Das Erbe des Kolonialismus und der Holocaust

Rezension des Buches von Charlotte Wiedemann „Den Schmerz der anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“, Propyläen, Berlin 2022, 288 Seiten [1]

Was war der Maji-Maji Krieg? Wann fand er statt, und wer kämpfte dabei gegen wen? Dass deutsche Kolonialtruppen einen Völkermord an den Ovaherero und den Namas im einstigen Südwestafrika, dem heutigen Namibia, begingen, dürfte zumindest einigen bekannt sein. Doch dass in jenen Jahren in einer anderen deutschen Kolonie, in Südostafrika, dem heutigen Tansania, ein nicht weniger grausamer Krieg, der Maji-Maji Krieg, noch weit mehr Opfer forderte als jener in Südwestafrika, blieb weitgehend unbekannt. Nach Charlotte Wiedemann wird die „Zahl der einheimischen Opfer dieses Krieges auf nicht weniger als zweihunderttausend geschätzt, die Deutschen verzeichneten kaum mehr als ein Dutzend Tote.“ (149) In dem tansanischen Ort Sangea, wo mehr als 60 Führer des Aufstands hingerichtet wurden, erinnert heute eine bescheidene Gedenkstätte an das Verbrechen. Addiert man alle durch deutsche Gewalt in Südostafrika während der Kolonialzeit zu Tode Gekommenen, so ergibt das die unfassbar hohe Zahl von einer Million! „Eine Million, das entspricht fast der Zahl der in Auschwitz-Birkenau getöteten Menschen. Das kann man doch nicht vergleichen!!, höre ich“, so Wiedemann. Es liegt ihr aber fern, den Holocaust an den europäischen Juden durch einen Vergleich mit den Massakern in Afrika zu relativieren. Vielmehr stellt sie die Frage: „Warum aber fehlt das Erschrecken, warum so wenig Betroffenheit? (…) Vergleicht man die Haltung gegenüber Opfern des Holocaust mit jener gegenüber kolonialen Opfern, zumal afrikanischen, dann ist da ein Empathiegefälle, das ich erklärungsbedürftig finde.“ (160) Nicht allein über die kolonialen Verbrechen Deutschlands, auch über die Großbritanniens, Frankreichs, der Niederlande, Portugals, Italiens, Spaniens, Belgiens und nicht zuletzt der USA wird immer noch weitgehend geschwiegen. In Brüssel steht der belgische König Leopold II, der Schlächter des Kongo, noch immer hoch zu Pferde auf seinem Sockel. In seinem Privatreich Kongo kamen zwischen 1869 und 1908 schätzungsweise nicht weniger als zehn Millionen Menschen bei den „Kongogräueln“ um. Fotos von damals zeigen verstümmelte Menschen, denen schon bei kleinsten Vergehen Hände oder Füße – nicht selten sogar beides – abgehackt wurden.

Nicht viel anders erging es den Menschen in der Kolonie Niederländisch-Indien. 1947 verübten Im javanesischen Dorf Rawagade niederländische Soldaten während des indonesischen Unabhängigkeitskampfes ein Massaker, dem Hunderte Unbewaffneter zum Opfer fielen. Das Verbrechen geschah nur ein Jahr nach den Urteilen im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess gegen die Haupttäter des Nazi-Regimes. Verurteilt worden waren sie wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit! Die beteiligten Soldaten wurden „in den Niederlanden nie zur Rechenschaft gezogen.“ (42) Viele kennen zwar den Namen des französischen Ortes Oradour - Ort des Massakers der Waffen-SS an den wehrlosen Einwohnern eines ganzes Dorfes. Das Massaker in Rawagade nur wenige Jahre später blieb hingegen bis heute so gut wie unbekannt. Vergleicht man Oradour mit Rawagade, so liegt, nach Wiedemann, „der Schluss nahe, dass europäische und außereuropäische Opfer immer noch von unterschiedlichem Gewicht sind.“ (48)

Es ist schon so wie Lenin 1917 in seiner Schrift Krieg und Frieden mit Blick auf die Kriege in den Kolonien sarkastisch fragte: „Sind das denn Kriege? Das sind doch eigentlich gar keine Kriege, das kann man der Vergessenheit anheimfallen lassen.“ Man nannte die kolonialen Kriege „kleine Kriege“, weil „in diesen Kriegen wenig Europäer, dafür aber Hunderttausende aus jenen Völkern umkamen, die sie versklavten, die von ihrem Standpunkt nicht einmal als Völker angesehen werden (irgendwelche Asiaten, Afrikaner – sind das etwa Völker?); mit diesen Völkern wurden Kriege folgender Art geführt: sie waren waffenlos, und man mordete sie mit Maschinengewehren.“ [2]

