Bizarres auf Rubikon
Ein Autor fordert auf der Onlineplattform Rubikon, allen Ernstes alten Menschen mit Vorerkrankungen im Fall der Erkrankung mit dem Corona-Virus die ärztliche Versorgung zu verweigern
von Andreas Wehr, 23. März 2020
Verabschiedet man sich in diesen Tagen am Telefon oder am Ende einer Mail, so heißt es oft: Pass gut auf Dich auf! Für mich hat dies einen besonderen Klang, muss ich doch jetzt besonders gut auf mich aufpassen. Der Grund: Ich habe eine fast 90-jährige Mutter, die alleine lebt und für die ich - zusammen mit meiner Schwester - sorge. Das bedeutet regelmäßiges Einkaufen, Begleitung zum Arzt und Besuche mehrmals in der Woche. Diese Besuche sind aber alles andere als Pflichttermine, denn trotz ihres hohen Alters ist meine Mutter geistig weiterhin voll präsent und verfolgt so das tägliche Geschehen mit großer Aufmerksamkeit - keine Spur von Demenz. Meine Mutter lebt leider sehr isoliert und sie kann aufgrund einer Gehbehinderung das Haus nicht mehr alleine verlassen. Die langjährigen Freunde sind nicht mehr da oder für Besuche zu krank. Eigentlich ideale Voraussetzungen für die jetzt verlangte Selbstisolation, wären da nicht ihre Kinder, die das todbringende Virus zu ihr bringen könnten.
Ich habe vor allem deshalb meine Sozialkontakte sehr stark eingeschränkt, verlasse das Haus nur noch zu sorgsam geplanten Einkäufen und benutze keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr. Außer Haus trage ich Gummihandschuhe und einen Wollschal vor dem Gesicht. Und doch ist da immer die Sorge, etwas nicht beachtet oder übersehen zu haben, jemandem zu nahe gekommen zu sein, den Einkaufswagen doch einmal ohne Handschuhe angefasst zu haben, und, und, und. Das Virus, das ich auf diese Weise an meine Mutter weitergeben könnte, wäre für sie eine akute Lebensbedrohung, wenn nicht gar ihr sicherer Tod.
So dürfte es gegenwärtig vielen Angehörigen alter Menschen gehen. Sie alle sorgen sich um ihre Liebsten, wollen sie sie doch nicht vorzeitig verlieren. Man sollte erwarten, dass es dafür gerade unter Linken Verständnis und Empathie gibt, schließlich sollte es doch deren wichtigstes Anliegen sein, den Menschen und hier zuallererst dessen Gesundheit, sein Leben in den Mittelpunkt zu stellen und ihn gegen eine kapitalistische "Wirtschaft, die tötet", wie es Papst Franziskus einmal so klar ausdrückte, zu verteidigen.
Das wird aber leider auch ganz anders gesehen: Am 21. März 2020 veröffentlichte die Online Plattform Rubikon einen Artikel von Sven Böttchers mit der Überschrift "Die Pseudo-Krise", in dem dieser die die Behandlung alter, durch das Corona-Virus erkrankter Menschen ausdrücklich ablehnt. Wörtlich heißt es darin: "Deshalb möchte ich morgen von allen offiziellen Stellen weltweit hören: Über 80-jährige mit drei Vorerkrankungen und frischer Lungenentzündung behandeln wir nicht auf Intensivstationen, die schicken wir zum Sterben nach Hause, denn sterben müssen ja alle. Jüngeren ist es auch wieder gestattet, Sterbenden die Hand zu halten. Und sich zu Trauerfeiern zu versammeln. Auf eigene Gefahr. Alte und gebrechliche Teilnehmer an Trauerfeiern sind auf diese bestehende Gefahr ausdrücklich hinzuweisen. Unsere Intensivstationen und unser medizinisches Personal stehen selbstverständlich jüngeren Corona-Lungenentzündungspatienten weiter offen. Die Mortalitätsrate bei U-80, nicht vorerkrankten Corona-infizierten Patienten liegt derzeit bei etwa 0 Prozent.“
Nach Böttcher wäre das damit verbundene Massensterben kein Problem, lediglich "eine logistische Krise". Aus Gründen der "Ressourcen- und Klimaproblematik" hätte es sogar Vorteile: "Stürben an oder mit Corona tatsächlich, wie von irgendwelchen Virologen (!) (nicht Epidemiologen) laut und panisch CFR-getönt wird, 4 Prozent der über 85-jährigen Infizierten und infizierte sich obendrein die gesamte Menschheit, hätten wir am Ende der Krise etwa 300 Millionen sehr alte Menschen ein paar Tage, Wochen oder Jahre zu früh verloren. Das wäre eine logistische Krise, in der Tat, weil wir nicht vorbereitet sind auf den Tod von 300 Millionen statt sonst 55 Millionen binnen eines Jahres. Auch dieses Armageddon-Worst-Case-Szenario stellte aber keine existenzielle Menschheitsbedrohung dar. Wir wären auch danach noch 7,5 Milliarden, unser Fortbestand wäre nicht im Geringsten gefährdet. (Im Gegenteil. Ressourcen- und Klimaproblematik sollten trotz der derzeitigen Panik noch nicht vollständig in Vergessenheit geraten sein)."
