Schlechter Deal in Brüssel

Nach diesem Wochenende ist es amtlich: Die Idee eines europäischen Verfassungsvertrages ist tot. Im Protokoll des Gipfels heißt es unmissverständlich: "Der EU-Vertrag und der Vertrag über die Arbeitsweise der Union werden keinen Verfassungscharakter haben. Die in den Verträgen insgesamt verwendete Begrifflichkeit wird diese Änderungen widerspiegeln: der Ausdruck Verfassung wird nicht verwendet." Damit ist endgültig die Idee vom Tisch, den neoliberalen Inhalten und dem Aufrüstungsgebot der bestehenden EU-Verträge auch noch Verfassungsrang geben zu wollen. Gescheitert sind diese Absichten am "Non" und am "Nee" der Franzosen und Niederländer. Dies ist ein Erfolg, denn beide Male war es ein linkes Nein.

Hehres Ziel

Wie oft wurde in den vergangenen Jahren in Reden und Schriften das hehre Ziel einer europäischen Verfassung beschworen, um nun in lediglich zwei Verhandlungsnächten wie eine zu heiß gewordene Kartoffel fallengelassen zu werden. Düpiert müssen sich jetzt jene fühlen, die wirklich und aufrichtig an die Notwendigkeit und an den Sinn einer europäischen Verfassung geglaubt hatten. Und in der Tat: Verfassungsentwürfe sind auch schon früher bei Volksabstimmungen durchgefallen, etwa in Frankreich 1946. Doch damals fiel niemandem ein, gleich ganz auf eine Verfassung zu verzichten. Und so hatte der Ruf nach einer anderen, besseren europäischen Verfassung jetzt durchaus seinen Sinn.

Tatsächlich war aber das hohe Wort von einer Verfassung von den europäischen Eliten von Beginn an nur taktisch gemeint. Es war vor allem eine Idee der Deutschen. Da man die Veränderung der Machtverhältnisse in Regierungskonferenzen und auf Gipfeln weder in Amsterdam 1997 noch 2000 in Nizza durchsetzen konnte, verfiel man auf einen Trick. Mit Hilfe der an einer Verfassung interessierten Öffentlichkeit sollte soviel Schubkraft entwickelt werden, dass störrische Regierungen zum Einlenken gezwungen wären. Diesem Zweck diente auch die Einberufung eines Europäischen Konvents. Wie hieß es doch damals so hochtrabend: Erstmals werde über den weiteren Weg der Union nicht mehr in Hinterzimmern in Geheimdiplomatie entschieden, sondern in offener Debatte in einem Konvent, besetzt vor allem mit demokratisch gewählten Parlamentariern. Die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Die Konventsmitglieder durften wohl monatelang reden und Hunderte von Änderungsanträgen schreiben, die Entscheidungen fielen aber in einem nach außen hermetisch abgeschirmten Präsidium. Von seinen Sitzungen gibt es bis heute keine Protokolle, so dass der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker, wahrlich kein Gegner der europäischen Integration, vom Konventspräsidium als der "dunkelsten Dunkelkammer" sprach, die ihm jemals begegnet sei. Heute kehrt man stillschweigend, als sei nichts gewesen, zur Regierungskonferenz und damit auch ganz offiziell zur geheimen Hinterzimmerdiplomatie zurück. Von der Konventsmethode ist keine Rede mehr.

 Grundrechtecharta raus

Abgelegt ist auch die vielgepriesene Grundrechtecharta. In ihr stehen so schöne Dinge wie etwa das "Recht auf Bildung", "Gleichheit von Frauen und Männern", "Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen", "Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit" sowie "Gesundheitsschutz". Vor allem die Gewerkschaften erhofften sich davon eine Korrektur der neoliberalen Politik der EU. Doch die Bedeutung der Charta wurde über die Jahre Schritt für Schritt eingeschränkt. So wurde etwa klargestellt, dass "sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten in keiner Weise erweitert". Jetzt soll sie ganz aus dem zukünftigen Vertragstext herausfallen. Lediglich verwiesen werden soll noch auf sie.

Bestimmt wurde der Brüsseler Gipfel aber nicht vom vergleichsweise unwichtigen Schicksal der Grundrechtecharta. Im Mittelpunkt stand vielmehr die Machtfrage in der EU. Es ging um gewichtete Stimmen, um Quadratwurzeln und um Mehrheitsentscheidungen. Jeder konnte erkennen, dass die Bestimmungen des Verfassungsvertrages vor allem die großen Staaten, und hier insbesondere Deutschland, bevorzugen. Durch die Umstellung auf das demographische Prinzip bei den Abstimmungen steigt der deutsche Anteil im Rat um nicht weniger als 100 Prozent! Kleinere Staaten verlieren demgegenüber deutlich an Einfluss. Der Widerstand Polens konnte lediglich eine Verschiebung dieses Umbaus der EU im Interesse der großen Staaten erreichen. Dieser Machtkampf unterstrich die Tatsache, dass die EU eine Veranstaltung von Nationalstaaten ist. Und er bewies damit einmal mehr, wie unsinnig die so beliebte Entgegensetzung von "nationalstaatlichem Beharren versus europäischer Integration" ist.

Vielen Entscheidungen des Gipfels sieht man förmlich an, dass sie nur mit Blick auf drohende Referenden in den Mitgliedstaaten getroffen wurden. So wurde etwa der Titel eines Europäischen Außenministers fallengelassen, da er in Großbritannien Misstrauen weckt. Das Amt selbst wird es aber dennoch geben. Die Erwähnung von Europäischer Flagge, Hymne und Gedenktag missfällt den Niederländern. Also wird im Text darauf verzichtet. Die blaue Flagge wird aber weiter wehen. Bei dem französischen Referendum geriet die Forderung "nach einem Binnenmarkt mit freiem und unverfälschten Wettbewerb" in die Kritik. Nun will man bei den Zielen der Union auf diese Worte verzichten. An der wirtschaftspolitischen Ausrichtung der EU wird sich aber nichts ändern. Es wird weitergehen mit der Öffnung der Märkte, mit Privatisierung, Abbau von Sozialstandards und Druck auf öffentliche Dienstleistungen. Hinter all den kosmetischen Veränderungen steht die Angst vor einem abermaligen Scheitern des nun zum "Reformvertrag" geschrumpften einstmaligen Verfassungsvertrags in Volksabstimmungen. Doch eine Union, die den Willen ihrer Bürgerinnen und Bürger fürchten muss, ist zum Siechtum verurteilt.

 

 

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