Über Bruchlinien und Legitimationsverluste der EU

Schattenblick: Sie haben in Ihrem Buch "Die Europäische Union" über die unterschiedlichen Fragmentierungen innerhalb der EU, insbesondere in bezug auf die Eurozone und die restlichen Staaten, eindrücklich dargestellt, dass sich im Rahmen der Eurozone fast schon eine zweite EU entwickelt hat. Könnten Sie auf dieses Verhältnis unter dem Gesichtspunkt der weiteren Entwicklung der EU eingehen?

 

Andreas Wehr: Anfang der 90er Jahre hat es eine Diskussion über das sogenannte Kerneuropa-Konzept gegeben, die von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers angestoßen wurde. Beide gingen davon aus, dass es einen schneller voranschreitenden Kern der Europäischen Union geben wird, gruppiert um die hochentwickelten Staaten, und zugleich eine schwächere Entwicklung der Peripherie-Staaten, so dass verschiedene Kreise in der EU entstehen würden. Die heutige Eurozone ist aber nicht mit diesem Kern hochentwickelter Staaten der EU identisch, da ihr zum einen wichtige Länder, die ein ähnliches Entwicklungsniveau haben wie Deutschland, die Benelux-Staaten und Österreich, nicht angehören, etwa Schweden, Dänemark und Großbritannien. Zugleich umfasst sie deutlich schwächere Ökonomien, etwa Griechenland, Portugal, Malta, Zypern sowie die Slowakei und Slowenien, die man zur Peripherie rechnen muss.

 

Das gegenwärtige Problem der Eurozone besteht nun darin, dass diese schwächer entwickelten Peripherieländer zu Defizit-Staaten werden, da sie in der ökonomischen Entwicklung nicht mehr mitkommen können. Insofern geraten wir jetzt tatsächlich in eine Situation, in der die Europäische Union in einen noch relativ wohlhabenden Kern der Eurozone plus Großbritannien, Dänemark und Schweden und in einen deutlich ärmeren Rest der Eurozone sowie von osteuropäischen EU-Länder ohne Euro aufgespalten wird.

 

Die Situation ist aber noch komplizierter, da sich die Eurozone - trotz ihrer wachsenden inneren Differenzierung - zugleich institutionell immer weiter von der übrigen EU entfernt. So werden innerhalb der Eurozone Konzepte entwickelt und auf den Weg gebracht, die die übrigen EU-Staaten weniger oder gar nicht betreffen wie beispielsweise der Fiskalpakt, der von Großbritannien und Tschechien denn auch nicht unterzeichnet wurde. Aber auch die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM), die sogenannten Rettungsschirme, sind als juristisch unabhängige Institutionen außerhalb der EU nur von den 17 Euroländern eingerichtet worden. Diese Spaltungstendenz manifestiert sich auch in eigenen Gremien der Mitglieder der Eurozone, es gibt den Euro-Gipfel und das separate Treffen der Euro-Finanzminister. Den anderen zehn EU-Staaten bleibt dabei nur übrig zuzugucken. Diese Entwicklung kann am Ende zu einer wirklichen Spaltung zwischen den Euro-Ländern und der übrigen EU führen. In Großbritannien wird davor bereits gewarnt.

 

SB: Es scheint, dass die Gleichsetzung von Euro und EU, die Frau Merkel betont hat, sich in der Eurozone tatsächlich verwirklicht. Gibt es denn für die restlichen zehn Staaten überhaupt noch ein tragfähiges oder sinnstiftendes Moment, das den Gedanken der europäischen Integration für sie attraktiv macht, wenn die Totalisierung der Währung im Raum steht?

 

AW: Laut den europäischen Verträgen sind alle EU-Staaten mit Ausnahme von Dänemark und Großbritannien verpflichtet, den Euro einzuführen. Dänemark ist in einer besonderen Situation, weil es seinerzeit nach der Ablehnung des Maastricht-Vertrages in einem ersten Referendum ein Opting-Out, eine Regelung für die Nichtteilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion erreicht hatte. Großbritannien hat einen automatischen Beitritt zum Euro von vornherein ausgeschlossen. Schweden ist vertragsbrüchig, da es zwar schon lange die wirtschaftlichen Bedingungen für die Einführung des Euro erfüllt, aber dennoch nicht beitreten will. Der Grund dafür ist, dass es dort zwei Abstimmungen über die Einführung des Euro gegeben hat, und beide fielen negativ aus. Doch niemand würde den Schweden in der jetzigen Situation ernsthaft eine erneute Abstimmung vorschlagen. Aber Schweden sowie alle übrigen EU-Staaten - mit Ausnahme von Großbritannien und Dänemark wie dargestellt - bleiben verpflichtet, den Euro irgendwann einzuführen.

