Die Europäische Union in Abwicklung

Der EU wurde in den vergangenen Jahren immer mal wieder die Totenglocke geläutet. Nach dem Scheitern einer Europäischen Verfassung 2005 bei Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden glaubten viele, dass es das nun gewesen war. Mit einem Trick wurde unter deutscher Führung der Verfassungstext aber dann doch noch als Lissabonner Vertrag durchgesetzt. Viele durchschauten das Spiel und verloren ihr Vertrauen in die nach eigener Selbstdarstellung „immer engere Union“.  Es folgte 2008 die Finanzkrise mit einem Stresstest für die Eurozone. Deren   Zerbrechen konnte gerade noch einmal abgewendet werden. Der Preis dafür war allerdings hoch. Die Bevölkerung Griechenlands verarmte, und die Volkswirtschaften Spaniens und Portugals verloren endgültig den Anschluss an Mitteleuropa. Immer mehr junge und gut ausgebildete Menschen ziehen seitdem gen Norden. Die alte Gastarbeitermigration ist zurück. Es folgte 2016 der Schock des Brexits. Mit Großbritannien verließ das zweitwichtigste Land die Union und ließ eine ratlose EU zurück.      

Trotz all dieser Rückschläge ging es weiter, wurde unverdrossen auf Optimismus gemacht, und es wurden neue Pläne geschmiedet. Man beschwor die Notwendigkeit, endlich aus der Wirtschafts- und Währungsunion eine Politische Union zu formen. Es erschienen Bücher, in denen der „Europäische Traum“ ausgemalt wurde. [1]      

Zu den optimistischen, vorwärtstreibenden Stimmen gehörte in Deutschland stets die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Das scheint nun vorbei zu sein. In einem Leitkommentar dieser Zeitung zog der einflussreiche Journalist Nikolas Busse am 30. Oktober 2025 eine ernüchternde Bilanz. Die Überschrift fasste die dann folgende Beschreibung in zwei Worten zusammen: „Europas Abstieg“. Nach Busse sind die außenpolitischen Ambitionen der EU restlos gescheitert: „Die vergangenen Jahre waren eine einzige unerbittliche Lehrstunde für Europa. Ein Kontinent, der dachte, Verteidigung spiele keine Rolle mehr, wurde von Putin eines Besseren belehrt. Ein Kontinent, der Klimaschutz über alles stellte, fand wenig Partner mit ähnlichem Ehrgeiz. Ein Kontinent, der für den Freihandel eintrat, wurde mit Trumps Zöllen konfrontiert. Ein Kontinent, der an die Globalisierung glaubte, wurde Opfer von zusammenbrechenden Lieferketten. Ein Kontinent, der eine weltpolitische Rolle beanspruchte, war ohne die Vereinigten Staaten in der Ukraine kaum handlungsfähig; im Nahen Osten wurde er erst gar nicht gefragt. Ein Kontinent, der das Völkerrecht zum Ordnungsprinzip erklärte, musste dem Niedergang der Vereinten Nationen zusehen. Die Liste ließe sich fortsetzen, aber sie ist so schon erschreckend genug. Im Grunde sind die wichtigsten Eckpfeiler, die Europas Außenpolitik und Weltsicht stützen, innerhalb von kurzer Zeit unterspült worden, teils sogar ganz weggebrochen.“

In Busses Aufzählung fehlt das Scheitern des Stabilitäts- und Wachstumspaktes mit seinen ehrgeizigen Defizitzielen. Kaum ein Land orientiert sich noch an ihm. Selbst Deutschland, der bisherige Musterknabe der Währungsunion, legt nun Programme mit „Sondervermögen“ in Höhe von Hunderten von Milliarden Euro auf, mit denen aber die wachsende Staatsverschuldung lediglich kaschiert wird. Busse schweigt auch über das Scheitern einer gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik. Immer mehr EU-Länder handeln hier auf eigene Faust. Grenzkontrollen sind längst nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Und kürzlich bekundete der deutsche Innenminister die Absicht, künftig Asylbegehren außerhalb der EU prüfen zu lassen, auf Brüsseler Vorbehalte will er dabei keine Rücksicht mehr nehmen. So ist die EU heute weiter denn je vom angestrebten „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ entfernt.      

