Vorgetäuschte Wende
Der Präsident des Europaparlaments Martin Schulz will eine Umkehr der neoliberalen Politik durch die EU. Seine Vorschläge dienen aber nur zu deren Fortsetzung
Der
Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, will Chef der
EU-Kommission werden. Für die 2014 anstehenden Wahlen soll er, wie im Mai
dieses Jahres bei der 150-Jahr-Feier der SPD bekanntgegeben wurde, für die
Sozialdemokraten als Spitzenkandidat antreten. Welche politischen Ideen von ihm
verfolgt werden, beschreibt Andreas Wehr in seinem in diesen Tagen im PapyRossa
Verlag erscheinenden Buch »Der europäische Traum und die Wirklichkeit. Über
Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit, Beck und die anderen«. jW veröffentlicht an
dieser Stelle eine gekürzte Fassung des Kapitels über Schulz.
Gegen die neoliberale Ausrichtung der
Politik findet Schulz klare Worte: »Die folgenreichste Deregulierung hat vor 30
Jahren im Sektor der Finanzmärkte und Banken stattgefunden. Die Entscheidungen, die damals getroffen wurden, gehören zu den
wesentlichen Ursachen für den Ausbruch der Krise. Vor allem US-Präsident Ronald
Reagan und die Regierung Thatcher deregulierten kräftig und erfüllten damit die
Wünsche der Finanzindustrie« (230).1 Wenig später heißt es: »Das mehrheitlich
konservativ-neoliberal regierte Europa hat in den Jahren 2008 bis 2012 fast
ausschließlich auf die Senkung der Staatsquoten, die Deregulierung des
Arbeitsmarktes, den raschen Schuldenabbau und weitere auf Austerität zielende
Maßnahmen gesetzt – und erhielt dafür aus der Wissenschaft lebhaften Beifall«
(237). So richtig diese Feststellungen auch sind, so unvollständig sind sie
zugleich, wird doch unterschlagen, daß auch die europäische Sozialdemokratie
dieser Linie folgte und weiter folgt. Über die unter SPD-Bundeskanzler Gerhard
Schröder durchgesetzten Deregulierungen sagt etwa der Wirtschaftswissenschaftler
Rudolf Hickel: »Die wichtigsten Maßnahmen zur Entfesselung der Finanzmärkte
sind jedoch auf die rot-grüne Bundesregierung zurückzuführen. Neben vielen
anderen Maßnahmen gehörte dazu die seit Anfang 2003 geltende Erleichterung,
Kredite durch die Banken zu verbriefen. Von strategischer Bedeutung war zudem
das seit Anfang 2004 geltende Investitionsmodernisierungsgesetz: Es bildete die
Grundlage für die Einführung von Hedgefonds und ermöglicht damit deutschen
Anlegern den direkten Zugang zu diesem ›innovativen Produkt‹.«2
Neoliberaler Mainstream
Schulz
läßt aber nicht nur die Verantwortung der europäischen Sozialdemokraten – und
hier insbesondere die seiner eigenen Partei, der SPD – für die Durchsetzung der
neoliberalen Agenda unter den Tisch fallen. Auch die Bedeutung der Europäischen
Kommission als beständigem Antreiber für mehr Deregulierung und Privatisierung
wird von ihm relativiert und damit verharmlost. Er spricht unbestimmt nur von
»etlichen (…) EU-Kommissaren«, die »dem neoliberalen Mainstream mit aller Macht
zum Durchbruch verhelfen wollen« (66f.). Verschwiegen wird dabei, daß die
Kommission gemäß den Regelungen in den europäischen Verträgen als kollegiales
Organ und damit einheitlich entscheidet. Ist bei Schulz dann doch einmal von der
gesamten Kommission die Rede, so gehören ihre neoliberalen Verfehlungen längst
der Vergangenheit an, heute hingegen fänden sich solche Ideen schlimmstenfalls
nur noch im Apparat: »Auch die EU, und dort vor allem die Europäische
Kommission, trieb die neoliberale Agenda voran; im mittleren und oberen
Management werden die neoliberalen Lehren teilweise bis heute hochgehalten«
(63). An anderer Stelle wird die Verantwortung dafür noch niedriger
angesiedelt: »Und vor allem in der Kommission sitzt mancher Beamte, der vom
Deregulierungswahn noch immer geradezu besessen ist« (250).
