Ratlose EU – Keine Einigung mit Polen und Ungarn, keine Lösung für Brexit-Handelsabkommen
Interview von Andreas Wehr mit SNA News (vormals Sputnik Deutschland)
Der EU-Gipfel in Brüssel ist überschattet von handfesten Streitigkeiten. Auf der einen Seite blockieren Polen und Ungarn den Haushaltsplan, auf der anderen Seite gestalten sich die Gespräche mit Großbritannien zu einem möglichen Handelsabkommen schwierig. SNA-News sprach darüber mit dem EU-Experten Andreas Wehr.
- Herr Wehr, in Brüssel kommen am Donnerstag und Freitag die EU-Staats- und Regierungschefs zusammen. Viele schwierige Themen stehen auf dem Programm. Eines, das seit geraumer Zeit für Schlagzeilen sorgt, ist der Streit zwischen Ungarn und Polen einerseits und den restlichen Mitgliedsstaaten andererseits. Die beiden Länder blockieren den Beschluss des 7-Jahres-Haushalts, um den Mechanismus zum Schutz des Rechtsstaats zu umgehen – so die offizielle Lesart. Könnte man jetzt auch andersrum sagen: Die EU erpresst die beiden Länder mit dringend benötigten Geldern, um auf deren Innenpolitik Einfluss zu nehmen?
Ja, so kann man das durchaus sagen. Es ist ja eine neue Qualität, dass die EU-Kommission und überhaupt die EU als Ganzes jetzt damit beginnen, Sanktionen gegen Mitgliedsländer innerhalb der EU auszusprechen beziehungsweise anzudrohen. Das hat es bisher nicht gegeben, dass man bestimmte Politikformen, bestimmte politische Inhalte in den Ländern beeinflussen will, indem man Fördergelder sperrt beziehungsweise diese Länder gar nicht erst in ihren Genuss kommen lassen will.
- Nun sind die Regierungen in Polen und vor allem Ungarn nicht erst seit gestern an der Macht. Dass es gerade jetzt zu dem Streit kommt – liegt es an der Corona-Krise und den damit verbundenen Corona-Paketen, der Aushandlung des 7-Jahres-Haushalts oder ist es bloß der Gipfel eines Prozesses, der die ganze Zeit im Gange war?
Es ist beides. Der Anlass ist natürlich gut gewählt und es war klar, dass es zu einem Konflikt mit den beiden Ländern kommen wird. Das war lange vorbereitet und man hat es auch schon bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gesehen. Dort hatten Sozialdemokraten, Liberale und Grüne immer wieder einen sogenannten Rechtsstaatsmechanismus oder eine Veränderung der Situation in Polen und Ungarn verlangt und gefordert, dass die EU alle Mittel dafür einsetzt. Es war klar, dass man in der Frage des Haushaltes den Hebel ansetzt. Die Aushandlung des Sieben-Jahres-Haushaltes war die einzige Möglichkeit überhaupt, zu versuchen, diese Länder in den Griff zu bekommen. Man hat ja gesehen: Alle Appelle, alle Forderungen hatten nichts genutzt. Und so gab es schon lange die Forderung, zukünftig bei den Regional- und Strukturfonds sowie bei den Agrarfonds es so zu handhaben, dass man nur Teile auszahlt und die Auszahlung der einzelnen Tranchen von der Befolgung des Rechtsstaatsmechanismus und der Veränderung der Politik dieser beiden Länder abhängig macht. Es war also klar, dass das kommt und dass man sich auf diesen Zeitpunkt vorbereitet hat.
- Jetzt scheint sich ja ein Kompromiss abzuzeichnen. Der Mechanismus soll kommen, enthält aber quasi ein Hintertürchen für Polen und Ungarn. Zum einen soll er nicht bei allgemeinen Problemen mit der Rechtsstaatlichkeit greifen, sondern bei Fragen der rechtmäßigen Verwendung der EU–Gelder. Zum anderen können Strafen bei Verstößen erst nach einem entsprechenden Urteil des Europäischen Gerichtshofes verhängt werden, was lange dauern kann. Beide Konfliktparteien scheinen damit zufrieden zu sein und der Kompromiss soll recht gute Chancen haben, angenommen zu werden. Wie beurteilen sie diese Lösung? Gibt es hier Sieger und Verlierer? Und ist sie tragfähig?
