Zeitbedingte Fehlinterpretation

Leserbrief zu dem Artikel von Martin Hundt, Stoßkraft der Revolution in der jungen Welt vom 29./30.08.2015

Am Ende seines sehr lesenswerten und informativen Artikels kommt Hundt auf ein „Missverstehen oder Ignorieren entscheidender historisch-gesellschaftlicher Lehren der Geschichte“ zu sprechen. Und zwar soll beim Manifest der Kommunistischen Partei ausgerechnet „seine Grundidee falsch verstanden“ worden sein. Es gehe um den berühmten Satz (…) „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (MEW, Bd. 39, S. 194). Stephan Hermlin hatte diesem Satz eine neue Deutung gegeben. In seinem Buch „Abendlicht“ schrieb er 1979: „Längst glaubte ich, es (das Manifest) genau zu kennen, als ich, es war etwa in meinem fünfzigsten Lebensjahr, eine unheimliche Entdeckung machte. Unter den Sätzen, die für mich seit langem selbstverständlich geworden waren, befand sich einer, der folgendermaßen lautete: (es folgt hier jener Satz aus dem Manifest, A.W.). Ich weiß nicht, wann ich begonnen hatte, den Satz so zu lesen, wie er hier steht. Ich las ihn so, er lautete für mich so, weil er meinem damaligen Weltverständnis auf diese Weise entsprach.“  Für Hermlin wie für Hundt war dieser Satz immer falsch gelesen worden: „Wir Bürger der DDR aber lernten und verstanden jahrzehntelang genau umgekehrt, gerade nur die Assoziation sei die Bedingung für freie persönliche Entwicklung.“     

Die „Entdeckung“ Hermlins entsprach ganz offensichtlich einem Überdruss an zu viel Kollektivismus in der DDR und in anderen sozialistischen Ländern. Nach 1989 wurde mit ihr in der PDS der Marxismus von den Füßen auf den Kopf gestellt. Dieter Klein: „Lasst euch nicht von dem Begriff libertär schockieren, das ist Marx. Der sprach von der freien Entwicklung des Einzelnen.“ (ND 09.05.2001) Das gesamte PDS-Programm von 2003, geschrieben von Dieter Klein und den Brüdern André und Michael Brie, kreiste um diese Deutung. Doch diese Lesart ist eine zeitbedingte Fehlinterpretation, erklärbar nur aus der Kritik der DDR nach ihrem Untergang. Martin Hundt lässt bei seinem Zitat des Satzes aus dem Kommunistischen Manifests bezeichnender Weise den ersten Teil weg. Vollständig lautet er aber: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Hätte er hier vollständig zitiert, wäre für jeden klar geworden, dass es Marx und Engels um die Abschaffung der „Klassen und Klassengegensätzen“ ging und sich niemand frei entwickeln kann, kann es nicht jeder (salopp gesprochen: auch der letzte), vorher kann es die angestrebte Assoziation der Freien nicht geben. Es gilt also weiterhin: „Keiner oder Alle“ (Hanns Eisler).

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