Tatsache ist hingegen, daß die Kommission stets als Ganzes sowohl in der
Vergangenheit als auch gegenwärtig eine Politik der Deregulierung,
Privatisierung und Zerschlagung der auf nationalstaatlicher Ebene entstandenen
Sozialsysteme verfolgt. Davon zeugen insbesondere die von der Kommission
ausgearbeitete Lissabon-Agenda, die von ihr konzipierte
Dienstleistungsrichtlinie und die unter ihrer Federführung formulierten
Memoranden, mit denen den Defizitländern Griechenland, Irland, Portugal und
Zypern eine harte Austeritätspolitik auferlegt wurde. Was die Liberalisierungen
angeht, so gilt, was Martin Höpner, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für
Gesellschaftswissenschaften, darüber im Magazin Mitbestimmung der
Hans-Böckler-Stiftung schrieb: »Stationen in der Geschichte europäischer
Liberalisierungspolitik sind die Liberalisierungen des
Telekommunikationswesens, des Luft- und Güterverkehrs, der Energiemärkte und
des Postwesens, zudem die Aufhebung des Arbeitsvermittlungsmonopols der
ehemaligen Bundesanstalt für Arbeit sowie Beschränkungen der Stellung des
öffentlichen Rundfunks und der Gewährleistungshaftung öffentlicher
Gebietskörperschaften für Landesbanken und Sparkassen.«3 So sehen es auch viele
Gewerkschafter und alternative Wirtschaftswissenschaftler. Aufschluß darüber
geben etwa die jährlich vorgelegten Stellungnahmen der Europäischen
Memorandum-Gruppe. Dort werden die
neoliberalen Vorstöße der Kommission regelmäßig akribisch aufgelistet. Nur ein
Blick in diese Memoranden hätte Schulz gezeigt, daß diese Politik weder allein
von »einzelnen Kommissaren« oder gar nur von »manchen Beamten« verfolgt wird,
noch daß sie der Vergangenheit angehört.
Was die von Schulz behauptete positive Rolle des Europaparlaments angeht, das
angeblich versucht habe, »kräftig dagegenzusteuern«, so ist dies eine weitere
Legende. Zu keinem Zeitpunkt hat es im Europäischen Parlament eine Ablehnung
der neoliberalen Agenda der Union bzw. ihrer Mitgliedsstaaten gegeben. Das
folgt schon daraus, daß dort gegen die Abgeordneten der Konservativen, der
Liberalen und weiterer kleiner rechter Gruppen keine Mehrheit erreichbar ist.
Und warum sollten diese Parlamentarier dem neoliberalen Kurs ihrer
Herkunftsländer widersprechen? Zur Wahrheit gehört zudem, daß sich auch die
Sozialdemokraten und die Grünen im Europaparlament oft dieser Linie
anschließen. Es bleibt daher das Geheimnis von Martin Schulz, wie eine solche
antineoliberale Mehrheit des Parlaments, die »kräftig dagegensteuert«,
aussieht. In Wirklichkeit hat das Parlament nicht nur den neoliberalen Kurs der
Mitgliedsländer akzeptiert, bei manchen Gelegenheiten übernahm es sogar die
Initiative zu dessen Verschärfung. Dies war etwa bei der Reform des
Stabilitäts- und Wachstumspaktes der Fall, als das Parlament forderte, daß von
der Kommission verhängte Sanktionen künftig bei Verfehlungen der Kürzungsziele
»automatisch« anzuwenden seien, ohne zuvor eine Entscheidung des Rats abwarten
zu müssen. Damit sollte jede politische Entscheidungsmöglichkeit von
vorneherein ausgeschaltet werden.
Die von Schulz behaupteten Gegensätze von Parlament, Kommission und
Mitgliedsländern bei der Durchsetzung der neoliberalen Agenda lassen sich nicht
belegen. Tatsächlich gibt es unter diesen Institutionen eine weitgehende
Übereinstimmung über die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen der Union. Die EU
kann daher hinsichtlich der in ihr verfolgten Wirtschafts- und Finanzpolitik
als ein geschlossener neoliberaler Block angesehen werden, was aber nicht
ausschließt, daß es gelegentlich im Detail zu unterschiedlichen Positionen
kommen kann. Ein solches Detail sind etwa die beschriebenen, von
Mitgliedsstaaten und Parlament unterschiedlich gesetzten Akzente bei der
Bewertung von Euro-Bonds und Schuldentilgungsfonds.