Da in der gegenwärtigen Eurokrise die Schaffung von Rettungsfonds bzw. Sicherheitsnetzen den Euro-Staaten sehr teuer kommt, haben die EU-Länder außerhalb der Eurozone erst einmal ihre Integration in die Eurozone auf die lange Bank geschoben. Bulgarien und Ungarn und noch weitere Länder haben sogar erklärt, dass sie sich auf absehbare Zeit nicht um die Mitgliedschaft in der Eurozone bemühen werden, so dass der hohe Anspruch der EU, wie ihn Merkel formuliert hat, dass nämlich der Euro ab einem bestimmten Zeitpunkt die Währung aller EU-Staaten sein soll, auf absehbare Zeit nicht realisierbar ist. Die Staaten außerhalb der Eurozone sehen sehr wohl, dass sie - im Unterschied zu den Euroländern - mit eigenen Währungen noch immer über Instrumente verfügen, die sie in der Krise schützen können. So haben beispielsweise Polen, Ungarn und Tschechien in den letzten Jahren ihre Währungen gegenüber dem Euro zum Teil erheblich abgewertet. Auch Großbritannien kann den Wettbewerbsnachteil, den seine Unternehmen dort gegenüber Konzernen aus Deutschland haben, wenigstens teilweise durch Abwertung des Pfunds ausgleichen und so die eigenen Produkte billiger machen. So wird die Einführung des Euro vor allem deshalb hinausgeschoben, um diese Abwertungsmöglichkeit der eigenen Währung nicht zu verlieren. Soweit bekannt, versuchen gegenwärtig nur Litauen und Lettland in die Eurozone zu kommen. Aber die streben den Beitritt eher aus politischen Gründen an.

 

SB: Früher galt das hehre Ziel einer Wertegemeinschaft noch als konstituierender Grundgedanke der EU. Heute ist dagegen mehr und mehr von einer Schicksals- und Notgemeinschaft die Rede. Gibt es außerhalb der Überlebensfrage und damit des Wunsches, die ökonomische Macht in alle Welt zu projizieren, Ihrer Ansicht nach noch andere Gründe, warum Regierungen die EU als Entwicklungsmodell gutheißen könnten?

 

AW: Das ist eine gute Frage, denn ein verbindendes Gesellschaftsmodell kann ich mit Blick auf die gegenwärtige Lage eigentlich nicht mehr erkennen, dass man etwa sagen könnte, hier wird ein solidarisches oder ein ökologisches Europa aufgebaut. Aber auch für die Idee, die Europäische Union zu einer weiteren Supermacht neben den USA, und eines Tages vielleicht sogar neben China, zu entwickeln, sehe ich gegenwärtig nicht viel Begeisterung. Die Wege der EU-Länder gehen vielmehr in ganz verschiedene Richtungen. Die deutsche Politik baut etwa auf einen weiterhin hohen Exportanteil ihrer Konzerne, um so die Risiken einer nachlassenden Binnenkonjunktur auszugleichen. Mit den Exportüberschüssen wird zugleich Arbeitslosigkeit in die anderen EU-Länder exportiert, denn mit den importierten Gütern wird dort Kaufkraft gebunden, die dann für inländische Produkte oder Dienstleistungen fehlen.

 

Auch auf anderen Gebieten der europäischen Integration - etwa im Bereich der Sicherheits- und Außenpolitik - bewegt sich wenig. Und bei der Frage der Versorgung mit Energie gehen die Staaten sogar gegensätzliche Wege: Der einseitige Atomausstieg Deutschlands wird in Frankreich und in osteuropäischen Ländern, wo man die Atomenergie sogar ausbaut, überhaupt nicht honoriert.

 

So gibt es in der Union heute wenige Gemeinsamkeiten außer der Tatsache, dass man jetzt unbedingt zusammenbleiben will, denn eine Aufsprengung der EU, selbst schon der Eurozone, würde allen Ländern erhebliche ökonomische Probleme bereiten, und davor scheut man noch zurück.

 

SB: Sie hatten in Ihrem Vortrag auf den hochentwickelten Aushandlungsmechanismus innerhalb der EU verwiesen, der in gewisser Weise die klassischen zwischenimperialistischen Widersprüche reguliert. Wäre aus heutiger Sicht eine Rückkehr zu einer klassischen europäischen Ordnungspolitik mit bilateralen und anderen Bündnissituationen, die diesen Mechanismus dann gegenstandslos machen würde, überhaupt denkbar?

