„Deutsch dominiertes neoliberales Projekt und Vasall der USA“ – 27 Jahre EU

Interview mit Andreas Wehr auf Sputnik vom 07. Februar 2019

Der Vertrag von Maastricht hat vor 27 Jahren, am 7. Februar 1992, die Grundlage für die Europäische Union (EU) geschaffen. Der Europaexperte Andreas Wehr zieht im Gespräch mit Sputnik eine kritische Bilanz und warnt vor Illusionen.

Herr Wehr, der Vertrag von Maastricht gilt als Gründungsdokument der Europäischen Union. Wie sieht es heute, 27 Jahre später, mit der EU aus? Was hat der Vertrag gebracht?

Der Vertrag hat die EU auf eine ganz neue Grundlage gestellt. Die EU hieß damals noch nicht so, es war die Europäische Gemeinschaft (EG). Allein schon die Tatsache, dass man sich Europäische Union genannt hat und seitdem so nennt, ist schon von Bedeutung. Man hat nach den Römischen Verträgen das Ganze auf eine neue Grundlage gestellt und ihm den heutigen Namen gegeben, auch eine eigene Flagge kam hinzu.

Man hat verschiedene Elemente hineingefügt bzw. gestärkt: Es gibt seitdem eine engere Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, und ganz neu hineingekommen ist der Bereich Justiz und Inneres. Das Wichtigste an diesem Vertrag heute ist aber, dass mit ihm die Währungsunion auf das Gleis gesetzt wurde. Man hatte damals einen Stufenplan dafür verabschiedet, für einen Zeitraum bis Ende der 1990er Jahre. Der ist dann auch realisiert worden.

Alles, was wir heute unter EU verstehen bzw. viele mit der EU verknüpften Dinge wie die Flüchtlingspolitik und der Euro sind aus diesem Vertrag entstanden. Insofern kann man sagen, er hat heute noch eine enorme Bedeutung.

Der vor zehn Jahren verstorbene linke Ökonom Jörg Huffschmid schrieb einmal von der „neoliberalen Deformation Europas“ durch den Maastricht-Vertrag. Würden Sie dem zustimmen?

Ja. Man hat damals klargestellt, man wird eine Europäische Zentralbank (EZB) aufbauen. Die ist dann auch geschaffen worden, nach dem Vorbild der Bundesbank. Das heißt also, man hat auf die Erfahrungen und Perspektiven der Hartwährungs-Länder gesetzt, und vor allem auf die der Bundesrepublik. Die hat sich in diesen Fragen durchgesetzt. Insofern war das tatsächlich eine neoliberale Deformation. Die Ergebnisse haben wir ja alle erlebt, mit Griechenland, mit der gesamten Krise. Davon waren besonders Portugal, Irland und Zypern betroffen. Die mussten alle Rettungsschirme in Anspruch nehmen.

Hier hat sich schon gezeigt, dass die nationalen Ökonomien, insbesondere der südeuropäischen Länder, der Peripherie-Länder, den Kriterien, die die Bundesrepublik bzw. die Bundesbank vorgegeben und mit dem Maastricht-Vertrag fixiert hat, nicht gewachsen waren. Das ist die neoliberale Politik, die sich in diesen Ländern in den letzten Jahren als fatal erwiesen hat.

Bevor wir zu diesen konkreten Krisen kommen, eine andere Frage: Es wird immer wieder von den Befürwortern dieser EU davon gesprochen, dass durch dieses Projekt der Frieden in Europa gesichert wurde und wird. Nun zeigt sich in den letzten Jahren eine zunehmende Militarisierung der EU. Wie ist das einzuschätzen angesichts dieser Entwicklung?

Der Vertrag von Maastricht von 1992, in Kraft getreten 1993, hat ja ausdrücklich eine gestärkte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) vorgesehen. Die ist dann auch weiterentwickelt worden. Wir haben in den letzten 27 Jahren verschiedene Stufen erlebt, die alle in die Richtung einer gemeinsamen Militärpolitik gehen. Man will heute sogar eine „Militär-Union“ gründen, wie das Ursula von der Leyen gesagt hat.

Die Außen- und Sicherheitspolitik der EU hat sich in den letzten Jahren eindeutig gegen Russland gewendet, siehe das Agieren der Union im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise. Da muss man sagen: Hier ist neben den USA ein zweites Zentrum entstanden, was Druck in diese Richtung ausübt, aber auch gegenüber anderen Ländern. Wir haben gerade vor kurzem die Debatte innerhalb der EU über das Verhalten gegenüber Venezuela erlebt. Dabei wurde versucht, die Außen- und Sicherheitspolitik der EU in Stellung zu bringen zugunsten der imperialistischen Abenteuer der USA.

