G20-Proteste: Berechtigte Globalisierungskritik oder blinder Aktionismus?

Bericht über Interviews mit Werner Rätz (Attac) und Andreas Wehr auf „Sputnik“


Am 7. und 8. Juli treffen sich die 19 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer und die EU zum diesjährigen G20-Gipfel in Hamburg. Dabei sind neben Gastgeber Deutschland und den anderen G7-Staaten auch Russland, China, Brasilien, Indien, Indonesien, Argentinien, Mexiko, Südafrika, Australien, Süd-Korea, Saudi-Arabien, die Türkei und die EU. Außerdem nehmen Chefs verschiedener internationaler Organisationen, darunter der UNO, der Weltbank, der Welthandelsorganisation (WTO) und der OECD, an den Gesprächen zu den aktuellen Problemen und Herausforderungen in der Welt teil.

Nach dem Ausschluss Russlands aus den G8 ist der G20-Gipfel eine der wenigen Plattformen, auf denen Russland und der Westen in einen Dialog kommen können. Doch nicht jedem gefällt die Vorstellung, dass Angela Merkel Staatschefs wie Donald Trump, Recep Tayyip Erdogan oder Wladimir Putin nach Hamburg eingeladen hat. Schon im Vorfeld formiert sich massiver Protest gegen das Treffen. Neben friedlichen Demonstranten erwarten die Sicherheitsbehörden laut einem Bericht der WELT auch mehr als 10.000 gewaltbereite Linksextremisten.

G20 – ein elitärer Club, der armen Ländern seine Politik diktiert?

Dass die G20-Gipfel ein ums andere Mal Ziel massenhafter Proteste werden, liegt nach Ansicht des Buchautors Andreas Wehr mit daran, dass G20 und G7 oft in einen Topf geworfen werden. 

„Sie sagen: Die Mächtigen der Welt kommen zusammen. Doch da muss man genau hingucken. Bei den G20 sind Schwellenländer dabei, China, auch Russland und Indien. Das hat eine andere Qualität. Man kann natürlich kritisieren, dass die UNO das nicht initiiert hat, aber es ist auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung, dass, was die Fragen der Weltordnung angeht, mehr Staaten beteiligt werden als nur die G7, die früher alles für sich entschieden haben.“ 

Werner Rätz, Urgestein der Proteste und langjähriges Attac-Mitglied, gibt ihm insofern Recht, als dass es positiv sei, dass auch Schwellenländer an den Gesprächen beteiligt werden.  Auch dagegen, dass die Staatschefs informell miteinander die Probleme der Welt besprechen, habe er nichts einzuwenden. Doch seien die G20 insofern zu kritisieren, als sie weite Teile der Welt, wie Afrika und große Gebiete Asiens, ausschließen würden. 

„Die Kritik ist nicht, dass diese 20 miteinander reden, sondern, dass sie davon ausgehen, dass das, was sie diskutiert und entwickelt haben, auch so gemacht werden muss. Wenn man beispielsweise die Frage nach Afrikas Entwicklung stellt, dann muss man mit denjenigen reden, die es betrifft und die selbst Ideen dazu haben. Die EU verhandelt mit den afrikanischen Ländern in sechs getrennten Verhandlungsrunden und Ländergruppen über sogenannte Wirtschaftspartnerschaften, die nichts anderes darstellen, als die Öffnung der afrikanischen Märkte für europäische Großkonzerne – und damit die Zerstörung großer Teile der afrikanischen Ökonomie. Während die afrikanischen Länder selbst seit Jahren daran arbeiten, eine gesamtafrikanische Wirtschaftszone zu errichten und Spaltungen zu überwinden, werden diese Spaltungen von der EU massiv verschärft.“ 

Durch eine Reihe von Institutionen, wie den Baseler Ausschuss oder den Finanzstabilitätsrat, habe sich die G20-Gruppe einen eigenen Exekutivapparat erschaffen, der ihre Beschlüsse an der UNO vorbei durchsetze, so der Attac-Aktivist. 

Massenproteste in Hamburg: Was wollen die Demonstranten?

Zahlreiche Organisationen und Vereine haben zum Protest gegen den G20-Gipfel in Hamburg aufgerufen, darunter auch Attac, Campact und die Friedensbewegung. „Gerechten Welthandel schaffen – Klima retten – Soziale Ungerechtigkeit bekämpfen – Demokratie stärken!“ – etwa so liest sich das Gros der Aufrufe. Die Protestierenden seien gegen Hunger, Ungleichheit, Klimawandel, Kriege und Vertreibung. 