Binnenmarktfreiheit
Die von
Schulz gestellte rhetorische Frage, ob »die EU ein neoliberales Projekt« (60)
sei, wird von ihm aber auch aus ganz grundsätzlichen Gründen verneint, wenn er
sagt: »(…) allerdings ist die EU nicht qua Natur ein neoliberales
Binnenmarktprojekt. Für sie gilt ebenso wie für die einzelnen Nationalstaaten
auch: Es entscheiden die jeweiligen politischen Mehrheiten. Wenn die Wähler für
ein Europa der Deregulierung und der Privatisierung stimmen, wird die EU
neoliberal sein. (…) Gibt es aber andere politische Mehrheiten, dann wird auch
ein anderes Europa möglich sein: ein Europa, in dem soziale Rechte und
Umweltstandards vor den Interessen des Marktes Vorrang haben« (63).
Seiner Ansicht nach kann die Union somit als ein leeres Gefäß angesehen werden,
das man mit nahezu beliebigen Inhalten füllen kann. Dies ist lediglich ein
weiterer europäischer Traum, den zusammen mit Schulz leider auch viele
Gewerkschafter und fortschrittliche Politiker träumen. Die Wirklichkeit sieht
ganz anders aus: Tatsächlich sind seit den Römischen Verträgen von 1957 die
Binnenmarktfreiheiten – die des Kapital-, Waren-, Personen- und
Dienstleistungsverkehrs – der Kern der europäischen Integration. Zu Recht
werden sie (gemeint sind die Römischen Verträge, d.Red.) deshalb auch als die
eigentliche Verfassung der Union bezeichnet. Es handelt sich dabei um eine
liberale Wirtschaftsverfassung. Es gilt: »Die ›vier Grundfreiheiten‹ sind
nichts anderes als die Freiheit kapitalistischer Betätigung.«4 Mit der (1985 in
Mailand beschlossenen, d.Red.) Einheitlichen Europäischen Akte und dem sich
anschließenden forcierten Aufbau des europäischen Binnenmarkts, dem Vertrag von
Maastricht und dem in ihm enthaltenen Fahrplan zur Einführung der gemeinsamen
Währung ist diese Wirtschaftsordnung über die Jahrzehnte ausgebaut und dabei
immer weiter befestigt worden.5 Unzählige Richtlinien und Verordnungen wurden
auf dieser vertraglichen Grundlage erlassen und bilden den gemeinsamen
Besitzstand, den Acquis communitaire, der Union. All dies müßte weitgehend
verworfen werden, wollte man ein Europa schaffen, in dem, wie es Schulz
formuliert, »soziale Rechte und Umweltstandards vor den Interessen des Marktes
Vorrang haben«. Eine solch völlig neue Union ist natürlich vorstellbar. Sie setzt
aber grundlegende, wenn nicht gar revolutionäre Veränderungen in den
Mitgliedsstaaten voraus. (…)
Unter der reißerischen Überschrift »Den internationalen Raubtierkapitalismus
zähmen« (227) formuliert Schulz Forderungen, wie sie auch von kritischen Gewerkschaftern
und linken Politikern erhoben werden. (…) Beschworen wird ein »soziales und ein
solidarisches Europa«, das im Gegensatz zu einem solchen stehe, »in dem nur der
Wettbewerb zählt und nationale Standortpolitik betrieben wird«. Und rhetorisch
fragt er: »Wollen wir unser soziales und demokratisches Gesellschaftssystem
auch im 21. Jahrhundert verteidigen, oder wollen wir dem angloamerikanischen
oder dem chinesischen Gesellschaftsmodell folgen?« (263) Er konstatiert: »Die
Macht der Hedgefonds, der ›systemrelevanten‹ Banken und der Ratingagenturen ist
eine riesige Herausforderung für unsere Demokratie. Sie wieder in den Griff zu
bekommen, dient auch der aktiven Prävention neuer Krisen« (237). Und er zieht
daraus den Schluß: »Natürlich müssen wir auch die Banken kontrollieren.« Auch
»ist wichtig, daß wir die Ratingagenturen kontrollieren« (243). Mit all diesen
Maßnahmen »muß Europa seinen Beitrag leisten, einen entfesselten
internationalen Kapitalismus wieder in die richtigen Bahnen zu lenken« (245).
