Martin Schulz erfindet sich neu
Andreas Wehr über den designierten SPD-Kanzlerkandidaten und seine neuen Ansichten
„Mister 100 Prozent mischt die deutsche Politik auf“, so heißt es nach der Wahl von Martin Schulz zum SPD-Parteivorsitzenden und zum Spitzenkandidaten seiner Partei für die Bundestagswahlen im September. Der fulminante Aufstieg des früheren Europapolitikers zeigt: Die Forderung nach Herstellung sozialer Gerechtigkeit kommt heute wieder an, entspricht sie doch dem sich verbreitenden Bewusstsein, dass es in diesem Land immer weniger gerecht zugeht. Die krebsartige Ausbreitung von Niedriglöhnen, Minijobs, prekärer Arbeit jeder Art und in allen Lebenslagen, von Alters- wie Kinderarmut, die in Wirklichkeit doch eine Armut der Eltern ist, sind nicht mehr zu übersehen. Eine angeblich noch immer sozialdemokratische Partei kann daher wieder gewinnen, greift sie nur geschickt genug diese Stimmungen auf. Eine ganz andere Frage ist aber, ob sie wirklich bereit ist, ihre Politik zu ändern, denn in der Koalition mit der CDU/CSU unterstützt die SPD heute nicht allein die Politik des Sozialabbaus, mit der Agenda 2010 hat sie sie sogar initiiert. Sieht man einmal von der vagen Ankündigung Schulz῾ ab, das Arbeitslosengelds I für ältere Lohnabhängige unter Einhaltung strenger Auflagen um einige Zeit zu verlängern, hat die SPD bisher nicht erkennen lassen, dass sie in einer von ihr geführten Regierung wirklich bereit ist, einen anderen Kurs einzuschlagen. So bleibt es womöglich am Ende bei viel heißer Luft des Spitzenkandidaten und die gegenwärtig hohen Sympathiewerte für seine Partei fallen bis zur Wahl wieder in sich zusammen.
Doch gegenwärtig können sich die Sozialdemokraten in der Wählergunst sonnen. Ihr Coup konnte aber nur gelingen, indem man Martin Schulz als Europapolitiker und damit wie einen Außenstehenden in die deutsche Innenpolitik einschweben ließ. Es war sein glückloser Vorgänger Sigmar Gabriel, der die Chance dafür erkannt hatte. In einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verriet er, weshalb Schulz jetzt der richtige Spitzenkandidat für die SPD sei: „Er ist nicht Teil der vielen Konflikte, die ich in meiner Zeit als Vorsitzender der SPD ja austragen musste. Themen wie die Vorratsdatenspeicherung, das Freihandelsabkommen CETA mit Kanada und manches andere mehr haben ja auch innerhalb der SPD viel Kraft gekostet. Mit all dem hat Martin Schulz nichts zu tun, und er ist deshalb für Wählerinnen und Wähler der Grünen und der Linkspartei wählbar. Und er ist nicht so verhaftet mit der Großen Koalition wie ich.“
Doch hier hofft Gabriel und mit ihm die ganze Partei, dass das reale politische Handeln von Martin Schulz in der EU den meisten nur noch schwach oder gar nicht in Erinnerung ist. In Wirklichkeit hatte er nämlich mit dem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada durchaus „etwas zu tun“. Stets hatte er sich für dieses Abkommen wie auch für das entsprechende mit den USA (TTIP) eingesetzt. Als Trouble Shooter setzte Schulz sogar seine Autorität als EU-Parlamentspräsident ein, um dem CETA-Abkommen den Weg freizukämpfen. Als die sozialdemokratische Regierung der belgischen Region Wallonien dessen Unterzeichnung zunächst ablehnte, war es vor allem Schulz, der seine sozialistischen Genossen von ihrem Nein abbrachte: „Im Hintergrund zog er die Strippen beim CETA-Deal, beruhigte die Kanadier, warb für Zustimmung bei belgischen Politikern“, schrieb die Bild-Zeitung am 27. Oktober 2016 darüber.
Auch sonst war der designierte Kanzlerkandidat stets zur Stelle, hakte es irgendwo bei der Durchsetzung der EU-Politik. Schulz warnte etwa die Griechen beim Referendum im Juli 2015 vor einem Nein, und er sprach sich für das Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine aus, dessen Unterzeichnung bekanntlich die Krise dort erst außer Kontrolle geraten ließ. Und, anders als es die SPD jetzt versucht darzustellen, ist Schulz durchaus mit der Großen Koalition „verhaftet“, wenn auch nicht mit der in Berlin, so doch mit jener im Europäischen Parlament in Brüssel bzw. Straßburg. Die hat er immer verteidigt, denn ohne sie, d.h. konkret ohne die Hilfe der Konservativen als der gegenüber den Sozialdemokraten im EU-Parlament stärkeren Kraft, hätte er niemals den Sessel des Parlamentspräsidenten erklimmen können. Das Bewusstsein über diese Abhängigkeit bestimmte denn auch stets sein Handeln in diesem Amt.