Die Publizistin und Auslandskorrespondentin Charlotte Wiedemann ist bei den Recherchen für ihr Buch Den Schmerz der anderen begreifen weitgereist. Sie hat dabei viele Orte der Vernichtung aufgesucht: In Kambodscha, in Tansania, im Baltikum und in Polen, dort wo die schlimmsten Verbrechen des Holocaust stattfanden. Sie besuchte Stukenbrock, wo unzählige sowjetische Kriegsgefangene elendig zugrunde gingen. Und sie war in Palästina, wo heute Israelis als Nachkommen der Opfer des Holocaust Palästinenser unterdrücken.

Sie spricht im Buch heikle Themen an: etwa das Verhältnis zwischen dem Holocaust am europäischen Judentum und kolonialen Verbrechen. Sie stellt dabei die Frage, ob der Holocaust wirklich unvergleichlich und damit einmalig ist oder nicht vielmehr eine lange, aus dem rassistischen kolonialistischen Erbe herkommende Vorgeschichte hatte? Bereits die Bezeichnung Holocaust allein für den Mord an den Juden war umstritten: „Warum meint der so zentrale Begriff Holocaust ausschließlich die Vernichtung der Juden? Selbstverständlich ist das nicht; vielmehr handelt es sich um eine Setzung, die im US-amerikanischen Kontext entstanden ist, nämlich in den 1978 begonnenen Debatten über die Einrichtung des Washingtoner Holocaust Memorial. In der Gründungskommission forderte Simon Wiesenthal, bekannt als jüdischer Verfolger untergetauchter Nazi-Täter, das Mahnmal allen Opfern der NS-Rassenideologie zu widmen, die er damals auf elf Millionen bezifferte. Elie Wiesel, Überlebender aus Rumänien, verlangte die Beschränkung auf die jüdischen Opfer, da deren Ausrottung einzigartig sei, und konnte sich als Vorsitzender der Gründungskommission durchsetzen.“ (67) Damit wurden sowohl die gleichfalls systematisch ermordeten Sinti und Roma als auch die von den Nazis zu „Untermenschen“ erklärten Slawen ausgegrenzt. Die einen betrachtete man aufgrund ihrer ursprünglichen Herkunft aus Indien und wegen ihrer fremden Bräuche, Sprachen und Lebensweisen als nicht dem zivilisierten Europa zugehörig. Die anderen, die Slawen vor allem Polens, Serbiens und der Sowjetunion, standen der jahrhundertealten germanischen Ostkolonisation im Wege – deswegen wurden sie als minderwertige Rasse diskriminiert und nun im Faschismus versklavt. Der Sowjetunion hatten bereits in der Weimarer Republik sogar liberale Politiker vorgeworfen, in ihrem Staatsverbund auch asiatischen Völkern die Gleichberechtigung gewährt und damit das Abendland verraten zu haben.

Den engen Zusammenhang von Kolonialismus, Holocaust und Rassenkrieg gegen die Slawen hat auch der italienische Historiker und Philosoph Domenico Losurdo immer wieder hervorgehoben. Nach ihm kann Hitler „mit seinem Vernichtungskrieg gegen die 'Eingeborenen' Osteuropas als der Letzte der conquistadores betrachtet werden“. [3]

Zur Klärung des Verhältnisses von Holocaust und Kolonialverbrechen schlägt Wiedemann drei Punkte vor: „Erstens im Hinblick auf den NS-Krieg gegen die Sowjetunion sind die kolonial-rassistischen Motive heute unstrittig. 'Der russische Raum ist unser Indien', sagte Hitler. Der Generalplan Ost sah die Ermordung und Deportation von dreißig Millionen 'Slawen' vor. (…) Der Terror gegen die nichtjüdische Zivilbevölkerung im Osten ist eine Leerstelle im Gedenken, und sie ist der Indifferenz gegenüber den südlichen Opfern der Kolonialzeit ethisch verwandt.

