Populäre Programmschrift

Spricht Peter Mertens über sein Buch, ist gleich zu Beginn die Überraschung groß. Er redet nämlich nicht gleich über die Krise, den Kapitalismus, den Euro usw.. Als erstes spricht er über seine Mutter. An sie hatte er beim Schreiben des Buches stets gedacht, sie – die nicht das Glück hatte, eine umfassende Bildung erhalten zu haben - sollte es unbedingt verstehen können.

Und so ist ein ungewöhnliches Buch entstanden. Dem Autor ging es nicht darum, das x-te Werk zur Krise zu schreiben oder den Lesern die soundsovielte Interpretation ihrer Ursachen zu liefern. Es ging ihm darum, Zusammenhänge herzustellen zwischen den undurchschaubar erscheinenden Bewegungen der Finanzmärkte und der in ihrem Dienste stehenden Politik und den Folgen, die all das für die einfachen Menschen hat. Beschrieben wird die Macht der Herrschenden aber auch die Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, vorausgesetzt die Unterdrückten schließen sich zusammen.   

Ungewöhnlich war auch der Prozess der Erstellung des Buches. Gleich am Beginn dankt der Autor Wissenschaftlern, die ihm zugearbeitet haben, da ohne ihre selbstlose und uneitle Arbeit das Buch so nicht entstanden wäre. Es handelt sich also um eine Kollektivarbeit, genauer gesagt ist es ein Produkt von Wissenschaftlern der linken belgischen Partei der Arbeit (PVDA), deren Vorsitzender der Autor ist.

Das Buch ist gleichzeitig eine Programmschrift der PVDA, denn die hier unterbreiteten Vorschläge stellen nicht etwa die subjektive Meinung des Autors dar, sondern sind offizielle Positionen der Partei. Sie finden sich nicht einfach lieblos hintereinander gereiht, wie man es von linken Parteiprogrammen leider gewohnt ist, sie ergeben sich vielmehr als logische Schlussfolgerungen eines Textes, der mal journalistische Reportage, dann wieder wissenschaftliche Analyse und auch mal ein Auszug aus dem Tagebuch des Autors ist. Bei all dem war entscheidend, dass der Text verständlich blieb. Entsprechend der Praxis der Partei wurde das Manuskript deshalb Mitgliedern aus unterschiedlichsten sozialen Gruppen vorab zum Lesen gegeben. Schwer verständliche Passagen konnten so rechtzeitig erkannt und geändert werden.

Wie können sie es wagen? ist daher nicht nur eines unter den vielen Büchern zur Krise. Es handelt sich vielmehr um den zentralen Baustein eines Bildungsprojekts der Partei, das darüber hinaus Filme, Lesungen und Vorträge umfasst. Allein der Film mit den im Buch wiedergegebenen Interviews, u. a. mit Günter Wallraff, wurde in Flandern bislang 140.000mal im Internet aufgerufen. Auf mehr als 150 Veranstaltungen hat Peter Mertens dort aus seinem Buch gelesen. Weitere Präsentationen fanden im französischsprachigen Wallonien und in Brüssel statt. Wir haben es also hier mit einem Projekt der Agitproparbeit der PVDA im besten Sinne des Wortes zu tun, etwas, was es in der gesellschaftlichen Linken Deutschlands leider nicht gibt. Diese Agitproparbeit hat die jüngsten spektakulären Wahlerfolg der PVDA überhaupt erst möglich gemacht und ist zugleich Grundlage für den stetigen Mitgliederzuwachs der Partei.

Nur so ist auch der erstaunliche Verkaufserfolg von Wie können sie es wagen? erklärbar. In Belgien, aber auch in den Niederlanden stand es monatelang an der Spitze der Bestsellerliste, allein in Flandern mit seinen sechs Millionen Einwohnern wurde es mehr als 20.000 Mal verkauft. Übertragen auf das viel bevölkerungsreichere Deutschland hieße das, mindestens 240. 000 Exemplare eines aus linker Perspektive geschriebenen Buches zu vertreiben! Berichtet wird, dass Wie können sie es wagen? in unserem Nachbarland inzwischen regelrecht geliebt wird und das Zeug dazu hat, ein Kultbuch zu werden.

Neben den Ausgaben auf Niederländisch und Französisch liegt inzwischen auch eine deutsche Fassung vor. Eine englische ist in Vorbereitung. Die deutsche Ausgabe ist übrigens eine sehr sorgfältige Übertragung aus dem Niederländischen. Sie besitzt einen ansprechenden, gebundenen Einband und der Käufer bekommt sogar zwei Bücher in einem: Den gedruckten Text und eine eBookversion. Auch das unterstreicht den besonderen Charakter dieses Werks.

Das Buch ist übersichtlich in fünf Teile gegliedert. Am Anfang steht natürlich die Lage in Belgien, es folgt ein Kapitel über die Europäische Union („Europa im Morast“) und unter der Überschrift „Ideologien eines vergangenen Jahrhunderts“ eine Kritik der  trüben geistigen Quellen, aus denen die Neoliberalen schöpfen. In einem weiteren Kapitel setzt sich der Autor mit der „Krise und der Rückkehr des Nationalismus“ auseinander, um dann über gesellschaftliche Alternativen zu diskutieren. Mit einem Vorschlag über den „Sozialismus 2.0 – nach Maß von Mensch und Natur“ schließt das Buch mit einem Ausblick auf eine mögliche bessere Welt.           

