„Wenn die Musik aufhört…“

Lucas Zeise, Ende der Party, Die Explosion im Finanzsektor und die Krise der Weltwirtschaft, Verlag PapyRossa, Köln 2008 (hier zitiert mit LZ) und Sahra Wagenknecht, Wahnsinn mit Methode, Finanzcrash und Weltwirtschaft, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2008 (hier zitiert mit SW)

Die aktuelle Entwicklung bestätigt einmal mehr die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus und zugleich seine historische Überkommenheit. Dies enthebt uns aber nicht der Aufgabe, genau zu untersuchen, was diese Krise ausgelöst hat und wer wann welche Entscheidungen traf, die zu diesem fatalen Absturz führten. Erst wenn genügend Klarheit darüber besteht, können auch Erfolg versprechende Auswege diskutiert werden. Mit Sahra Wagenknecht und Lucas Zeise haben fast zeitgleich zwei Autoren Bücher mit Analysen aus marxistischer Sicht über diesen Crash vorgelegt. Lucas Zeise ist Autor der Financial Times Deutschland, aber auch der jungen Welt. Sahra Wagenknecht ist als Europaabgeordnete der Partei DIE LINKE Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europäischen Parlaments und dort mit der neoliberalen Politik der EU direkt konfrontiert.

Beide Bücher vermitteln zunächst einmal Grundlegendes über die Erscheinungen der Krise. Man erfährt, warum immer mehr US-Amerikaner in der größten Hypothekenkrise des Landes ihre Häuser aufgeben mussten, wie sich die Finanzbranche als regelrechte „Verpackungsindustrie" bei der Weiterreichung fauler Kredite betätigte und wie nicht zuletzt deutsche Banken gierig nach diesen toxischen Papieren griffen. Man lernt, was Carry Trader und Conduit sind und was sich hinter einem Wortungetüm wie Collateralised Debt Obligation verbürgt. Sahra Wagenknecht kommt in ihrem Buch dabei mit einem Glossar zur Hilfe.

Aber es gibt auch gewichtige Unterschiede zwischen den beiden Werken. Verschieden sind etwa die gewählten Zugänge zur Analyse der Krise. Sahra Wagenknecht entwickelt ihre Argumentation strikt entlang den Bewegungen des Finanzkapitals. Im Mittelpunkt stehen die unterschiedlichen Formen der Spekulation, wobei sie mehrfach auf die schneeballartige Ponzi-Spekulation Bezug nimmt, bei denen Zins und Tilgung des eines Kredits immer wieder durch den nächst größeren finanziert werden müssen und am Ende ein Platzen der Blase unvermeidbar ist. Detailliert wird dargestellt, wie sich die gegenwärtige Finanzspekulation, immerhin die verheerendste seit der Großen Depression 1929, entwickeln konnte. In einer „Kleinen Historie des Spekulationswahns" geht die Autorin auf geschichtliche Parallelen zum gegenwärtigen Finanzcrash ein. Mit den sich in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelnden Euro-Dollar-Märkten wird die Keimzelle des heutigen globalisierten Finanzmarktes vorgestellt. Diese Kapitel gehören zu den besten des Buches. Auf die immer wieder gestellte Frage, ob mit dem Platzen der Spekulationsblase nun echtes oder lediglich fiktives Geld verbrannt wird, antwortet Wagenknecht mir einem Ja und Nein. Zwar sei das völlig unangemessene Wachstum der Finanzmärkte auch Ergebnis einer enormen Umverteilung des Vermögens von unten nach oben und damit zu jenen, die spekulieren. Andererseits, und dies ist eine ihrer Kernaussagen, war ein „derart explosives Wachstum des Finanzsektors und der Finanzvermögen nur möglich, weil die heutigen Finanzmärkte die Eigenschaft besitzen, aus eigener Kraft und in nahezu unbegrenztem Umfang Einkommen, Gewinne und Vermögen zu erzeugen, denen keinerlei Käufe und Verkäufe realer Güter zugrunde liegen, sondern genau besehen, reine Luftbuchungen" (SW, S. 129).

Wenngleich Wagenknecht die politischen Entscheidungen zur Deregulierung des Finanzmarktes und zum Anheizen des Spekulationswahns durchaus erwähnt, steht die Politik nicht im Zentrum ihrer Darstellung. Ein Grund dafür dürfte die von ihr konstatierte Machtlosigkeit der politischen Instanzen sein. So kommt sie mit Blick auf die Zentralbanker zum Urteil, dass „sie inzwischen viel machtloser (sind) als der Mythos, der sie umgibt, wahrhaben will." Wobei sie aber schon davon ausgeht, dass diese für ihre Machtlosigkeit „im Verbund mit der herrschenden Politik" selbst verantwortlich sind. (SW, S. 102)

Anders dagegen Lucas Zeise. Er sieht in den Zentralbanken weiterhin wichtige Akteure: „Den Notenbanken und in besonderem Maße der US-Notenbank Fed fällt bei dieser Krise sowohl die Rolle des Schurken als auch die des potenziellen Retters zu." (LZ, S. 95) Ausführlich behandelt er die halbherzigen und daher wirkungslosen Versuche zur Regulierung der Finanzmärkte, etwa das Abkommen Basel II, in dem neue Eigenkapitalrichtlinien für die Banken festgelegt wurden. Sein Urteil über dieses Abkommen ist eindeutig: „Noch nie wurden so viel Mühe, Gehirnschmalz und Regulierungswille in ein Projekt mit so dürftigem Resultat gesteckt." (LZ, S. 178) Für Zeise liegen die Gründe für den Crash nicht in einer allgemeinen Krise des Weltkapitalismus, sondern in der konkreten Politik und Wirtschaft der Vereinigten Staaten: „Die USA stehen im Zentrum dieser Krise. Anlass und Ursachen sind im Wesentlichen in der immer noch bei weitem größten Volkswirtschaft der Erde zu suchen." (LZ, S. 75) Anders dagegen Wagenknecht: „Der Zustand, in dem sich die US-Wirtschaft heute befindet und der nicht zu unrecht als Ausgangspunkt der gegenwärtigen Finanzkrise angesehen wird, ist daher keineswegs ein spezifisch amerikanisches Problem." Der Zustand der US-Wirtschaft ist nach ihrer Auffassung vielmehr „letzte Konsequenz eines Entwicklungspfads, auf dem sich längst auch die meisten europäischen Länder befinden und den spätestens seit Ende der 90er Jahre auch Deutschland eingeschlagen hat." (SW, S. 198)

