Heiße Luft
Gemeinsames Positionspapier: SPD wirbt mit DGB »für ein Europa des sozialen Fortschritts«. Im EU-Parlament wollen Sozialdemokraten von Sozialprotokollen nichts wissen
Da ist er nun wieder: Der berühmte »Schulterschluss« zwischen SPD und DGB. Rechtzeitig vor Beginn der heißen Phase des Europawahlkampfes legten beide Organisationen ein gemeinsames Positionspapier »Für ein Europa des sozialen Fortschritts« vor. »Wirtschaft und Soziales sind keine Gegensätze, sondern stützen und stärken sich wechselseitig«, heißt es dort gleich am Anfang. Nun, wie dieses »wechselseitige Stützen und Stärken« in der Realität aussieht, das erleben die in der Krise zu Zehntausenden Entlassenen gegenwärtig hautnah. Deshalb demonstrieren sie an diesem Sonnabend in Berlin. Wie ein Hohn muss ihnen daher dieses sozialpartnerschaftliche Gerede vorkommen.
SPD und DGB wollen mit dem Papier »soziale Ziele und Grundrechte im europäischen Binnenmarkt stärken«. Anlass dafür gibt es in der Tat genug. Zahlreiche Bestimmungen zum Schutz der abhängig Beschäftigten sind in letzter Zeit vom Europäischen Gerichtshof für rechtswidrig erklärt worden. Dafür stehen die Namen der Rechtssachen Viking, Laval, Rüffert und zuletzt Luxemburg. Das unter großen Opfern erkämpfte Streikrecht sowie zentrale Mechanismen des sozial- und arbeitspolitischen Ausgleichs in den EU-Mitgliedsländern werden mit diesen Urteilen unterminiert. Stattdessen bewertet der Europäische Gerichtshof die marktradikalen Grundfreiheiten der Dienstleistungs-, Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit als vorrangig gegenüber diesen sozialen Rechten.
Als Antwort auf diese gefährliche Entwicklung legt der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) den Vorschlag für ein Protokoll zum »sozialen Fortschritt« vor. Es sind Zweifel berechtigt, ob mit einem solchen bloßen Protokoll die Grundfreiheiten des Binnenmarktes, die eigentliche Verfassung der EU, überhaupt infrage gestellt werden können. Auch über die konkreten Vorschläge von SPD und DGB, wie nun dieses Protokoll zum »sozialen Fortschritt« wirksam werden kann, muss man sich sehr wundern. Im gemeinsamen Papier heißt es dazu: »Im Primärrecht muss durch eine soziale Fortschrittsklausel klargestellt werden, dass die EU nicht nur dem wirtschaftlichen, sondern auch dem sozialen Fortschritt verpflichtet ist.« Und: »Eine soziale Fortschrittsklausel sollte in Form eines rechtlich verbindlichen Protokolls zum sozialen Fortschritt Bestandteil der Europäischen Verträge werden.« Doch genau jene Europäischen Verträge sollen ja gegenwärtig mit Hilfe des Lissabonner Vertrags geändert werden. Und in diesem Papier fehlt natürlich dieses Sozialprotokoll. Eine Chance für ein solches Protokoll hatte kurzzeitig im Sommer 2005 bestanden. Damals scheiterte die mit dem Lissabonner Vertrag so gut wie identische Europäische Verfassung in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden. In ihrer Not erwog sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dem Vertrag eine Erklärung zur »sozialen Dimension Europas« anzufügen. SPD und DGB ließen diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen. Die Sozialdemokraten empörten sich vielmehr über die »Uneinsichtigkeit« der Franzosen und Niederländer, die mit ihrem Nein den Fortgang der europäischen Integration gefährdet hätten.
Doch dank des Votums des irischen Volks im Frühjahr 2008 ist der Lissabonner Vertrag noch nicht in Kraft getreten. Es gibt die Hoffnung, dass er am Ende doch noch scheitern könnte. Würden es daher SPD und DGB mit ihrem Vorschlag ernst meinen, so müssten sie die irische Bevölkerung händeringend bitten, dem Vertrag in der für Oktober angesetzten Wiederholung der Abstimmung das Ja zu verweigern. Eine solche Einsicht käme denkbar spät, aber sie könnte vielleicht noch etwas bewirken.
Doch zumindest die SPD meint es alles andere als ernst mit dem Papier. Während sie den Gewerkschaften einerseits Hoffnung auf eine verbindliche Regelung macht, tritt sie zugleich und vehement für den Lissabonner Vertrag ein. Und natürlich weiß man im Willy-Brandt-Haus, dass nach Annahme des Vertrags eine weitere Revision der Grundlagen der EU in den kommenden zehn oder gar zwanzig Jahren nicht zu erwarten ist. Es ist also lediglich heiße Luft, die hier produziert wird. Heiße Luft, da völlig unverbindlich, ist auch die Forderung nach einer »gemeinsamen Vereinbarung von Europäischem Parlament, Kommission und Rat, mit der sich diese auf den sozialen Fortschritt verpflichten«. Nicht ernst zu nehmen ist auch die Aussage, dass »der SPD-Kandidat Martin Schulz im Falle seiner Ernennung als Kommissar diese Forderungen auch mit Nachdruck in die praktische Politik der Europäischen Kommission einbringen wird«.
Im Oktober 2008 hatte es für die Sozialdemokraten im Europäischen Parlament einmal die Chance gegeben, mehr als heiße Luft zur sozialen Dimension Europas zu produzieren. Damals wurde der Andersson-Bericht abgestimmt, in dem das Parlament Stellung zu den fatalen Urteilen des Europäischen Gerichtshofes nahm. Die Linksfraktion im EP stellte einen Änderungsantrag, wonach »im Primärrecht der Vorrang sozialer Grundrechte vor den wirtschaftlichen Freiheiten des Binnenmarktes erneut festgestellt« werden sollte. Doch diesen Antrag lehnten seinerzeit fast alle Sozialdemokraten im Parlament ab, auch die deutschen Sozis stimmten mit Nein, unter ihnen Martin Schulz, der Spitzenkandidat der SPD bei den Eurowahlen und der zukünftige Kommissar, der die sozialen Belange »mit Nachdruck« in die Europäische Kommission einbringen soll.
Was die Rolle des DGB bei dieser Komödie um das gemeinsame Papier angeht, so brachte Martin Behrsing, der Sprecher des Erwerbslosen Forums Deutschland, die Kritik auf den Punkt: »Für den Schröder-Freund Michael Sommer scheint in Vergessenheit geraten zu sein, dass ausgerechnet die SPD in Deutschland maßgeblich die jetzige Misere in der Sozial- und Wirtschaftspolitik zu verantworten hat.«
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