 

AW: Es ist ein Aushandlungsmechanismus, weil man eben auch auf kleine und wirtschaftlich schwächere Länder Rücksicht nehmen muss. Allerdings hat es in dieser Hinsicht mit dem europäischen Verfassungsvertrag und dann später mit dem Lissabonner Vertrag, der die Kernelemente des gescheiterten Verfassungsvertrags übernommen hat, eine deutliche Verschiebung gegeben. Mit dem Lissabonner Vertrag ist die Mehrheitsentscheidung im Rat, die sogenannte Gemeinschaftsmethode, quasi obligatorisch geworden. Die Regel der Einstimmigkeit, die lange Zeit in der EU eine große Bedeutung hatte und die dazu führte, dass, sagte ein Land zu etwas Nein, dieses Vorhaben nicht zustande kommen konnte, wurde fast vollständig aufgegeben. Das heißt, Mitgliedstaaten können heute in fast allen Fragen überstimmt werden.

Mit dem neuen Abstimmungsmechanismus im Rat, dies ist das Gremium, wo die Regierungen zusammenkommen und in einem Verfahren der Mitentscheidung gemeinsam mit dem Europäischen Parlament über Richtlinien und Verordnungen entscheiden, wird der demographische Faktor gestärkt. Das heißt, dass die an Bevölkerung starken Länder wie die Bundesrepublik Deutschland, aber auch Frankreich und Großbritannien ein erheblich größeres Gewicht in der EU gewinnen werden. Dies wird zur Folge haben, dass diese Staaten noch mehr als bisher schon über den weiteren Weg der EU bestimmen können.

 

Mit beiden Veränderungen, mit der Ausweitung der Mehrheitsentscheidung und dem neuen Abstimmungsverfahren, wird die EU ihren Charakter als Aushandlungsgemeinschaft verlieren.

 

SB: Sie bezeichnen die meist im Mittelpunkt der Argumentation zugunsten der EU stehende Friedenssicherung innerhalb Europas seit dem Zweiten Weltkrieg als Gründungsmythos der EU. Könnten Sie dies noch einmal erläutern?

 

AW: Als 1951 die Montanunion und 1957 die EWG gegründet wurden, war ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich bzw. Deutschland und Großbritannien oder auch mit Italien absolut undenkbar. Die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung zwischen den großen imperialistischen Staaten innerhalb Europas gab es nicht mehr. Der deutsche Faschismus war besiegt. Die USA standen mit ihren Truppen in Deutschland und in vielen anderen westeuropäischen Ländern und bestimmten seit Mitte der 40er Jahre die Außenpolitik der europäischen Staaten ganz entscheidend mit. Selbst die europäische Integration ging ganz wesentlich auf die Initiative der Vereinigten Staaten zurück. Zudem darf der Systemgegensatz nicht vergessen werden. In Europa war Krieg lange Zeit sehr wohl möglich, aber nicht zwischen Deutschland und Frankreich oder anderen Staaten der Europäischen Gemeinschaften, sondern zwischen Ost und West. Das war die eigentliche Gefahr.

 

SB: Letztlich wäre die sich heranbildende EU durch die Systemparität gebunden gewesen.

 

AW: Ja. Es gab hier eine Oberaufsicht durch die USA. Durch die Entscheidungen, die 1944 auf den Weg gebracht wurden, mit der Gründung von internationalen Einrichtungen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, wurden bereits vor Kriegsende Vorgaben gemacht, in die sich die EG/EU schließlich einfügte. Es ist wirklich ein Mythos, zu glauben, dass die europäische Integration auf den Weg gebracht wurde, um eine kriegerische Auseinandersetzung in Mittel- und Westeuropa zu verhindern.

 

SB: Heute hat man es auch in der Linken mit einer Affirmation der EU von fast dogmatischem Charakter zu tun, insofern schon der Anflug einer Möglichkeit, die EU als Ganzes in Frage zu stellen, praktisch geächtet und als nationalistische Position bewertet wird. Gleichzeitig gibt es Politiker wie Daniel Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt, die für ein neues Europa werben, das auf den ersten Blick fortschrittlich wirkt, aber gleichzeitig eine Militarisierung der EU und den Ausbau von Strukturen von durchaus autoritärem Charakter vorsieht. Was bildet sich da - beispielhaft zu sehen am paradigmatischen Wandel Cohn-Bendits - für eine neue Form der Legitimation und Sinnstiftung heraus?

