Mann von gestern

Kaum jemand wollte ihn. Gegen Juncker waren die Franzosen, die endlich mal wieder einen der ihren auf dem Posten des Kommissionspräsidenten sehen wollten. Merkel hatte aus ihrer Abneigung für ihn nie einen Hehl gemacht, zu oft hatte er ihr widersprochen. Für den italienischen Premier Renzi ist er eine Fehlbesetzung, wird doch die von ihm geforderte Aufweichung des Stabilitätspaktes mit Juncker nicht zu machen sein. Und schließlich die Briten! Ihr Premierminister führte eine regelrechte Kampagne gegen den Luxemburger – mit blamablem Ergebnis: »Cameron stranded« titelte die Financial Times. Doch am Schluss stimmten fast alle Regierungschefs für ihn.

Wie konnte es dazu kommen, dass ein so unbeliebter Kandidat so mühelos durchs Ziel gehen konnte? Die Antwort: Ein ursprünglich bloß symbolisch gemeinter Akt, hier die Benennung von Spitzenkandidaten durch die europäischen Parteienfamilien zu den Wahlen zum Europaparlament, hatte sich verselbständigt. Erdacht lediglich als PR-Aktion, um die ungeliebten Wahlen ein wenig aufzupeppen, wurde sie zu einem Schritt in Richtung Demokratisierung der EU umgedeutet. Für Jürgen Habermas ist damit gar »das bisher abgehobene institutionelle Europa in den Strom der polarisierten Willensbildung seiner Bürger hineingeraten«. Drastisch warnte er vor den Konsequenzen, sollte man nicht diesem Willen folgen. Dies würde »das europäische Projekt ins Herz treffen«. (FAZ vom 30. Mai) So oder ähnlich lauteten denn auch die meisten Leitartikel in den Medien, so dass es schließlich hieß, wer sich jetzt noch gegen Juncker ausspreche, der könne auch gleich das Abschlachten von Robbenbabys verlangen.

Auf diese Weise ist ein Vertreter des klassischen EU-Establishments ins Amt gekommen, der erst als Minister, dann als Premier des Großherzogtums und schließlich noch als Vorsitzender der Eurogruppe seit Jahrzehnten in Brüssel dabei ist. Kaum ein anderer steht so sehr für die Politik der Bankenrettung, die ja von Beginn an nichts anderes als die Rettung der Vermögen der Reichen und Superreichen auf Kosten der Lohnabhängigen, vor allem in den Peripheriestaaten des Südens, war. Juncker verstand es dabei stets meisterhaft, europäische Politik mit Luxemburger Interessen zu verknüpfen, schließlich beruht der Wohlstand des Landes auf einem völlig überdimensionierten Bankenapparat.

Der jetzt so vielfach beklagte Wahlerfolg der Euroskeptiker von rechts wie von links ist Ergebnis nicht zuletzt dieser Art von Politik. Die Benennung von Juncker zeigt, dass man entschlossen ist, diese Kritik zu ignorieren. Wichtiger ist den Europaenthusiasten in Politik, Medien und Wissenschaft, dass ein willkürliches europäisches Postulat nicht verletzt wird. Dafür ist man bereit, sogar gegen die eigene Überzeugung einen Mann von gestern zu wählen.

 

 

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