Man kann noch nicht sagen, wer da Gewinner und wer Verlierer ist. Es sieht so aus, als ob man sich tatsächlich auf einen Kompromiss einigt. Die Situation ist ja die, dass auch Polen und Ungarn die EU an einem empfindlichen Punkt treffen können, denn sie haben bisher die Einigung über die Auszahlung der Corona-Hilfen verhindert. Das war ein Hebel, den man da benutzt hat, um seine eigenen Interessen einzubringen. Was den Mechanismus zum Schutz der EU-Gelder angeht, muss ich mich schon wundern, dass man von Polen und Ungarn verlangt, dass sie Versicherungen abgeben, die Verteilung der EU-Gelder nach rechtsstaatlichen Prinzipien zu regeln. Das könnte man genauso gegenüber anderen Ländern fordern – ich denke da an Italien. Wir hatten dort eine erhebliche Veruntreuung von EU-Geldern in den letzten Jahren gehabt. Ich erinnere da nur an die Wiederaufbauhilfen nach dem Erdbeben von L’Aquila. Das gilt aber auch für Rumänien und Bulgarien. Es ist also recht willkürlich, dass man sagt, es gehe um die Abwendung von Veruntreuung von EU-Geldern. Tatsächlich geht es um den Versuch, die Innenpolitik von Ungarn und Polen zu beeinflussen.
- Was meinen Sie, warum nur diese beiden Länder jetzt im Fokus stehen?
Das hat eine lange Vorgeschichte. Der Streit zwischen den zentraleuropäischen Ländern, also zwischen Deutschland, Frankreich und Polen, geht zurück auf das Jahr 2003. Damals hatte Polen zusammen mit Spanien den Konventsentwurf für eine Europäische Verfassung blockiert. Es hatte bemängelt, dass das Quorum für die Beschlussfassung im Europäischen Rat zu niedrig gesetzt worden war – das hat man dann erhöht. Damals hat das zu einer schweren Auseinandersetzung zwischen Merkel und den Kaczynskis geführt, und seitdem ist das Verhältnis vergiftet. Seither hat man versucht, die Bürgerplattform von Donald Tusk zu unterstützen und zu fördern, auch mit Hilfe der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung. Das ist nicht geglückt und das Verhältnis ist seitdem sehr schwierig. Was Ungarn angeht, so hat sich die Situation 2015 dramatisch verändert. Ungarn wurde ja vorgeworfen, die Flüchtlinge nach Österreich und nach Deutschland durchgelassen zu haben. Von dem damaligen Zerwürfnis hat sich das deutsch-ungarische Verhältnis bis heute nicht erholt. Das sind alles Auseinandersetzungen, die in die Vergangenheit zurückreichen, und man versucht heute, diese Länder entweder zur Raison zu bringen oder die dortigen Regierungen so zu schwächen, dass sie die nächsten Wahlen verlieren. Man hofft ja darauf, dass Orbán verschwindet und die PiS-Partei von der Bürgerplattform verdrängt wird. Das sind politische Spiele, die innerhalb der EU gespielt werden, und dabei spielt man gern über die Bande: Förderungsfonds, Strukturfonds, Haushalt.
- Ich habe in einer Schlagzeile gelesen, Großbritannien zu verlieren, sei für die EU schmerzhaft, noch schmerzhafter könnte es aber sein, Polen und Ungarn zu behalten. Wie sehen Sie das? Könnten das mittelfristig Kandidaten sein, die die EU lähmen oder sogar aus ihr ausscheiden würden? Vielleicht sogar mit Zustimmung der EU?
Das glaube ich erstmal nicht. Man weiß, dass Ungarn, aber auch Polen für die deutsche Industrie von enormer Bedeutung sind. Die Wertschöpfungsketten der hiesigen Produktion umfassen die Volkswirtschaften dieser Länder. Kein anderes Land ist so engagiert in der Wirtschaft dieser beiden Länder, wie Deutschland. Das wird man sicherlich bedenken. Wenn es Versuche geben sollte, diese Länder rauszudrängen, glaube ich nicht, dass das deutsche Kapital das gut finden würde. Damit würde man ja wichtige Länder verlieren, die man wirklich braucht. Die Aussage, dass es schade wäre, Großbritannien zu verlieren und diese beiden Länder zu behalten, ist ein bisschen Sarkasmus. Ich denke, das ist ein Versuch, darzustellen, dass Großbritannien von seiner Innenpolitik Deutschland und Frankreich nähersteht, als Ungarn und Polen. In der Realität sieht das natürlich ganz anders aus. Man wird diese Länder nicht rausdrängen, und ich glaube auch nicht, dass es in den beiden Ländern Bewegungen geben wird, die EU zu verlassen. Dafür erhalten sie einfach zu viel Geld für ihre Regionalpolitik, für ihre Agrarpolitik. Man hat ja jetzt auch gesehen: Sie sind ein bisschen eingeknickt und machen einen Kompromiss, weil sie natürlich auch fürchten, die Corona-Hilfsgelder nicht zu bekommen. Damit hatte ja die EU gedroht. Es gibt also ein wechselseitiges Interesse daran, den Konflikt nicht ganz auf die Spitze zu treiben. Er ist ja schon jetzt zugespitzt genug.