Schulz hat in der Vergangenheit auch sehr wohl zu wichtigen Fragen der deutschen Innenpolitik Stellung genommen. In seinem 2013 veröffentlichten Buch Der gefesselte Riese. Europas letzte Chance [i] bescheinigte er der Politik seines Parteifreundes Gerhard Schröder, „Deutschland wieder fit“ gemacht zu haben. Nach 16 Jahren Kohl-Kanzlerschaft musste, so Schulz, „ab 1998 (…) eine neue Bundesregierung für frischen Wind in Deutschland sorgen und den Reformstau auflösen“. Anerkennend heißt es: „Unser Land (befinde) sich auch wegen dieser Reformen inzwischen ökonomisch wieder auf einem Spitzenplatz.“
Die deutsche Agenda 2010 pries er sogar als Vorbild für andere EU-Länder. In seinem Buch verlangte er, dass sich Frankreich und Italien gefälligst auf den Weg zu machen hätten, um Deutschland nachzufolgen und nach dem Vorbild der Agenda 2010 weitreichende Strukturreformen einzuleiten: „Ich bin sicher, dass auch Europa die Krise meistern und gestärkt aus ihr hervorgehen wird. Wichtige Strukturreformen werden derzeit in einigen Ländern nachgeholt.“ Und: „Damit kein Missverständnis aufkommt: Natürlich müssen verkrustete Strukturen in vielen Ländern der EU aufgebrochen werden.“
Doch um welche „Verkrustungen“ handelt es sich da, die er geißelt und was sind das für „Strukturreformen“, die, nach seinen Worten, „in einigen Ländern nachgeholt“ werden müssen? Mit „Strukturreformen“ ist im neoliberalen Jargon stets der Abbau von Schutzrechten für Lohnabhängige und sozial Schwache gemeint. Und das „Aufbrechen von Verkrustungen“ bedeutet übersetzt die Durchsetzung von Deregulierungen und Privatisierungen, die Reform des Arbeitsmarktes zur Erhöhung des Ausbeutungsgrads und die Zusammenstreichung öffentlicher Haushalte. Wenn es heute in der EU und in Deutschland weniger sozial gerecht zugeht, wie Schulz als Kanzlerkandidat nun beklagt, so vor allem wegen dieser Politik des Sozialabbaus, die Schulz als Europapolitiker vor kurzem noch ausdrücklich befürwortete.
Ganz plötzlich abgelegt hat Schulz auch seine grundsätzliche Kritik an der Europäischen Union. Noch in seinem Buch hatte er kein gutes Haar an den Regierungen der Mitgliedstaaten gelassen und für ihre Entmachtung durch eine zur „europäischen Regierung“ aufgewerteten Europäischen Kommission plädiert: „Was wir dringend brauchen, ist eine echte europäische Regierung, die parlamentarisch gewählt und kontrolliert wird.“ Jetzt, wo er aber die Chance hat, selbst an die Spitze einer solchen europäischen Regierung zu treten, klingt es ganz anders. Nun gehe es darum, „Deutschland in Europa stark zu halten und durch ein starkes Deutschland Europa stark zu halten“, so Schulz auf dem SPD-Parteitag am 19. März in Berlin.
Jemand, der wie Schulz je nach aktueller Situation seine Positionen wie einen lästigen Mantel, der nicht mehr zur Jahreszeit passt, wechselt und sich einfach mal so als Politiker neu erfindet, ist wenig glaubwürdig. Womöglich sind bereits morgen wieder ganz andere Töne von ihm zu hören. Zur Erinnerung: Auch Gerhard Schröder führte oft und gerne die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit im Munde. Das galt aber nur bis zu seiner Wahl zum Bundeskanzler. So könnte es auch mit Martin Schulz kommen.
[i] Zur Kritik dieses Buches vgl. Andreas Wehr, Der europäische Traum und die Wirklichkeit, PapyRossa-Verlag, Köln 2013 und hier der Abschnitt VI: Martin Schulz: Die Regierungen sind schuld! S. 109 ff. Die angeführten Zitate aus dem Buch von Martin Schulz „Der gefesselte Riese. Europas letzte Chance“ finden sich in diesem Text.
Aus: Berliner Anstoß vom April 2017 und Neuer Rheinischer Zeitung vom 11. Mai 2017
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