Zweitens: Der Anspruch, bestimmen zu können, wer auf der Welt leben darf und wer nicht, wurde im Nationalsozialismus zu einem Grad an Konsequenz gesteigert, den man als bis dahin bespiellos ansehen kann. Doch rassistische Hierarchien, die massenhaftes Töten erlaubte, kannte die europäische Expansion seit ihrem Beginn im 15. Jahrhundert.“

„Den dritten Gedanken“, so Wiedemann, „finde ich in einem Zitat des deutsch-jüdischen Essayisten Fabian Wolff am besten aufgehoben: 'Nur wenn die Shoa nicht als hermetisch versiegelter Fakt außerhalb jeder Geschichte verstanden wird, sondern als radikalste Konsequenz einer gewalttätigen Aussonderung und Unterwerfung, als Teil von historischen Prozessen, die nicht 1933 begonnen und nicht 1945 aufgehört haben und in denen es nicht nur um Jüdinnen/Juden und Deutsche geht, kann die Erinnerung an sie Grundlage dafür sein, dass Auschwitz nie wieder sein wird. Egal für wen.“ (110 f.)  

Die Autorin geht davon aus, dass sich diese Sichtweise durchsetzen wird: „Den Holocaust als Ausbruch aus Moderne und Zivilisation zu bezeichnen stammt aus einer Weltsicht, die diese Kategorien arg partikular definiert hat; allmählich werden solche Vokabeln deshalb still zurückgezogen.“ (176)

Kein Verständnis hat Wiedemann hingegen dafür „das Holocaust-Gedenken verantwortlich zu machen für das frühere Übersehen von Kolonialverbrechen. (…) Weil sich lange nur eine Minderheit dafür eingesetzt hat, die NS-Verbrechen vor Vergessen und Verjährung zu bewahren. Und weil es starke Kräfte gab, die beides zurückgewiesen haben, die Verantwortung für den Holocaust wie für den Kolonialismus. Von der alten Rechten in Westdeutschland, die weit in die Christdemokratie hineinreichte, zur neuen Rechten von heute zieht sich diesbezüglich eine Linie“ (166 f.)  Scharf fällt in diesem Zusammenhang ihre Kritik an der sogenannten „Bewältigung“ des Verbrechens der Shoa in Deutschland aus: „Die deutsche Gesellschaft hat von ihrer massenhaften Involvierung in die Judenvernichtung nichts wissen wollen, so war es 1945, und daran hat sich bis heute im Großen und Ganzen nicht viel verändert.“ (262 f.)

Dennoch ist die Autorin optimistisch, dass sich die Verhältnisse grundlegend zu ändern beginnen. Zeichen dafür sieht sie sowohl in der weltweiten Aufmerksamkeit die eine Bewegung wie Black Lives Matter in kürzester Zeit erreicht hat. Auch spektakuläre Akte gegen Symbole des Kolonialismus bestärken sie in dieser Sicht: „Als in Bristol die Statue von Edward Colston ins Hafenbecken gestürzt wurde, hatte ich das intensive Gefühl eines historischen Einschnitts.“ (171) Nach Wiedemann ist „also für die Betrachtung der Geschichte ein neues Zeitalter angebrochen. (…) Wer sich gegen heutigen Rassismus wendet, kann den historischen Rassismus der Kolonialepoche kaum übersehen. Und allenthalben werden nun Forderungen laut nach Anerkennung von Schuld, nach Rückgabe von Geraubtem und Entschädigung für Erlittenes. Das globale Kräfteverhältnis verschiebt sich politisch und moralisch zu Ungunsten der ehemaligen Kolonialmächte, der europäischen Staaten und Gesellschaften. Wer sich unter diesen Umständen weigert, für die Vergangenheit Verantwortung zu übernehmen, spielt gegen die Zeit.“ (156 f.)

Wiedemann setzt ihre Hoffnung ganz darauf, dass diese Veränderung dauerhaft sein wird, da sich die in Deutschland lebenden migrantischen Minderheiten zunehmend lauter bemerkbar machen: „So ist aus der Selbstorganisation von Minderheiten eine neue Erinnerungskultur entstanden, das Gegenstück zur bürgerlichen Sitz- und Besitzkultur: eine Gehkultur, ein Unterwegssein. Sie will keinen Konsens bewahren, sondern ihn verändern, sie greift Wegschauen, Ahnungslosigkeit und Trägheit an.“ (278 f.) An dieser Bewertung sind jedoch Zweifel anzubringen. Zum einen kann das Engagement migrantischer Minderheiten nicht die letztlich entscheidende Umorientierung der deutschen, weißen Mehrheitsgesellschaft ersetzen. Zum anderen lassen sich die Kämpfe dieser Minderheiten nur schwer bündeln und auf ein gemeinsames Ziel ausrichten. Jede von ihnen kämpft gegen die eigene Diskriminierung und für die Anerkennung der Schuld gegenüber ihren Herkunftsländern. Häufig misstrauen sie sich auch untereinander.