Busses Resümee beschreibt die Desintegration der EU: „Früher dachte man, dass die Europäer stärker werden, wenn sie gemeinsam auftreten. Jetzt ziehen sie einander nach unten: Länder wie Frankreich durch Schulden, die einstige Wachstumslokomotive Deutschland durch wirtschaftliche Schwäche, viele Mitgliedstaaten durch gesellschaftliche Konflikte und alle zusammen durch Rückstände in der Verteidigung, die nicht in kurzer Zeit wettzumachen sind.  (…) Europa wird weltweit nicht ernst genommen, weil man es nicht ernst nehmen muss.“ Zur Beschreibung der Zerrissenheit gehört, dass Polen einen Ukrainer laufen lässt, für den ein europäischer Haftbefehl vorliegt, da er des Attentats auf eine der wichtigsten Infrastrukturen Deutschlands, der Nord Stream 2-Pipeline, dringend verdächtig ist. Und da gibt es die brisante Aussage von Ex-Kanzlerin Merkel, dass Polen sowie die baltischen Länder 2021 die Verhandlungen Deutschlands und Frankreichs im Minsker Format über einen Ausgleich zwischen Russland und der Ukraine unterminiert haben, und so zur Eskalation des Konflikts entscheidend beitrugen.

Für Nikolas Busse, und damit spricht er wohl im Namen der gesamten Redaktion der Zeitung, liegt „die Lösung nicht darin, die EU zu stärken, wie das reflexhaft besonders von denen gefordert wird, die für diese Entwicklung die Verantwortung tragen. (…) Die EU braucht in erster Linie starke Mitgliedstaaten, wirtschaftlich wie militärisch (…). Es braucht ein realistisches Verständnis von der Welt, in der wir leben. Trump, Xi Jinping oder Putin sind keine Ausrutscher der Geschichte. Sie stehen für das, womit es Europa zunehmend zu tun bekommt: Länder, die ihre nationalen Interessen rücksichtslos verfolgen.“

Da solch ein Leitartikel mit Sicherheit nicht zufällig in der wichtigsten konservativen Zeitung Deutschlands erschien, muss er wohl als publizistische Vorbereitung eines Richtungswechsels in Politik und Wirtschaft verstanden werden: Man setzt nicht länger mehr auf die Schimäre einer europäischen Einheit. Die Perspektive heißt Wiedererlangung nationaler Stärke.

Es mag ein Zufall sein, dass die Bundesregierung ausgerechnet am 30. Oktober 2025, dem Tag des Erscheinens des Artikels, ihre „Hightechagenda“ vorstellte: „Fördermittel im Umfang von 18 Milliarden Euro sollen im Lauf der Legislaturperiode in Projekte aus den Bereichen Künstliche Intelligenz, Quantentechnologie, Mikroelektronik, Biotechnologie, Kernfusion und klimafreundliche Mobilität fließen, um Deutschlands Position in der Weltwirtschaft zu stärken. Die 49 Seiten lange Strategie ist gewissermaßen das Pendant zum chinesischen Fünfjahresplan“, so die FAZ im Wirtschaftsteil am 31. Oktober 2025. Und auf der Website des Bundesministeriums für Digitales und Staatsmodernisierung heißt es über die „Hightechagenda“: „Durchbruch für Deutschland“ – von der Europäischen Union ist keine Rede.        


[1] So veröffentliche der frühere SPD-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Martin Schulz 2013 das Buch „Der gefesselte Riese. Europas letzte Chance“. Darin forderte er „eine echte europäische Regierung, die parlamentarisch gewählt und kontrolliert wird“ und somit einen europäischen Staat, der auf Kosten der Nationalstaaten errichtet werden sollte. Vgl. dazu Andreas Wehr, „Der europäische Traum und die Wirklichkeit. Über Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit, Beck und die anderen“, Köln 2013    

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