In den beiden Büchern zeigen sich demnach Differenzen in der Analyse der Krise mit Konsequenzen für die einzuschlagende Strategie. In einem mit „Ausblick" überschriebenen Schlusskapitel erörtert Wagenknecht verschiedene Szenarien der zukünftigen Entwicklung. Die Weltwirtschaft wird von ihr dabei als einheitliches Ganzes angesehen. Eines dieser Szenarien handelt von einem progressiven Ausweg. Es wird darin eine Wirtschaftsordnung skizziert, „in der nicht die Maximierung der Kapitalrendite, sondern demokratisch gesetzte Maßstäbe über Investitionen, Arbeitsplätze, Forschung und Wachstum entscheiden (...) als reale Alternative zum Finanzkapitalismus unserer Zeit". (SW, S. 245) Lucas Zeise sieht hingegen durchaus Lösungsmöglichkeiten auch innerhalb des bestehenden Systems: „Es ist nicht einmal so, dass das ganze kapitalistische System verändert oder umgestürzt werden muss, um Finanzkrisen zu verhindern. Nichts davon. Die entscheidenden Institutionen gibt es schon, die Banken und Finanzmarktakteure bändigen könnten." (LZ, S. 181) Einig aber sind sich beide Autoren in der Forderung nach der Verstaatlichung der Banken. „Die Verstaatlichung der Banken ist jedoch eine klare und aus der Logik, wie Banken funktionieren, eine folgerichtige Entwicklung." (LZ, S. 171) Benannt sind hier zwei wichtige, offene Fragen im Zusammenhang mit der Analyse und der Suche nach einem Ausweg aus der Krise. Es geht zum einen um die Bedeutung der Besonderheit des US-amerikanischen bzw. angloamerikanischen finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, von dem die Krise ausgeht. Und es geht um die Frage, inwieweit es eine demokratische und soziale Lösung noch innerhalb der Systemschranken geben kann.

Leider nehmen beide Werke so gut wie keinen Bezug auf frühere marxistische Debatten über Finanzmarkt und Krise. So finden weder das grundlegende Werk Das Finanzkapital Rudolf Hilferdings, noch die darauf aufbauenden Arbeiten Lenins Erwähnung. Auch von der jetzt wieder aktuell werdenden Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus wird kein Gebrauch gemacht. Zitate von Marx werden wohl von Sahra Wagenknecht präsentiert, sie dienen aber, ohne Fundstellenangaben, lediglich als Motto vor den einzelnen Buchkapiteln, ohne Bezug zu den folgenden Texten. Beide Autoren beziehen ihre Antworten auch nicht auf aktuelle marxistische Arbeiten zu Neoliberalismus und Finanzmarkt, etwa auf die von Jörg Huffschmid, Elmar Altvater, Joachim Bischoff, Winfried Wolf oder auf jene des Münchener Instituts für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung (isw).

Erwähnenswert ist, dass die Bücher von Sahra Wagenknecht und Lucas Zeise in einer Sammelrezension der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 29.12.2008 durchaus anerkennend besprochen wurden. Dass Sahra Wagenknecht zur Krise etwas zu sagen hat, überraschte ganz offensichtlich den FAZ-Rezensenten. Der ihr gewidmete Abschnitt beginnt denn auch mit den Worten: „Unerwartetes bietet Sahra Wagenknecht." Ausdrücklich hervorgehoben wird, dass sie kein „kein politisches, sondern ein ökonomisches Buch geschrieben (hat), Wagenknecht erklärt im Detail Strategien von Hedge-Fonds oder die Bedeutung der früheren Euromärkte in London für die deutsche Geldpolitik, und selbstverständlich kennt sie sich auch in der Geschichte der großen Finanzkrisen aus. Ihr Fachwissen ist durchaus beeindruckend (...)". Diesem Urteil und auch dem offensichtlich zustimmenden Zitat der FAZ aus dem Buch von Lucas Zeise, „dass (die Finanzkrise) eine neoliberale, vom Finanzmarkt dominierte Phase der Globalisierung beendet", kann man nur zustimmen. Ganz offensichtlich hört auch für die Ideologen des Neoliberalismus die Musik allmählich auf zu spielen. Ganz nach den Worten von Chuck Prince, der als Chef der Citygroup in einem Interview am 10. Juli 2008, das beide Autoren in ihren Büchern zitieren, sagte: „Wenn die Musik - im Sinne von Liquidität - aufhört, wird die Lage kompliziert. Aber so lange die Musik noch spielt, muss man aufstehen und tanzen. Wir tanzen noch." Inzwischen ist Chuck Prince nicht mehr Präsident dieser Bank und die Citygroup nicht mehr das, was sie einstmals war. Wie es dazu kam und was noch zu erwarten ist, kann man bei Sahra Wagenknecht und Lucas Zeise nachlesen.

 

 

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