Mehr als der drohende Tod von hunderten von Millionen Menschen treibt Böttcher das persönliche Glück und das von seinesgleichen um: "Aber noch wesentlich beunruhigender ist, dass wir jetzt alles schrotten, was wir über Jahrhunderte so schwer erkämpft haben, was uns lieb und teuer und lebenswichtig ist: Freiheit, Grundrechte, die Zukunft unserer Kinder. Und alles wegen einer Lungenentzündung, an der nur uralte Leute sterben?"
Meiner 89-jährigen Mutter, sollte man also - ginge es nach Böttcher - im Falle einer Infektion die Versorgung verweigern. Schließlich ist sie ja alt, sehr alt sogar und aufgrund eines erlittenen Herzinfarkts liegt bei ihr eine Vorerkrankung vor. Nach seiner Logik also ein hoffnungsloser Fall. Alte Menschen haben übrigens fast immer Vorerkrankungen, wenn nicht sogar mehrere. Diabetes ist bekanntlich eine Volkskrankheit von der in Deutschland Millionen alter Leute betroffen sind. Aber auch viele jüngere Menschen haben ein Gesundheitshandikap, etwa ein geschwächtes Immunsystem aufgrund einer Krebsbehandlung. Jene, die jetzt behaupten, es sei ja alles gar nicht so schlimm, schließlich seien doch die meisten Opfer der Corona-Krise solche mit Vorerkrankungen, kennen das Leben nicht.
Das schreckliche Dilemma - dem gegenwärtig immer häufiger Klinikpersonal in Italien oder in Spanien ausgesetzt ist und das wahrscheinlich auch bald bei uns Realität sein wird - aufgrund fehlender Ressourcen die Patienten mit Hilfe des Triage-Systems, ein Verfahren, das bei objektiv unzureichenden medizinischen Ressourcen eine Behandlungspriorität bestimmt, nach Überlebenschancen selektieren zu müssen, ist für den Autor kein Problem. Darüber brauche man sich keine weiteren Gedanken machen, schließlich müssen wir alle irgendwann sterben.
Angegriffen wird in dem Artikel nicht der Skandal, dass aufgrund der neoliberalen Kürzungspolitik im Gesundheitswesen in den Staaten der EU heute, in Zeiten der Pandemie, nicht mehr allen Menschen gleichermaßen geholfen werden kann, nicht genügend Betten auf Intensivstationen und Beatmungsapparate zur Verfügung stehen. Diese Folgen neoliberaler Politik werden sogar gerechtfertigt und legitimiert, indem Böttcher einer großen Gruppe von Kranken der Anspruch auf eine angemessene Versorgung verweigert. Den neoliberalen Kürzungspolitikern wird eine solche Argumentation gefallen!
Der Rubikon-Artikel "Die Pseudo-Krise" ist bizarr. Mehr noch: Er ist ein Skandal. Gefordert wird darin nichts anderes als die Aufgabe der Solidarität aller Menschen gegenüber dem Tod - die vielleicht wichtigste Errungenschaft der Menschheit. Aufgegeben werden soll diese Solidarität zugunsten des Schutzes von "Freiheit" und "Grundrechten". Diese Werte sollen jedoch wohlgemerkt nicht für alle gelten - nicht für die Alten! Für sie soll das Recht auf ärztliche Versorgung und damit das Recht auf Leben außer Kraft gesetzt werden. Die Forderungen Böttchers laufen auf die Selektion zwischen lebenswertem und lebensunwerten Leben als gerechtfertigte, ja anzustrebende Praxis hinaus. Verlangt wird nichts anderes als ein Zivilisationsbruch. Die Haltung von Böttcher ist zynisch und verachtenswert!
Es macht mich betroffen, dass dieser Artikel ausgerechnet auf einer Onlineplattform veröffentlicht wurde, auf der nicht weniger als 18 Artikel von mir stehen. Meine Zusammenarbeit mit diesem Organ werde ich nun beenden. Der Rubikon ist überschritten! Und ich würde es begrüßen, würden auch andere von mir geschätzte Autoren ihre Zusammenarbeit mit Rubikon überdenken. Wird die Corona-Pandemie auch noch furchtbar viel Leid und Elend bringen, einen kleinen Vorteil hat sie zumindest jetzt schon: Man weiß, wo wer wirklich steht.
Der Herausgeber von Rubikon, Jens Wernicke, schreibt in dem Aufmacher des Newsletters vom 21. März 2020, in dem der Artikel von Sven Böttcher enthalten ist, unter der Überschrift "Wir machen Journalismus": "Und wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, nach Lektüre dieser journalistischen Qualitätskriterien (sic!) nun feststellen, dass Rubikon eine von sehr wenigen Stimmen der Vernunft in einem Meer der Unvernunft ist, und Sie es honorieren möchten, dass wir von Tag 1 dieser Krise an keine Fake News verbreitet, sondern klar und unbestechlich gegen den sich abzeichnenden neuen Totalitarismus angeschrieben haben, dann unterstützen Sie uns und unsere Arbeit bitte mit einer Spende, damit unsere Stimme auch in Zukunft unüberhörbar bleibt." Da gibt es aber mit Sicherheit sehr viel Sinnvolleres, was Unterstützung verdient!
P.S.: Der Artikel "Die Pseudo-Krise" von Sven Böttcher findet sich als Podcast auch auf der Seite KenFM von Ken Jebsen.
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