Die Formulierungen seien sehr vage und ließen kein konkretes gemeinsames Ziel erkennen, moniert Andreas Wehr. Mit der eigentlichen Agenda des Gipfels habe sich kaum jemand von den Gegnern beschäftigt. 

„In der Vorbereitung des Gipfels hat es ja schon eine ganze Reihe von Gipfeln gegeben, die die Fachminister veranstaltet haben. Die Agrarminister haben sich beispielsweise mit salzwasserresistenten und trockenheitsresistenten Pflanzen beschäftigt. Da gibt es also eine ganze Menge, aber die Demonstranten ignorieren das und ich finde das sehr bedauerlich.“

Auch die Situation in Afrika, die Verschmutzung der Meere durch Plastikmüll und die Antibiotika-Resistenz seien Themen des diesjährigen Gipfels. 

Statt an diese Themen anzuknüpfen und zu versuchen, sie mit ihren Forderungen in die richtige Richtung zu leiten, würden sich die Demonstranten eine eigene Welt erschaffen, so Wehr.

„Ich halte das gesamte Herangehen für falsch. In der Tat hat es einen gewissen anarchistischen Charakter. Alles soll ganz anders sein, die Zivilgesellschaft soll das in die Hände nehmen, doch wie das in den einzelnen Ländern aussehen soll, darüber macht man sich keine Gedanken. Ich habe den Eindruck, dass hier versucht wird, an die Proteste, die gegen die G7 und G8 in Seattle, Genua, Heiligendamm usw. initiiert worden sind, anzuknüpfen. Man macht ein großes Event und alle möglichen Gruppen organisieren sich dafür. Über Inhalte wird fast gar nicht geredet, sondern man protestiert gegen die Mächtigen der Welt, gegen den Staat, gegen Merkel.“

Besonders enttäuscht sei er von der Friedensbewegung.

„Die Friedensbewegung hat einen ganz merkwürdigen Aufruf veröffentlicht gegen die „globalisierte Nato“. Das ist absurd. Hier werden Opfer und Täter miteinander vermengt. Wenn man sich die konkrete Situation mal ansieht, dann wird Russland von der Nato unter Druck gesetzt, im Baltikum, in der Ukraine, in Georgien, aber auch in anderen Regionen. Man versucht auch, China einzukreisen. Insbesondere die Situation im Südchinesischen Meer wird von den USA permanent verschärft. Es ist also absurd, dass man alle Gipfelteilnehmer über einen Kamm schert und es ist schon auch ein Unterschied, ob ein G7-Gipfel oder ein G20-Gipfel tagt. Aber alle sind „globalisierte Nato“ und was die Friedensbewegung da von sich gibt, ist unter ihrem Niveau. Stattdessen hätte man erklären müssen, dass der Gipfel in Hamburg, wie schon die Gipfel davor, eine gute Gelegenheit ist, um miteinander zu sprechen.“   

Dass die G20-Proteste keine konkreten gemeinsamen Ziele hätten und sich nicht mit der Agenda des Gipfels beschäftigen würden, bestreitet Werner Rätz, der sich seit über 40 Jahren politisch engagiert und auch bei den Blockupy-Protesten in Frankfurt am Main mit dabei war. Das Spektrum der G20-Gegner sei eben sehr breit und das spiegele sich in der Vielfalt der Forderungen wider. Obwohl im G20-Format durchaus richtige und wichtige Themen besprochen werden würden, werde falsche Politik fortgeführt und man komme der Lösung der Probleme nicht näher. Protest und ziviler Ungehorsam seien daher wichtiger denn je.

„Die G20 haben nach wie vor keine Vorstellung davon, dass man Wirtschaftspolitik an der guten Versorgung der Menschen mit Gütern und Dienstleistungen orientieren muss und nicht an der Stabilität der Finanzinvestitionen. Das Krisenmanagement der Europäischen Union in den letzten 10 Jahren hat sehr deutlich gezeigt, dass da nichts dazugelernt worden ist.“

Bericht: Ilona Pfeffer, Sputnik

Zusammenfassung der Interviews auf: https://de.sputniknews.com/panorama/20170614316156701-g20-proteste-berechtigte-globalisierungskritik/

Die Interviews zum Nachhören:

Mit Andreas Wehr https://soundcloud.com/sputnik-de/andreas-wehr-g20-proteste-gehen-in-falsche-richtung

Mit Werner Rätz: https://soundcloud.com/sputnik-de/werner-raetz-attac-g20-haben-nichts-dazugelernt

 

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