 

AW: Die gesellschaftliche Linke ist von ihrer Entstehung und ihrem Selbstverständnis her eine internationalistische Bewegung, die immer gegen Nationalismus gekämpft hat. Es gibt viele Persönlichkeiten innerhalb der linken Bewegung, die ich sehr schätze - dazu gehört allerdings nicht Cohn-Bendit -, die sich mit einer grundlegenden Kritik an der EU schwertun, weil sie in ihr einen Rückfall in den Nationalismus sehen. Ihre Grundeinstellung gegenüber der EU ist, dass man sie nicht gefährden, sondern weiterentwickeln sollte. Dies geht oft einher mit der Vorstellung, dass die kapitalistische Produktion sich endgültig internationalisiert hat und damit nationalstaatliche Grenzen überwunden wurden. Dabei wird aber regelmäßig übersehen, dass die EG/EU schon immer, vor allem aber jetzt in der Eurokrise, durch die Vormacht der Hegemonialstaaten über die schwächeren Peripherie-Staaten strukturiert war und ist. Eine solche Vorherrschaft einiger weniger großer Staaten in der Union ist aber alles andere als im Sinne des Internationalismus der Linken.

 

Zu dieser Bevormundung der schwächeren Peripherie-Staaten gehören heute die Eingriffe der sogenannten Troika, die von Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalen Währungsfonds gebildet wird. Hinter ihr stehen Berlin, Paris und andere wichtige Eurostaaten. Sie geben ganz konkret vor, wie die Innen-, Sozial- Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik in den peripheren Staaten auszusehen hat. Das führt natürlich zu Abwehrreaktionen in diesen Ländern, da sie ihre Souveränitäten zu verteidigen suchen. Hier wäre es sehr wichtig, dass die Linke diese Veränderung erkennt und ihre oft sehr unkritische Unterstützung der EU aufgibt. Zugleich darf sie den Widerstand in den Peripheriestaaten nicht als Rückfall in einen Nationalismus diffamieren.

 

Zum Buch von Cohn-Bendit und Verhofstadt: Dies ist ein Plädoyer für eine neue Weltmacht EU, die auch in linksliberalen Kreisen Unterstützung findet. Es ist Propaganda für eine Versammlung aller europäischen Länder in der Union, weil der Einfluß Europas in Zukunft angeblich kleiner wird. Man sieht sich der Gefahr ausgesetzt, von China und anderen neu aufkommenden Schwellenländern überrundet zu werden. In diesem Zusammenhang spricht Kanzlerin Merkel ja immer wieder von den nur noch acht bis neun Prozent, die die europäische Bevölkerung in 20 oder 30 Jahren in der Welt ausmachen wird. Doch das sind klassische imperialistische Legitimationsstrategien, um die Machtstellung insbesondere des langjährigen Exportweltmeisters Deutschland zu erhalten, indem die Eurozone und der EU-Binnenmarkt zusammengehalten werden, weil sie nun mal die Grundlagen für die Weltstellung des deutschen Kapitals sind.

 

SB: Es wird durchaus für fortschrittlich und emanzipatorisch gehalten, den Staatskredit Griechenlands zu decken, um es weiter in der Eurozone zu halten. Dies entspricht dem starken Interesse der deutschen Eliten um Merkel und Schäuble, Griechenland nicht ausscheren zu lassen. Auf der anderen Seite vertritt die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) in Griechenland eine klare Anti-EU-Position. Wie würden Sie das Interesse daran, den Verbleib Griechenlands in der Eurozone und EU möglicherweise auch unter hohen Kosten für die Bundesrepublik sicherzustellen, beurteilen?

 

AW: Ich glaube, dass das politische Kosten sind und man sich entschieden hat, Griechenland in der EU vor allem aus strategischen Gründen zu halten. Da hat es innerhalb der Regierungsfraktionen in Deutschland ein Umdenken gegeben. Schäuble hat ja seine Äußerung, "Griechenland werde nicht bankrott gehen", auf dem Rückflug vom Treffen des Internationalen Währungsfonds in Tokio getan. Das war ein Signal vor allem an die asiatischen Finanzmärkte, jetzt nicht das Vertrauen in den Euro zu verlieren, auch nicht in ihn als Reservewährung, da kein Land aus der Eurozone entlassen wird. Man glaubt, dass, selbst wenn nur ein Land wie Griechenland aus der Eurozone ausschert, es zu Vertrauensverlusten des Euro bei den Kapitalmärkten kommt, die man am Ende nicht mehr kontrollieren könnte. Das will man unbedingt vermeiden. Außerdem fürchtet man, mit Griechenland einen sehr wichtigen militärischen Verbündeten im östlichen Mittelmeer zu verlieren. Gerade die Konflikte, die jetzt im Nahen und Mittleren Osten eskalieren, verlangen aber, aus Sicht der Herrschenden, eine stabile Südostflanke der NATO.