Größere Chancen für eine Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses ergeben sich aus der Stärkung der Verhandlungsmacht der Länder des globalen Südens. Auf diese Weise gelang es etwa der Regierung Nigerias zumindest einen Teil der geraubten Benin-Bronzen aus deutschen Museen zurückzubekommen. Die Regierung Namibias konnte nach zähen Verhandlungen mit der deutschen Bundesregierung Deutschland eine Entschädigung für die Nachkommen der nahezu ausgerotteten Ovaherero und Namas durchsetzen. Und auch die tansanische Regierung ist im Namen der Opfer des Maji-Maji-Krieges bereits in Berlin vorstellig geworden. Schließlich wäre das Verbrechen der Niederländer in Rawagade nicht dem Vergessen entrissen worden, hätten nicht die wenigen noch lebenden Frauen, die das Massaker zu Witwen gemacht hatte, in Den Haag mit Unterstützung ihres Landes Klage gegen den niederländischen Staat erhoben. ]

Die „Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten“ (CELAC) hat auf ihrem Treffen mit den Staaten der EU im Juli 2023 die Europäer aufgefordert, Reparationszahlungen für die durch die Sklaverei verursachten Schäden zu leisten. In dem von ihnen vorgelegten Entwurf einer gemeinsamen Erklärung heißt es: „Wir erkennen an, dass geeignete Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Würde der Opfer [des transatlantischen Sklavenhandels mit den Menschen aus Afrika] wiederherzustellen. Dazu gehören auch Reparationen und Entschädigungen, die dazu beitragen, unser kollektives Gedächtnis zu heilen und die Hinterlassenschaften der Unterentwicklung zu beseitigen.“ [4]

Es bedarf staatlich organisierter Macht, um die berechtigten Forderungen der Länder des globalen Südens durchzusetzen. Und diese Macht ist in den letzten Jahren gewachsen, weil das ökonomische Gewicht des Südens größer geworden ist. Sie stimmen sich inzwischen besser untereinander ab – etwa in der Gruppe der BRICS. Nur auf diese Weise kann das von Charlotte Wiedemann geforderte „Weltgedächtnis“ entstehen, in dem an alle rassischen Verbrechen gleichrangig erinnert wird.

Bedauerlich ist, dass die Autorin keinen Blick für die wichtige Rolle sozialistischer bzw. kommunistischer Bewegungen bei der Befreiung der Dritten Welt und der Überwindung des Rassismus hat, war doch der Rote Oktober Russlands 1917 nicht nur ein Aufruf an die Arbeiter des Westens es den Bolschewiki gleichzutun und den Aufstand gegen Krieg und Klassenherrschaft zu wagen. Er war vor allem für die Befreiungskämpfer in der Dritten Welt ein starker Impuls! Nur so wurden die Revolutionen in China, Korea, Vietnam und Kuba möglich. Sie beendeten dort die vom kolonialistischen Westen ausgehenden rassistischen Diskriminierungen. Nahezu unerwähnt bleibt in dem Buch auch die ganz praktische Hilfe wirtschaftlicher, bildungspolitischer und militärischer Art, welche die sozialistischen Länder, und hier vor allem die Sowjetunion, Kuba und China, den jungen Staaten Afrikas und Asiens leisteten. Auch die DDR trug hierzu Bedeutendes bei. Ohne kubanische Waffenhilfe hätte das südafrikanische Apartheitsregime nicht zum Rückzug aus Angola und Namibia gezwungen werden können. Und ohne die Unterstützung der sozialistischen Länder für den African National Congress (ANC) Nelson Mandelas wäre der so wichtige Sieg über die Rassendiskriminierung in Südafrika nicht möglich gewesen.

Doch diese Kritik schmälert nicht die Bedeutung des Buches. Charlotte Wiedemann hat zur richtigen Zeit ein Werk vorgelegt, das die Erinnerung an die kolonialen Verbrechen – und hier vor allem der deutschen – ins Bewusstsein zurückruft und zugleich Argumente liefert gegen das unselige Ausspielen der Opfer des Holocaust gegen die rassische Diskriminierung anderer Völker.

 

[1] Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten in dem Buch.

[2] Lenin, Krieg und Revolution, Lenin-Werke, Band 24 S. 404, Berlin 1959

[3] Domenico Losurdo, Das 20. Jahrhundert begreifen, PapyRossa Verlag, Köln 2013, S. 69

[4] Lateinamerikanische Staaten verpassen EU einen Dämpfer, in Euractiv vom 06.07.2023

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