Im Kapitel über Belgien wird anschaulich dargestellt, wie die Arbeitgeber dort neidisch auf das Deutschland des Niedriglohns, der Zeitarbeitsverträge und von Hartz IV blicken. Aber nicht nur die. Auch der flämische Nationalist und Rechtsaußen Bart de Wever lobt Deutschland und hier besonders die Sozialdemokraten: „Wen ich sehr bewundere und wer nicht immer den Respekt erhielt, den er verdient, das ist Gerhard Schröder. Er ist ein Sozialist, der den Mut aufbrachte, die in Deutschland notwendigen Reformen durchzusetzen.“ (82)

Durch diesen Blick von auf außen auf Deutschland erhält man eine Vorstellung davon, wie es zum Vorbild und Hoffnungsträger aller Neoliberalen Europas werden konnte: „Das rot-grüne Lohndumping dehnte sich wie ein wucherndes Geschwür über die Europäische Union aus, wo nun überall die Zahl der arbeitenden Armen zunimmt.“ (326) Und so lernt der deutsche Leser viel über sein Musterland des Kapitals Deutschland und begreift, welch große Verantwortung die deutsche Arbeiterklasse dafür trägt, dass sich hier das Blatt wendet und damit erst die Voraussetzung geschaffen wird, dass es im übrigen Europa besser werden kann.

Doch nach einer solchen Wende sieht es gegenwärtig nicht aus. Im Gegenteil! Schritt für Schritt wird vielmehr die deutsche Agenda 2010 den EU-Ländern aufoktroyiert: Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, Euro-Plus-Pakt, Stabilitätspakt, Six-Pack und Two-Pack heißen hier die Stationen. Das dahinterstehende Prinzip ist immer dasselbe: „In Brüssels Europaviertel sollen die Konzepte und Pläne der EU-Mitgliedstaaten bewertet und korrigiert werden, bevor nationale Parlamente sie absegnen dürfen. (…) Die Kontrolle über Staatshaushalte soll nicht mehr von unten erfolgen, sondern von oben, ganz nach den Wünschen der industriellen und finanziellen Elite.“ (197) Am Ende dieses Weges soll dann eine europäische Wirtschaftsregierung stehen. Die „europäischen Industriekapitäne“ wollen „fortan selbst und vor allem ungestört von demokratischem Firlefanz über die wirtschaftlichen, steuerlichen und sozialen Prioritäten entscheiden. Eine Währungszone, eine Politik, eine sozial-ökonomische Verwaltung.“ (197)  

Doch das ist nur die eine Seite. Die andere besteht im Widerstand gegen diese Entrechtung der Völker. Ausführlich wird die Gegenwehr in Griechenland, Lettland, Portugal und Irland beschrieben. Die Sympathie des Autors gehört dabei den kampfbereiten, klassenorientierten Kräften, wie den portugiesischen und den griechischen Kommunisten. Seine Sicht auf die Entwicklungsmöglichkeiten der Union ist illusionslos. Der in der deutschen Linken weit verbreitete Glaube, die EU zu einer „sozialen, demokratischen und ökologischen Union“ verändern zu können, wird von Mertens und seiner Partei nicht geteilt. Auch deshalb hält sich die PVDA von der Europäischen Linkspartei fern.  

Die EU stellt auch keine Antwort auf den überall anwachsenden Nationalismus dar. Sie begünstigt ihn vielmehr: „Wettbewerb und Profitgier, die die Europäische Union entstehen ließ, schüren nun allenthalben wieder den Nationalismus.“ (187) Und mit großer Klarheit wird im Abschnitt „Die Krise und die Rückkehr des Nationalismus“ der enge Zusammenhang von Vereinzelung durch Konkurrenz mit dem überall wieder aufsteigenden Nationalismus dargestellt: „Alle Menschen werden zu Konkurrenten – danach klingt die wahre Melodie der Europäischen Union. Wer die Menschen gegeneinander ausspielt, der bereitet den Nährboden für den Nationalismus. Europäische Zentralisierung und aufkeimender Nationalismus sind zwei Aspekte ein und derselben Konkurrenzpolitik.“ (269)                           

Für Belgien propagiert die PVDA als Sofortmaßnahme die Einführung einer zweiprozentigen Millionärssteuer. Das hört sich nach wenig an, würde aber angesichts des großen privaten Reichtums im Land erlauben, wichtige soziale Programme auf den Weg zu bringen sowie Kürzungen bei Bildung, Kultur und Gesundheit rückgängig zu machen: „Mit drei Milliarden Euro an Millionärssteuern könnten hunderttausend neue Arbeitsplätze geschaffen werden, Arbeitsplätze für Krankenpfleger, für Lehrkräfte, für Kinderbetreuer, für Bauarbeiter von neuen Sozialwohnungen und für Handwerker, die Häuser isolieren können. (…) Die Millionärssteuer ist ein geeigneter Hebel, um Vermögen zu aktivieren und endlich effektiv der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken.“ (33) Solche Zwischenschritte bedeuten aber keineswegs, dass die Partei ihr Ziel Sozialismus aufgibt, denn es wäre „sehr engstirnig, den Sozialismus abzuservieren, nur weil die ersten Versuche scheiterten“. (394) „Alle jene Schaumschläger, Geldscheffler und andere Oligarchen bezeichnen es als Utopie, weil sie es nicht für nötig befinden, sich eine andere Gesellschaftsform vorzustellen. Doch für eine beständig wachsende Anzahl von Menschen und für den Planeten, den sie bewohnen, wird die Zufuhr neuen Sauerstoffs immer dringlicher, um zu leben. Der Sozialismus ist keine unerreichbare Illusion, er ist ein Traum, der wahr werden kann (..).“ (395)    

Für diese „wachsende Anzahl von Menschen“ ist das Buch geschrieben worden. Für Deutschland existiert ein solches Werk leider nicht. Daher ist es zu wünschen, dass das Buch Wie können sie es wagen? Der Euro, die Krise und der große Raubzug bei uns zumindest eine große Verbreitung finden.         

 

 

 

 

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