 

SB: Es gibt eine starke Tendenz, Lohnarbeit auf EU-Ebene über vertragliche Instrumente wie den Euro-Plus-Pakt und das Sixpack zu regulieren. Warum wird die Verwertbarkeit von Arbeit auf EU-Ebene maximiert, wenn die Staaten das auch in Eigenregie machen könnten? Gibt es einen echten Vorteil für das Kapital, das auf EU-Ebene zu organisieren?

 

AW: Der Vorteil des Kapitals, solche Dinge auf EU-Ebene zu organisieren, ist, dass die Widerstandskräfte, die von linken Parteien oder Gewerkschaften entwickelt werden können, auf europäischer Ebene sehr viel schwächer entwickelt sind, denn es gibt keine europäische Öffentlichkeit bzw. eine nur sehr eingeschränkte. Dafür fehlt es schon an einer allgemein verstandenen und gesprochenen Sprache. Trotz der Bedeutung des Englischen beziehen fast alle Bürger der EU ihre wichtigsten Informationen weiterhin aus nationalen Medien.

 

Ohne eine europäische Öffentlichkeit kommen aber die in Europa sehr gut organisierten Lobbyisten und Kapitalverbände aus. Sie können sich immer dort am leichtesten durchsetzen, wo sich Gewerkschaften, progressive Medien, linke Parteien und Umweltorganisationen nur schlecht artikulieren können. Damit besitzt das Kapital auf EU-Ebene einen enormen Vorteil. Zwar gibt es einen europäischen Gewerkschaftsbund, aber für ihn ist es sehr schwierig, Demonstrationen etwa in Brüssel so zu organisieren, dass sie mit dem vergleichbar wären, was man in Paris, Berlin, Madrid oder Athen auf die Beine stellen kann. Für die Kapitalisten ist es daher sehr viel leichter, den Weg zur Flexibilisierung der Arbeit und zur Herabsetzung der Lohnkosten über die EU zu gehen, weil der Widerstand dort geringer ist. Und damit ist man durchaus erfolgreich. Auch die Urteile des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) können von Gewerkschaften und linken Parteien kaum beeinflußt werden. All diese Vorteile nutzen dem Kapital.

SB: Sie halten auch Bündnisse mit dem bürgerlichen Lager bzw. mit Kräften, die nicht direkt der Linken zugehörig sind, für sinnvoll, um Widerstand gegen diese von der EU ausgehende Politik zu leisten. Halten Sie es tatsächlich für eine politische Option, dass sich auf dieser Ebene eine Gegenkraft mobilisieren könnte?

 

AW: Ja, ich sehe durchaus im klassischen liberal-bürgerlichen Spektrum die Kritik an der Europapolitik der Bundesregierung stärker werden, etwa im Verband der Familienunternehmer, der sich mit Anzeigen in großen deutschen Tageszeitungen immer wieder zu Wort meldet, weil durch die deutsche Europolitik ungeheure Haushaltsmittel verausgabt werden, um Banken zu retten, und sie als mittelständische Unternehmen davon gar nichts haben. Dort erkennt man immer besser, dass die Politik der Bundesregierung nur den großen Konzernen und den Banken zugute kommt. Wenn man als Linke offener auf diese Kräfte zugehen würde, ließe sich die Kritik an der EU-Politik der Bundesregierung verstärken.

Was die Klagen der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke angeht, so lässt sich darüber sagen, dass von EU-Kritikern wie Peter Gauweiler und Karl Albrecht Schachtschneider ganz ähnliche Einwände vor das Bundesverfassungsgericht gebracht werden wie von der Partei Die Linke. Es gibt durchaus auch in konservativen Kreisen ein Interesse daran, die demokratischen Rechte des Bundestages und des Bundesrates nicht weiter durch Kompetenzübertragungen auf die Unionsebene aushöhlen zu lassen. Wenn sich daraus, trotz aller Unterschiede in anderen Fragen, Bündnismöglichkeiten ergeben, so sollte man sie ergreifen. Ich denke, da sollte man nicht zögerlich sein, denn wir brauchen sehr viel mehr EU-Kritik in der Bundesrepublik Deutschland.

 

SB: Herr Wehr, vielen Dank für das Gespräch.

Fußnoten:
[1] http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar599.html

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0135.html

 

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