Der Titel Ihres neuesten Buches lautet „Europa, was nun? Trump, Brexit, Migration und Eurokrise“. Während Sie noch Fragen stellen, wie das weitergeht, meinen andere schon, die EU sei schon im Untergang befindlich. Wie schätzen Sie das ein?

Das gibt es immer wieder, fast jedes Jahr, neue Bücher und Einschätzungen, dass die EU dicht vor ihrem Zusammenbruch bzw. Scheitern steht. Ich denke, ein solches Projekt wie die EU, begründet mit den Römischen Verträgen 1957 und mit dem Vertrag von Maastricht sowie anderen Verträgen weiterentwickelt, geht nicht einfach von heute auf morgen unter. Aber sie ist gegenwärtig wohl in den größten Schwierigkeiten seit ihrer Entstehung.

Es hat zwar immer wieder Krisen gegeben. Wir hatten etwa die Krise zwischen Deutschland und Frankreich um die Politik des sogenannten leeren Stuhls – Frankreich beteiligte sich eine Zeitlang nicht an weiteren Integrationsschritten. Aber die aktuelle Krise ist von erheblicher Bedeutung, weil sie aus verschiedenen Aspekten besteht. Wir haben ein ganzes Bündel von Krisen. Wir sehen die Brexit-Auseinandersetzung, die noch lange nicht beendet ist. Sie hat dazu geführt, dass der zweitwichtigste Staat der EU ausscheidet. Wir sehen außerdem die Visegrád-Staatengruppe, die zeigt, dass sich auch die osteuropäischen Länder in gewissen Fragen von der EU entfernen. Und wir sehen neue Streitpunkte, mit Italien, aber auch weiter mit Griechenland.

Da kann man daher durchaus sagen, dass die EU gegenwärtig große Mühe hat, als Gesamtverband zu überleben. Ich denke aber, sie wird noch eine Weile existieren, aber sie wird schwächer werden.

Welche der Krisen ist die gefährlichste? Ist es der Brexit, wie es aktuell scheint, oder ist es vielleicht das grundlegende Problem, nämlich die deutsche Dominanz innerhalb der EU?

Ich sehe bei den verschiedenen Krisen etwas Gemeinsames. Es geht stets um die Frage der Souveränität der Staaten. Die können sie nämlich nicht einfach hergeben. Man sieht das jetzt im Fall von Großbritannien: Man kann sie sehr wohl ausüben. Man kann wieder austreten aus der EU, auch wenn das bekanntermaßen sehr schwierig ist. Wir sehen das bei den Visegrád-Staaten. Die haben sich der Umverteilung von Flüchtlingen verweigert, und sie verweigern sich auch dem Druck, ihre inneren Rechtsordnungen so zu verändern wie die EU das will. Da geht es um die Verteidigung ihrer Souveränitätsrechte. Wir sehen das auch im Fall Italiens, das nicht bereit ist, die neoliberale Sparpolitik einfach so umzusetzen.

Da gibt es schon Verbindungen zwischen den einzelnen Krisen, und so würde ich sagen: Das eigentliche Problem der EU ist, dass einige der wichtigen Mitgliedsstaaten wieder stärker von ihren Souveränitätsrechten Gebrauch machen. Das schwächt natürlich eine Europäische Union, die in die Richtung geht, die Souveränitätsrechte der einzelnen Nationalstaaten einzuschränken und in einer politischen Union sogar abzuschaffen. Das wird aber nicht funktionieren. Die Pläne der EU werden nicht aufgehen.

Wie ist die deutsche Dominanz innerhalb der EU einzuschätzen?

Die deutsche Dominanz ist sehr stark. Sie hat sich mit dem Maastricht-Vertrag durchgesetzt. Man kann sagen, dass der Euro ein deutsches Projekt ist, ein Projekt der Industriepolitik, insbesondere der starken deutschen Automobil-Industrie damals. Das war ja einer der Gründe, warum man ihn eingeführt hat. Man wollte Abwertungsrisiken vermeiden. Man sieht heute, dass die sogenannte Rettungs-Politik, der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM), eingeführt werden musste, um Griechenland und andere Krisenländer mit europäischen Geldern zu retten. Der kam aber auf Initiative der Bundesrepublik zustande. Auch der Fiskal-Pakt, mit dem die Schuldenbremse allen Staaten – mit Ausnahme von Tschechien und Großbritannien, die ihn nicht unterzeichnet haben – auferlegt wurde, ist von der Bundesrepublik Deutschland durchgesetzt worden.

