20] Dafür sollen in den nächsten Jahren auf nationalstaatlicher wie auf EU-Ebene gigantische finanzielle Ressourcen mobilisiert werden, die es vor allem den großen europäischen Monopolen ermöglichen sollen, ihre Produktion umweltverträglicher zu gestalten, so dass sie weltweit konkurrenzfähig bleiben bzw. werden. Auf diese Weise sollen die europäischen Konzerne im Wettbewerb mit denen der USA, Chinas, Japans, Indiens und anderer Schwellenländer langfristig bestehen. Finanziert werden sollen diese Innovationen über die Staatshaushalte und damit von den Steuerzahlern. Mit Hilfe des Programms „Next Generation EU“ kann die Europäische Kommission nun zumindest über einen Teil dieser Mittel mitentscheiden, die Ratsbeschlüsse haben ihr dazu die entsprechenden Instrumente in die Hand gegeben. Die Krise wird demnach von der EU genutzt, um der Europäischen Kommission deutlich mehr Finanzmittel zur Verfolgung dieser Ziele zukommen zu lassen.

Bei der Vergabe dieser zusätzlichen Mittel und bei der Kontrolle ihrer Verwendung haben schließlich weder die nationalen Parlamente noch das Europäische Parlament Mitspracherechte. Die Union wird damit noch undemokratischer als sie es bisher schon ist.

Die EU wird krisenanfälliger

Bereits die Lehman-Finanzkrise 2007/08 hatte gezeigt, dass die Eurozone nur sehr schlecht auf externe Schocks reagieren kann. Die ungleiche Entwicklung in den Ländern beschleunigte sich. Griechenland konnte nur mit Hilfe massiver Finanzunterstützung der kerneuropäischen Länder in der Eurozone gehalten werden, dennoch ist das Land verarmt und in seiner Entwicklung weit zurückgeworfen worden.

Eine vergleichbare Folge ist für die Corona-Wirtschaftskrise wahrscheinlich. Die Kluft zwischen dem relativ reichen Norden und dem Süden wird noch größer werden. Eine grundlegende Besserung der Lage ist daher von der EU nicht zu erwarten. Diese kann nur durch grundlegende Änderungen der Machtverhältnisse in den Mitgliedstaaten erreicht werden. Es bleibt daher bei der Losung des Kommunistischen Manifests: „Zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden“.   

 

[1] Alexander Hamilton wandelte 1790 als erster Finanzminister der Vereinigten Staaten von Amerika die Schulden der Einzelstaaten der USA in Bundesschulden um. Mit der Finanzkrise 1837 scheiterte jedoch dieses System der Bundesschulden. Seitdem sind die einzelnen Staaten wieder allein für ihre Finanzen zuständig. Eine Schuldenübernahme durch die Föderation gibt es bis heute nicht.

[2] Mit Schulden gegen die Corona-Krise, in: FAZ vom 19.05.2020

[3] Wiederaufbauplan der EU – Merkel räumt ab, in: Cicero vom 20.05.2020,  https://www.cicero.de/wirtschaft/wiederaufbauplan-eu-angela-merkel-emmanuel-macron

[4] Wiederaufbauplan der EU – Merkel räumt ab, a.a.O.

[5] Falsche Magie. Die ökonomische Ratio wurde von Mark Rutte vertreten. Geld allein löst die Probleme nicht, in: FAZ vom 22.07.2020

[6] Hans-Werner Sinn, Der Corona-Schock, Freiburg im Breisgau 2020, S. 183

[7] Noch weiter abwärts, Tagesschau vom 07.07.2020,  https://www.tagesschau.de/wirtschaft/rezession-eu-101.html

[8] Statista, Europäische Union: Prognose zum Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den Mitgliedsstaaten von 2018 bis 2021 vom 24.07.2020,  https://de.statista.com/statistik/daten/studie/159507/umfrage/prognose-zur-entwicklung-des-bip-in-den-laendern-der-eurozone/

[9] Bundesagentur für Arbeit, Entwicklung des Arbeitsmarkts in Deutschland 2020, Mitteilung vom 30.07.2020, https://www.arbeitsagentur.de/news/arbeitsmarkt-2020

[10] Europäische Kommission, Fragen und Antworten, 28.05.2020,  https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/qanda_20_948

[11] Europäische Kommission, Die Säulen von Next Generation EU, https://ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/health/coronavirus-response/recovery-plan-europe/pillars-next-generation-eu_de

[12] Außerordentliche Tagung des Europäischen Rates, a.a.O., Punkt A18

[13] Außerordentliche Tagung des Europäischen Rates, a.a.O., Punkt A19

[14] Außerordentliche Tagung des Europäischen Rates, a.a.O., Punkt A21

[15] Steffen Stierle, Endlich Zugriff, in: Junge Welt vom 19.05.2020

[16] „Ein richtig dickes Ding“, in: FAZ vom 23.07.2020

[17] Europa macht Schulden. In der Krise ändert die EU ihr Gesicht. Welche Legitimation hat sie dafür?,  in: FAZ vom 12.08.2020

[18] Hans-Werner Sinn, a.a.O., S. 181

[19] Die Grenzen der EU-Schulden. Merkel pocht auf Ausnahmecharakter der Einigung, in: FAZ vom 25.08.2020

[20] Kommission fordert klimaneutrales Europa bis 2050, 28.11.2020, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/IP_18_6543

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