Zahme Kapitalismuskritik
Sieht
man sich diese Aussagen genauer an, entstehen allerdings Zweifel daran, wie
ernst es Schulz mit der Schaffung eines solchen »sozialen und solidarischen
Europas« tatsächlich ist. Denn diese Forderung paßt nicht zu der von ihm vorgenommenen
Bewertung der gegenwärtigen neoliberalen Politik in Europa. So kritisiert er
den ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi dafür, daß
er in seinem Land »keine Reformen durchführte« (74).
Die Bilanz von dessen Nachfolger Mario Monti sieht Schulz hingegen positiv. Er
verteidigt sie gegen Kritik der Ratingagenturen und nimmt Monti in Schutz, da
dieser »ein in der Geschichte dieses Landes beispielloses Reform- und
Sparprogramm auf den Weg brachte und damit den internationalen Forderungen
nachkam, die beständig auf ihn einprasselten« (75).
Schließlich wird Schulz ganz eindeutig in seinen Aussagen: »Ich bin sicher, daß
auch Europa die Krise meistern und gestärkt aus ihr hervorgehen wird. Wichtige
Strukturreformen werden derzeit in einigen Ländern nachgeholt« (79). Und:
»Damit kein Mißverständnis aufkommt: Natürlich müssen verkrustete Strukturen in
vielen Ländern der EU aufgebrochen werden« (97). Doch um welche »Verkrustungen«
handelt es sich dabei, und was sind das für »Strukturreformen«, die jetzt »in
einigen Ländern nachgeholt« werden müssen? Mit »Strukturreformen« wird im
Jargon der EU-Kommission stets der Abbau von Schutzrechten für die
Lohnabhängigen und sozial Schwachen umschrieben. Das »Aufbrechen von
Verkrustungen« bedeutet dort die Durchsetzung von Deregulierungen und
Privatisierungen, die Reform des Arbeitsmarktes zur Erhöhung des
Ausbeutungsgrades und die Zusammenkürzung öffentlicher Haushalte –
euphemistisch als »Verschlankung« bezeichnet.
Es verwundert daher nicht, daß sich Schulz zur Agenda 2010 seines
Parteifreundes Gerhard Schröder bekennt, machte doch dieser sozialdemokratische
Kanzler »Deutschland wieder fit«. Nach 16 Jahren Kohl-Kanzlerschaft mußte
nämlich »ab 1998 (…) eine neue Bundesregierung für frischen Wind in Deutschland
sorgen und den Reformstau auflösen« (97). Nach Kritik an einigen
Unzulänglichkeiten der Agenda 2010 heißt es anerkennend: »Andererseits befindet
sich unser Land auch wegen dieser Reformen
inzwischen ökonomisch wieder auf einem Spitzenplatz« (98).
So sieht nach Martin Schulz also die »Zähmung« des »internationalen
Raubtierkapitalismus« aus. Die verkündete Umkehr der neoliberalen Politik
entpuppt sich als ein Programm ihrer Fortsetzung müssen doch, nach ihm,
weiterhin »verkrustete Strukturen in vielen Ländern der EU aufgebrochen
werden«. Eine Änderung der EU-Politik ist also von den europäischen
Sozialdemokraten unter seiner Führung nicht zu erwarten. Hier sei nur daran
erinnert, daß die Sozialdemokraten bereits im Jahr 2000 ihre Chance für eine Neuausrichtung
der europäischen Politik hatten. Seinerzeit waren sie in gut zwei Drittel aller
Mitgliedsländer an der Regierung beteiligt. Am Ende stand damals aber nicht das
vielbeschworene »soziale Europa«, sondern die neoliberale Lissabon-Agenda.