- Kein Thema ist bei dem zweitägigen EU-Gipfel: das Brexit-Abkommen. Dazu hieß es nach einem Abendessen von Kommissionschefin Ursula Von der Leyen und dem britischen Premier Boris Johnson, die Positionen würden sehr weit auseinanderliegen, aber man wolle bis Sonntag entscheiden, wie es weitergehen solle. Im Kern geht es um ein Handelsabkommen. Wenn dafür keine Lösung gefunden wird, würden zum Jahreswechsel Zölle erhoben werden. Welche konkreten Punkte stehen aus Ihrer Sicht dieser Einigung im Weg und warum konnte nach all der Zeit keine für beide Seiten annehmbare Regelung getroffen werden?
Es ist oft so, dass bei Verhandlungen bis ganz zum Schluss gewartet wird. Da wird gepokert, beide Seiten haben ihre Forderungen aufgestellt und man will sie nur dann abräumen, wenn sich auch die andere Seite bewegt. Das ist nichts Besonderes, dass man bis zum Schluss verhandelt und es lange Zeit so aussieht, dass es keine Einigung gibt. Und dann gibt es doch eine Einigung in irgendeiner Nachtsitzung. Das könnte jetzt auch passieren, könnte aber auch anders sein. Die Interessen liegen natürlich noch weit auseinander. Einer der großen Trümpfe der britischen Verhandlungsführer ist, dass sie die EU aus den nationalen Fischgründen ausschließen können, die künftig allein Großbritannien nutzen will. Diesbezüglich gibt es große Interessen Frankreichs. Auf der anderen Seite sind die Briten daran interessiert, dass die Produkte, die für die Produktion britischer Waren vom Kontinent reinkommen, weiter unverzollt bleiben. Beide Seiten haben daher großes Interesse daran, dass es ein Handelsabkommen gibt, und man muss sehen, wie sich das entwickelt. Dass bei diesem Gipfel nur am Rande darüber gesprochen wird, ist klar. Wenn man sich jetzt bis Sonntag Zeit gelassen hat, so wird wohl bis zum Anschlag verhandelt werden. Es kann auch schiefgehen, wenn sich die EU in dieser Frage nicht bewegt. Und ich glaube, sie wird sich bewegen müssen. Großbritannien hat schon einiges geleistet, aber die EU versucht eben, das Maximale auszuhandeln.
- Womit rechnen Sie bis zum Jahreswechsel? Ist eine Einigung in Sicht?
Das kann man schwer sagen. Man wird sehen, ob der EU ein konstruktives Verhältnis zu Großbritannien so viel wert ist, dass sie bestimmte Forderungen fallen lässt. Was sie mit Sicherheit nicht durchsetzen kann, ist eine der zentralen Forderungen der EU, dass die Beihilfenkontrolle, also Subventionen für Unternehmen, die von staatlichen Institutionen gezahlt werden, ähnlich gehandhabt wird wie jetzt schon in der EU. Das hat man bisher bei keinem anderen Handelspartner durchbekommen. Man versucht immer wieder, auch in den Freihandelsabkommen zwischen der EU und anderen Ländern, auf die innerstaatliche Subventionspolitik Einfluss zu nehmen. Auch mit China ist das schon lange ein Streitpunkt. Wenn man Großbritannien, ähnlich wie den EU-Ländern, untersagt, Stahlwerke und anderes zu subventionieren, dann wird es sicherlich keine Einigung geben. Von dieser Position wird die EU wahrscheinlich abrücken müssen.
Inzwischen haben Ungarn und Polen angekündigt, Klage vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die EU-Verordnung zum Rechtsstaatsverfahren einzureichen (Anm. d. Redaktion).
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