Von der Euro-Krise zur Krise der Demokratie

FJ: Von kritischen Ökonomen werden die ökonomischen Ungleichgewichte im EU-Binnenmarkt als Ursache der Euro-Krise gesehen. Wie kann man dieses Problem in wenigen Sätzen umschreiben?

Die EU ist geprägt von großen ökonomischen Ungleichgewichten. Hochproduktive Industrien und Dienstleistungsunternehmen in Kerneuropa stehen deutlich schwächeren in den Peripherieländern gegenüber. Setzt man den Durchschnitt der Arbeitsproduktivität in der EU mit 100 an, so liegt sie in Deutschland bei 124 Prozent, in Griechenland und Portugal hingegen nur bei 76 bzw. 65 Prozent. Ähnlich niedrig ist sie in den mittelost- und  osteuropäischen Mitgliedsländern. Mit der Arbeitszeit hat dies nichts zu tun. Im Gegenteil: In keinem anderen Land der EU wird so lange gearbeitet wie in Griechenland. Die Wochenarbeitszeit beträgt dort 43,7 Stunden, in Portugal liegt sie bei 42,3. Erst dann folgt Deutschland mit 42 Stunden.

Die unterschiedlichen Produktivitätsraten sind das Ergebnis der Stärke der Industrien und Dienstleistungsunternehmen in den kerneuropäischen Ländern. Der einheitliche Binnenmarkt, d. h. die Freizügigkeit von Waren, Dienstleitungen, Kapital und Arbeitskräften, haben die traditionellen Abstände weiter wachsen lassen. Da in Kerneuropa der Anteil für Forschung an den Betriebsausgaben um ein vielfaches höher als in der Peripherie liegt, wird sich daran auch in Zukunft nichts ändern. Hinzu kommen staatliche Förderungen, die in Kerneuropa deutlich höher als im Rest der EU liegen. Die hiesigen Monopolkonzerne konkurrieren die Unternehmen der Peripherie nieder. Daher setzt man den Beginn der Deindustrialisierung Griechenlands mit dem Beitritt des Landes zur EU 1981 an. Auch Spanien und Portugal sind diesem Deindustrialisierungsprozess ausgesetzt.

Die EU-Länder sind als Abnehmer deutscher Waren und Dienstleistungen von überragender Bedeutung, gehen doch ca. 65 Prozent aller deutschen Exporte dorthin. Sinkende Löhne und reduzierte Sozialtransfers im eigenen Land befeuern diese Exportstrategien, verbessern sie doch die Bedingungen des „Standorts Deutschland“. Die Parole heißt „Beggar thy Neighbour“, lebe auf Kosten des Nachbarn.

Die Überschüsse aus den Waren- und Dienstleistungsexporten werden zu einem erheblichen Teil als anlagesuchendes Kapital in die europäischen Peripherieländern verliehen und treiben dort die Verschuldung von Staaten, Unternehmen und Privathaushalten hoch. Mit diesen Krediten werden wiederum deutsche Importwaren finanziert. Die Verschuldung dort stützt daher die Exportkonjunktur hier – so schließt sich der Kreis: Das ökonomische Ungleichgewicht in der EU ist die entscheidende Ursache der gegenwärtigen Eurokrise.


FJ: Von dem Euro-Problemland Griechenland ist bekannt, dass sehr hohe Rüstungsimporte aus den EU-Gläubigerländern nach wie vor  abgewickelt werden. Wie stark tragen diese zur Krise bei?

Auch im Rüstungssektor gilt: Die Konzerne aus Kerneuropa – und hier vor allem aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien – haben die Verschuldung der Peripherieländer vergrößert, indem sie Rüstung dorthin auf Kredit verkauften. Dies gilt insbesondere für Griechenland. Der griechische Militärhaushalt liegt traditionell sehr hoch und betrug lange Zeit um die vier Prozent, in Deutschland liegt er zum Vergleich bei 1,4 Prozent. Selbst als die Verschuldung Griechenlands bereits enorm war, wurden in Frankreich noch sechs neue Fregatten und in Deutschland sechs U-Boote gekauft. Erst jetzt wurde der Rüstungsetats leicht abgesenkt.


FJ: Was bedeutet das derzeitige Euro-Krisenmanagement für die Zukunft der Demokratie in den EU-Ländern?

Die Regierungen der Defizitstaaten Griechenland, Irland und Portugal unterschrieben für die Zusage von Hilfszahlungen der anderen Euroländer Memoranden, in denen der sogenannten Troika, bestehend aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds, weitreichende Kontrollrechte eingeräumt wurden. Die Renten-, Steuer- und Sozialpolitik aber auch Teile der Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Gesundheits- und Infrastrukturpolitik werden in diesen Ländern seitdem von außen vorgegeben. Dies geschieht mit ausdrücklicher Billigung der nationalen Bourgeoisien. Sie treiben ihre Länder in die Abhängigkeit von außen, um die Staatsanleihen zu sichern, die einheimische Banken dort vergeben haben.