Man kann nach 27 Jahren Maastricht sagen, dass die Absicht Frankreichs von damals nicht aufgegangen ist, das damals schon größer gewordene Deutschland in gewisser Weise zu domestizieren, vor allem mit Hilfe des Euros. Die deutsche Dominanz hat sich durchgesetzt, auch in den letzten Jahren durch die Erweiterung der EU nach Osten. Aber daran kann sich jetzt auch wieder etwas ändern. Wir sehen ja, dass die Träume von Macron, mit Deutschland einen Neuanfang zu beginnen, nicht aufgehen. Das könnte bedeuten, dass Frankreich desillusioniert ist. Wir sehen eine gewisse Entfernung von Italien. Wir sehen auch, dass osteuropäische Staaten sich ihre eigenen Gedanken machen und ihre eigenen Pläne verfolgen.

Es gibt Kritik an der EU und ihrer Entwicklung von rechts. Da heißt es: Zurück zum Nationalismus! Es gibt Kritik von links, die sagt: Wir müssen die EU sichern und nur demokratischer und sozialer machen sowie gegen die rechten Angriffe verteidigen! Wie bewerten Sie diese beiden Arten von Kritik?

Ich will mal mit der linken Perspektive anfangen. Das höre ich jetzt schon seit mehr als 20 Jahren, dass die EU sozialer und demokratischer werden muss. Das sind vor allem die Parolen der Sozialdemokraten, aber auch der Grünen. Das werden wir jetzt wieder alles im Europa-Wahlkampf hören. Die Programme sind bereits in diese Richtung geschrieben worden. „Jetzt muss es aber anders werden!“, heißt es dort. Da bin ich sehr skeptisch.

Die EU hat in den letzten Jahren gezeigt, schon vor Maastricht und insbesondere seit dem Vertrag, dass sie ein neoliberales Projekt ist, das sie die sozialen und die Arbeitnehmerrechte nicht würdigt. Sie hat die Tore für die Privatisierung von Dienstleistungen weit geöffnet. Das ist alles unter dem EU-Regiment geschehen. Daran wird sich auch in den nächsten Jahren nichts ändern. Wenn gesagt wird, die Verträge müssten geändert werden, soll mir mal einer zeigen, wie sie denn in Richtung eines linkeren oder eines sozialeren Europas verändert werden können. Das müsste ja von allen künftig 27 Staaten unterschrieben werden. Dafür sehe ich überhaupt keine Chance.

Was die Kritik von rechts angeht: Die reflektieren die gegenwärtige Situation und nutzen die erwähnte Verteidigung der Souveränitätsrechte wie in Italien oder Osteuropa aus. Ihre Stärke ist die Schwäche der Linkskräfte. Wenn die Linken nicht begreifen, dass es um die Verteidigung der Souveränitätsrechte geht und dass man sich dabei als Linke einbringen muss, dann wird den Rechten das Feld überlassen. Das ist das Problem. Ich fürchte, dass die Rechten mit dem Thema der Souveränitätsrechte bei den Europa-Wahlen erfolgreich sein werden – und nicht die Linken.

Am Ende bleibt die Frage: Wie geht es weiter mit der EU? Es gibt deutliche Anzeichen, dass die führenden Kräfte der EU über die „Strategische Autonomie Europas“ nachdenken, wie es unlängst die regierungsfinanzierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer Studie nannte. Wie geht das weiter?

Darüber wird immer wieder spekuliert. Gerade angesichts von Donald Trump gibt es Forderungen, Europa muss selbständiger, muss ein eigener Global Player werden. Da braucht man sich nur die aktuellen Nato-Entscheidungen anzusehen, zum Beispiel vor kurzem zum INF-Vertrag. Hier sieht man, dass sich an der Situation der europäischen Staaten gegenüber den USA gar nichts verändert hat. Man bleibt Vasallen. Vor allem wird der Zwei-Prozent-Forderung der USA zu den nationalen Rüstungshaushalten gefolgt. Man folgt auch weitgehend der Venezuela-Politik der USA. Da kann ich überhaupt nicht sehen, dass die EU oder auch nur einzelne europäische Staaten sich gegenüber den USA selbständig machen. Das sind alles nur Gedankenspiele. Wenn das eine Stiftung sagt oder wenn das einige Politiker sagen, dann ist das das Eine. Aber die Entscheidungen in der Nato, wo die europäischen Staaten alle den USA hinterherlaufen, ist das Andere.

Herzlichen Dank für die Auskünfte!

 

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