Allerdings setzt Schulz europäische Interessen auffällig häufig mit »westlichen
Interessen« gleich. Mit dieser Formulierung wird im allgemeinen Sprachgebrauch
regelmäßig die Orientierung auf ein transatlantisches Bündnis mit den USA
umschrieben. Unter der Überschrift »Europa verstummt im Konzert der Weltmächte«
(132) begegnet uns die schon von Daniel Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt
bekannte Gleichsetzung europäischer mit westlichen Interessen. So führe, nach
Schulz, die Globalisierung zu »tektonischen Verschiebungen auf unserem Planeten
(…), die die westliche Dominanz der letzten 500 Jahre mindestens herausfordern,
vielleicht sogar beenden« (132). Und man müsse »ganz nüchtern konstatieren, daß
die Ära der westlichen Vorherrschaft endgültig vorbei und der Zeitpunkt nicht
mehr weit ist, an dem kein europäisches Land seine Interessen gegenüber den
aufstrebenden Großmächten der Zukunft alleine noch wirkungsvoll vertreten kann«
(136). An anderer Stelle wird dann aber wieder die Gegnerschaft zum
»angloamerikanischen Modell« (263) beschworen. Eine erkennbare Linie in den
Fragen der internationalen Einbettung der Europäischen Union kann man dem Buch
daher nicht entnehmen. (…)
Eine Regierung für Europa
»Wiederherstellung
des Primats der Politik gegenüber einem entfesselten und marktradikalen
Kapitalismus, der die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft
torpediert«, so lautet eine weitere Forderung im Buch (44). Diese
»Wiederherstellung des Primats der Politik« soll ausgerechnet über die
Europäisierung der Politik – über eine der wichtigsten Ursachen der
Entdemokratisierung also – erfolgen. Aber für den Demokratieabbau sind ja für
Schulz die Regierungen der Mitgliedsstaaten allein verantwortlich. Hier sieht
er die Gefahr der Entstehung eines »Exekutivföderalismus« (36) und einer
»Postdemokratie« (37). Dem stehen angeblich die Kommission und vor allem das
Europäische Parlament gegenüber. Folglich sieht er denn die Lösung des
Demokratieproblems in der Stärkung dieser Einrichtungen.
Schulz will aus der Europäischen Kommission eine europäische Regierung formen:
»Was wir dringend brauchen, ist eine echte europäische Regierung, die
parlamentarisch gewählt und kontrolliert wird« (24). Und: »Diejenigen, die
regieren, sollten sich Regierung nennen dürfen. Damit wird der Präsident der
EU-Kommission der europäische Regierungschef« (158f.). Für die Regierungen der
Mitgliedsländer sieht er hingegen nur noch Plätze in der zweiten Reihe vor:
»Die Regierungschefs, die bislang auf ihren Gipfeltreffen so tun, als seien sie
die eigentliche europäische Regierung, werden sich dann bescheiden müssen und
endlich die Funktion einnehmen, die den Regeln der Gewaltenteilung entspricht,
nämlich die einer zweiten Kammer. (…) Ein so entstehendes Zweikammersystem
könnte sicherstellen, daß sowohl die Interessen der einzelnen Staaten als auch
der Unionsbürger insgesamt parlamentarisch vertreten würden« (159). In seiner
Funktion als Präsident des Europäischen Parlaments liegt Martin Schulz viel an
dessen Stärkung. So fordert er, »daß das EU-Parlament die europäische Regierung
wählt und sie auch abwählen kann und daß Gesetzesinitiativen sowohl von der
europäischen Regierung als auch von den beiden Legislativorganen (Parlament
und Rat) eingebracht und beschlossen werden können« (160).
