Kurz vorm Sinken

Vladimiro Giacché schreibt über die Geschichte der Krise EU-Europas

 

Der Untergang der »Titanic Europa« scheint nicht mehr aufhaltbar zu sein. Auf dem Titelbild des gleichnamigen Buches von Vladimiro Giacché ragt nur noch das Heck des Schiffes hervor, dessen Bordwand die Karte Südeuropas zeigt. Mittel- und Nordeuropa sieht man dort hingegen nicht – ein Hinweis darauf, daß mit dem italienischen Ökonomen und Philosophen jemand aus der Perspektive des Südens auf die europäische Krise blickt.

Der Autor beschreibt zunächst die Geschichte der Krise, und dies in schnellen Schritten, in einem gut lesbaren Stil, unterteilt in kurze Kapitel. Langeweile kommt so beim Lesen nicht auf. Es geht ihm um den »roten Faden, der die Ereignisse miteinander verbindet«. Sein Resümee lautet: »Nicht die Finanzkrise hat die Realwirtschaft angesteckt, sondern umgekehrt.« Die »Krise stellt den Fallpunkt dar nach 30 Jahren atemberaubenden Wachstums und kümmerlicher Kapitalwertschöpfung, auf die mit breitester Finanzialisierung reagiert wurde.« Damit bewegt sich Giacché im breiten Strom marxistischer Ökonomen, die alle den Begriff der »Finanzialisierung« in den Mittelpunkt stellen, um damit den besonderen Charakter der heutigen Krise herauszustellen. Er unterscheidet sich damit zugleich von jenen, die sie nur als eine »stinknormale« bzw. lediglich als Ergebnis des Gesetzes des Falls der Profitrate deuten, für die es also nichts Neues unter der Sonne gibt.

Kapitalströme

Für Giacché besteht das Neue vor allem in der Art und Weise, wie die Krise innerhalb der Euro-Zone gemanagt wird. Er nimmt Partei für die Länder des Südens, wenn er schreibt, daß »mit der Ausnahme von Griechenland alle europäischen Länder, die an zu hohen Staatsschulden leiden, in den zehn Jahren vor der Krise 2007 ihre Bilanzen im Griff (hatten)«. Ihre heute hohen öffentlichen Schulden seien vielmehr »ein Derivat. Einerseits sind sie eine Folge der Krise, andererseits rühren sie vom tiefen Ungleichgewicht zwischen den europäischen Ländern her. Der Euro hat dieses Ungleichgewicht nicht nur nicht korrigiert, sondern sogar noch verschärft.« Verschärft wurde es durch die enormen Kapitalflüsse, die, begünstigt durch die gemeinsame Währung, seit 2000 zu sinkenden Zinsen und dadurch für einen Boom, einschließlich großer Immobilienblasen, in der Peripherie sorgten. Nach 2007 begannen »die Zuflüsse ausländischer Kapitalströme (besonders deutsche und französische) in einige Länder (…) auszutrocknen«. Die Folgen waren dramatisch: »Im August 2012 haben die deutschen Banken ihre Auslandsaktivitäten um 300 Milliarden reduziert, gegenüber dem Höchstwert von 520 Milliarden in 2008; die Franzosen um 250 Milliarden gegenüber über 700 Milliarden in 2008.« Wir haben es also mit den bereits von Rudolf Hilferding und Lenin in ihren Imperialismusanalysen dargestellten Folgen der Kapitalexporte aus starken in ökonomisch schwache Länder zu tun. Leider erwähnt Giacché die beiden Theoretiker an keiner Stelle. Giacché spricht aber von einem »interimperialistischen Konflikt« und der »neokolonialen Unterwerfung innerhalb der einzelnen Währungsgebiete«, der in Europa dem Muster der Eingliederung der DDR in den westdeutschen Kapitalismus folgt.

Auch für Giacché stellt sich die Frage »Was tun?« Zur Krisenlinderung setzt er auf die von seinem Landsmann Mario Draghi geführte Europäische Zentralbank (EZB): »Die EZB muß als Kreditgeber in letzter Instanz herhalten«, was sie mittels Geldschwemme und einem Leitzins nahe null inzwischen auch leistet. Genüsslich beschreibt der Autor bei der Durchsetzung des EZB-Kurses das Scheitern der Deutschen Bundesbank unter ihrem Präsidenten Jens Weidmann: »Die unnachgiebige Linie der Bundesbank, welche die Krisenstaaten der Euro-Zone um jeden Preis den Märkten überließ, wurde aufgeweicht.«

Falle vermieden

Da aber auch dieses Vorgehen der EZB »die strukturellen Probleme nicht lösen (kann)«, sondern nur einen Ausweg aus der Notlage ermöglicht«, setzt Giacché darüber hinaus auf keynesianische Antworten. Die entsprechenden Kapitelüberschriften lauten: »Schulden werden nicht durch Sparen abgebaut, sondern durch Investitionen« und »Die Rolle des Staates in der Wirtschaft sollte steigen, nicht sinken«. Er fordert zudem, über Keynes hinauszugehen: »In strategischen Wirtschaftsbereichen, wie Bank- und Finanzsektor, Telekommunikation und Energie, ist die direkte Präsenz des Staates erforderlich für die Richtungsbestimmung der Investitionen und der Wirtschaftsentwicklung.« In China sieht er das Vorbild für diese »ganzheitliche Entwicklungsstrategie«. Er übersieht dabei jedoch, daß dieses Modell auf ein von imperialistischen Staaten dominiertes Europa nicht übertragbar ist, liegt doch in China die politische und damit auch die wirtschaftspolitische Macht, anders als hier, nicht in den Händen einer Bourgeoisie.

Es fragt sich daher, ob die vom Autor befürwortete »Neuaufnahme der Wirtschaftsentwicklungsplanung gegenüber der Unfähigkeit und Zerstörung der Marktdynamiken«, gepaart mit einer aktiveren EZB, nicht mehr ist als die Etablierung eines neuen Regimes supranationaler staatsmonopolistischer Regulierung? Dieses handelt im kapitalistischen Gesamtinteresse und ist allemal zeitgemäßer als die marktgläubige Linie der Bundesbank.

Bei seinen Vorschlägen tappt Giacché zumindest nicht in die Falle, »mehr Europa« zu verlangen, wie es heute Sozialdemokraten, Grüne aber leider auch Vertreter der Partei Die Linke fordern. »Was in Europa not tut, (ist) nicht eine politische Union«, so der Autor. Sie sei nicht möglich, »weil sie auf den sozialen Voraussetzungen der historisch gewachsenen europäischen Konstruktion ruht. Wenn diese Voraussetzungen nicht geändert werden, dann führt auch ein eventueller Vorwärtsschritt zur politischen Union nicht auf den richtigen Weg, sondern könnte im Gegenteil eine weitere gefährliche Flucht nach vorn bedeuten.« Und eine solche würde geradewegs zur Kollision mit dem Eisberg und zum unweigerlichen Sinken der »Titanic Europa« führen.

Vladimiro Giacché: Titanic Europa - Geschichte einer Krise. Zambon-Verlag, Frankfurt am Main 2013, 174 Seiten, 10 Euro

 

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