Zur Durchsetzung der drastischen Kürzungspolitik wurden in den Defizitstaaten die üblichen demokratischen Spielregeln weitgehend außer Kraft gesetzt. So unterschrieben alle für eine Regierungsbildung infrage kommenden Parteien Portugals das mit der Troika vereinbarte Memorandum bereits Wochen vor den Parlamentswahlen. Man konnte dort also wählen was man wollte, man bekam auf jeden Fall die Kürzungspolitik. Ähnlich war es in Griechenland. Hier setzte die Troika durch, dass sich auch die Opposition zu dem Memorandum bekennt. Inzwischen ist man dort – aber auch in Italien – mit der Installierung von Expertenregierungen, die ohne vorangegangene Legitimation durch Wahlen installiert wurden, noch einen Schritt weitergegangen.

Die in den Defizitländern bereits erfolgte Entmündigung der Bevölkerungen soll gegenwärtig mit Hilfe einer Fiskalunion auf alle Länder der Eurozone ausgedehnt werden. Künftig sollen dort wichtige Haushaltsentscheidungen erst dann getroffen werden dürfen, wenn sie vorab von der Kommission genehmigt wurden. Man sieht: Sind die Interessen der Herrschenden in der Krise gefährdet, wird die bürgerliche Demokratie regelmäßig zur Disposition gestellt.

FJ: Daran knüpft sich automatisch die Frage: Was passiert, wenn die griechische Bevölkerung hier nicht mitspielt und wie realistisch ist denn ein solches Szenario?

Die griechische Bevölkerung spielt bereits jetzt nicht mit. Es ist vor allem die ungebrochene Kampfkraft der Gewerkschaften und der Linksparteien, die den Bürokraten des Sozialabbaus Sorgen macht. Auch die Privatisierung öffentlichen Eigentums wird durch vielfältigen Widerstand behindert. Es ist daher wahrscheinlich, dass der gegen die Interessen der Bevölkerung gerichtete Kurs nicht über mehrere Jahre hinweg durchgehalten werden kann. So rückt die Notwendigkeit eines drastischen Schuldenschnitts als einzig verbleibende Option näher. Da 90 Prozent der ausstehenden Staatsanleihen nach griechischem Recht aufgelegt wurden, kann das griechische Parlament Zins- und Tilgungsbedingungen jederzeit ändern und eine Umschuldung erzwingen. Doch ein solcher Schuldenschnitt würde natürlich vor allem die griechischen Banken treffen, die einen großen Teil der griechischen Staatsanleihen gekauft haben. Wie die Eurokrise gelöst wird – auf Kosten der Bevölkerung oder auf Kosten der Banken und Versicherungen – hängt daher vom Ausgang der Klassenkämpfe in den Defizitländern selbst ab.

FJ: Wie eingangs von Ihnen festgestellt, sind die deutsche Wirtschaft und die deutsche Politik maßgeblich für die Krisenursachen verantwortlich. Für welche Alternativen in der Wirtschaftspolitik müsste in Deutschland gekämpft werden?

Um den Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands nicht noch weiter wachsen zu lassen, müssten hier Löhne und Sozialausgaben steigen. Die Lohnsteigerungen in Deutschland betragen seit Beginn der Wirtschafts- und Währungsunion 1999 gerade einmal acht Prozent. Die deutschen Lohnabhängigen leben daher nicht nur schlechter als notwendig, unter der restriktiven Lohnpolitik des mit Abstand wirtschaftlich stärksten Landes der EU lei­den auch die Exporte anderer Volkswirtschaften.

Doch selbst drastische Lohnerhöhungen hier werden nicht zu einem Ausgleich der Leistungsbilanzunterschiede innerhalb der EU führen. Die Defizitländer müssen vielmehr ihre Ökonomien wirksam schützen können. Dies kann etwa mit Hilfe hoher Sätze bei der Einfuhrumsatzsteuer geschehen. Eine solche Maßnahme würde den freien EU-Binnenmarkt für einen bestimmten Zeitraum aussetzen. In einer Studie der Europäischen Zentralbank ist dies vor kurzem vorgeschlagen worden.

 

Zurück

Zurzeit sind keine Nachrichten vorhanden.

Mein Newsletter

Abonnieren Sie den Newsletter von Andreas Wehr. Der Newsletter informiert unregelmäßig (10 bis 12 mal im Jahr) über Publikationen, Meinungen und Bucherscheinungen und wird über den Newsletter-Anbieter Rapidmail versendet.