Dieser vollständige Umbau der Union erfordere einen »neuen europäischen
Vertrag« (259). Vergleichbar dem Konvent, der den Verfassungsvertrag entworfen
hatte, muß dieser neue Vertrag nach Schulz »von einem Konvent ausgearbeitet
werden, in dem die europäischen Institutionen, nationale Parlamentarier,
Regierungen und Nichtregierungsinstitutionen eingebunden sind« (260). Auf diese
Weise soll der Einfluß der Mitgliedsstaaten auf die Vertragsgestaltung
möglichst gering gehalten werden, denn »wir können es uns nicht erlauben, daß
ein mit breiter Beteiligung erarbeiteter Verfassungsvertrag schließlich am Veto
einzelner Länder scheitert, wie das bei der letzten Verfassungsrunde geschehen
ist« (260). Für die Mitgliedsländer, die diesen neuen Vertrag am Ende ablehnen,
sieht Schulz keinen Platz mehr in der Union vor: »Diejenigen Länder, die den
Vertrag nicht ratifizieren, sollten dann automatisch aus der EU ausscheiden«
(260). Schulz nimmt also eine Zerschlagung der EU bewußt in Kauf. Diese
Forderungen nach einem rigorosen Umbau der EU dürften hingegen auf absehbare
Zeit keine Chancen auf Realisierung haben, schon gar nicht in der gegenwärtigen
krisenhaften Phase. Die tatsächlich in der Union Herrschenden, und dies sind
die im Europäischen Rat versammelten Regierungschefs der Mitgliedsländer, wären
schon froh, wenn sie die EU und insbesondere die Euro-Zone ohne größere Schäden
und ohne Auflösungsprozesse an ihren Rändern durch die Krise bringen könnten.
Die Forderung nach einem Ausschluß der einen neuen Vertrag ablehnenden
Mitgliedsländer hat auch den Rezensenten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung,
Nikolas Busse, irritiert. Er fragte: »Glaubt Schulz wirklich, daß irgendeine
Regierung in Europa bereit wäre, sich auf ein Alles-oder-nichts-Spiel
einzulassen, bei dem sie für ein paar neue Integrationsschritte alle bisherigen
Verträge riskieren würde? Will er wirklich in Kauf nehmen, daß womöglich Länder
wie Frankreich, die Niederlande oder auch Deutschland aus der EU fliegen, wenn
es dort zu ablehnenden Volksabstimmungen über eine einzige Vertragsänderung
kommt?«6
Die Forderungen von Martin Schulz nach einem völligen Umbau der EU zeigen, wie
weit er sich von klassischen sozialdemokratischen Europapositionen entfernt und
dabei den Sinn für Realitäten verloren hat. Zum Kontrast hier die Aussage von
Helmut Schmidt über jene Richtung, in die genau die Union nach dem Willen von
Schulz gehen soll: »Wer in einem großen Sprung die Europäische Union dergestalt
vollenden wollte, daß er sie zugleich mit einer Verfassung, einer Regierung und
einem Unionspräsidenten ausstattet, der würde zwar nicht notwendigerweise
Menschenleben gefährden. Wohl aber würde er in vielen EU-Staaten so viel
demokratische Opposition hervorrufen, daß diese das ganze Gebäude der Union zum
Einsturz bringen könnte. Danach stünden wir alle wieder da, wo wir am Anfang
des 20. Jahrhunderts schon einmal gestanden haben.«7 Und damit wäre genau das
erreicht, was Schulz im ersten Satz seines Buches als Gefahr beschrieben hat:
das Scheitern der Europäischen Union.
Anmerkungen
1 Alle
Zitate von Martin Schulz sind aus seinem Buch »Der gefesselte Riese. Europas
letzte Chance«, Rowohlt Verlag, Berlin 2013. Im Text werden nur die
Seitenzahlen in Klammern angegeben (d. Red.).
2 Rudolf Hickel: Zerschlagt die Banken. Entmachtet die Finanzmärkte. Eine
Streitschrift. Econ, Berlin 2012, S. 54
3 Martin Höpner: »Das soziale Europa findet nicht statt«, in: Magazin
Mitbestimmung der Hans-Böckler-Stiftung, Heft 05/2008
4 Ebenda
5 Zu den einzelnen Stufen der Verfestigung dieser Ausrichtung der Europäischen
Gemeinschaft bzw. Europäischen Union vgl. Andreas Wehr: Die Europäische Union.
PapyRossa Verlag, Köln 2012, S. 49–69
6 Nikolas Busse: »Erklärungen für ein verunsichertes Publikum«. In Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 26.3.2013
7 Helmut Schmidt: Die Selbstbehauptung Europas. Perspektiven für das 21.
Jahrhundert. DVA, Stuttgart/München
2000, S. 194
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