Grundfragen nicht ignorieren

Am 5. Oktober 2013 wurde das Marx-Engels-Zentrum (MEZ) in der Spielhagenstraße 13 in Berlin-Charlottenburg eröffnet. Ein Turnus mit Vorträgen, Seminaren und kulturellen Veranstaltungen ist beendet und die neue »Spielzeit« beginnt. Wie sieht die erste Bilanz aus?

Marianna Schauzu: Wir können durchaus zufrieden sein, man kann sagen, dass das MEZ gut angenommen wurde. Es gab 27 Veranstaltungen unterschiedlichster Art, allerdings auch mit sehr unterschiedlicher Resonanz. Etwa 280 Gäste haben inzwischen das MEZ kennengelernt, insgesamt lag die Teilnehmerzahl bei etwa 660 – das ist für das erste Jahr positiv.

Das MEZ wurde von Ihnen gegründet und gedacht war, nach den Erläuterungen bei der Eröffnung, aus ihm eine Art Berliner Filiale beziehungsweise Kooperationspartner der Marx-Engels-Stiftung Wuppertal zu machen, aber mit einem eigenständigen Programm. Wie hat sich das entwickelt?

Marianna Schauzu: Mit der Marx-Engels-Stiftung Wuppertal arbeiten wir eng zusammen. So führen wir einige unserer Veranstaltungen in Kooperation mit ihr durch. Unser Ziel ist es darüber hinaus, eine kontinuierliche marxistische Bildungsarbeit zu leisten. Das haben wir auch erfolgreich begonnen, mussten aber feststellen, dass das nicht ganz einfach ist. Wir hatten als Vorbild die Marxistischen Arbeiterschulen (MASCH) der Weimarer Zeit. Aber es gibt heute nur noch wenige Institutionen, in denen noch so gearbeitet wird, und so gibt es auch nur noch wenig, woran man sich orientieren kann. Aber wir sind dennoch auf einem ganz guten Weg. Im März hatten wir etwa ein gut besuchtes Wochenendseminar zu Grundfragen der Politischen Ökonomie mit dem Titel »›Das Kapital‹ lesen«. Daran schloss sich ein zehnwöchiger »Kapital«-Lesekurs unter der Leitung von Helmut Dunkhase an. Die Gruppe war hochmotiviert und blieb über die Monate hinweg zusammen. Wir werden diese Schulung im Frühjahr 2015 erneut anbieten. Im kommenden Monat beginnen wir mit einem Kurs zu den Grundlagen des Marxismus, d.h. zu Philosophie, Politischer Ökonomie und Politik. Am Anfang wird die Schrift von Friedrich Engels »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« stehen. Dem schließt sich im nächsten Jahr eine Seminarreihe zur marxistischen Philosophie an, wobei Friedrich Engels’ Arbeit »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie« gelesen wird, gefolgt von einem Ökonomiekurs mit dem Text »Lohn, Preis und Profit« von Karl Marx. Wir möchten mit diesen Angeboten vor allem Jüngere ansprechen, da sie heute weder an Schulen noch an Universitäten einen objektiven Zugang zum Marxismus erhalten. Diese Seminare sind der ehrgeizigste Teil unseres Vorhabens, und wir hoffen sehr auf die Fortsetzung des Erfolges mit dem »Kapital«-Seminar.

junge Welt hat im vergangenen Jahr eine Leserumfrage durchgeführt. Wir waren sehr erstaunt, ein wie großer Teil der Befragten sich wünschte, mehr Studienmaterial und Texte zur marxistischen Bildung in der Zeitung zu lesen. Das Bedürfnis scheint also da zu sein. Zeigt sich das im MEZ, genauer: Wer besucht es und nimmt an solchen Bildungsveranstaltungen teil? Geht das über Organisationen?

Marianna Schauzu: Nein, eher nicht. Wir annoncieren viele Veranstaltungen über Zeitungen wie jW und haben einen großen E-Mail-Verteiler sowie die MEZ-Website www.mez-berlin.de mit der Möglichkeit, sich dort zu informieren und anzumelden. Und es spricht sich langsam herum, dass es solch einen Ort wie das MEZ gibt. Die Herkunft der Besucher ist sehr unterschiedlich. Da gibt es Teilnehmer am »Kapital«-Kurs, die bereits Philosophie studiert haben oder marxistisches Wissen aus der Schule in der DDR mitbringen. Aber es gibt auch solche, die für sich herausgefunden haben, dass die Welt nicht in Ordnung ist, so wie sie ist, und eher zufällig auf das MEZ stoßen.

Sie haben über das erste MEZ-Jahr eine statistische Bilanz angefertigt, aus der hervorgeht, daß die kulturellen Veranstaltungen sehr unterschiedlich stark besucht wurden. Haben Sie eine Vorstellung, wie dieser Programmteil systematischer eingegliedert werden kann?

Andreas Wehr: Der Besuch bei kulturellen Veranstaltungen war manches Mal sehr gering, und wenn wir nachfragten warum, stellte sich heraus, dass z.B. Namen wie Julius Fucik oder Elfriede Brüning bei unserem Publikum hier im Berliner Westen praktisch unbekannt sind. Wir hatten aber auch den westdeutschen Autor Erasmus Schöfer bei uns, der mehr Gäste anzog. Wir wollen aber unbedingt dabei bleiben, Menschen, die in der DDR einen Namen hatten, auch hier bekannt zu machen.

Sie haben das MEZ im alten Westberlin eröffnet. Nach dem Besuch einiger Veranstaltungen würde ich sagen, daß Sie auch Publikum aus Ostberlin hier haben, während der jeweilige Standort ansonsten durchaus eine Rolle spielt, welchen Teil der Stadt man erreicht. Bei welchen Themen klappt das mit dem Publikum aus Ost und West?

Marianna Schauzu: Im Grunde bei uns immer. Für Ostberliner ist es zwar etwas weit nach Charlottenburg, aber wenn es sie interessiert, sind sie hier. Wir haben das MEZ bewusst im Westen gegründet, denn die meisten Bildungseinrichtungen ähnlicher Art befinden sich im Osten der Stadt. Hier in Charlottenburg gab es mit dem Sozialpolitischen Arbeitskreis bei der Partei Die Linke eine Art Vorläufer. Schon dort war es mein Anliegen, eine Art Bildungsarbeit zu gestalten. Was uns damals fehlte, waren Kapazitäten, um das systematisch und in einem eigenen Raum zu leisten. Das haben wir jetzt mit dem MEZ. Für die Standortwahl kam hinzu: Hier in dieser Gegend von Charlottenburg war die Arbeiterbewegung einmal sehr stark, das war der »Rote Kiez«. In unserer ersten Veranstaltung nach der Sommerpause am 5. September machen wir darauf aufmerksam: Jan Petersens Roman »Unsere Straße« über den Arbeiterwiderstand zu Beginn der faschistischen Herrschaft spielte hier nur eine Straße weiter, in der Wallstraße, der heutigen Zillestraße. Am 13. September organisieren wir einen Stadtrundgang zu den Orten antifaschistischen Widerstands in diesem Bezirk.

Der Akzent im MEZ liegt aber auf klassischer Bildungsarbeit. Wie soll das ohne Unterstützung durch Organisationen oder Parteien funktionieren?

Andreas Wehr: Wir haben einen ökumenischen linken Anspruch, d.h. wir sind mit keiner Partei, keiner Bewegung direkt verbunden. Wir sind aber dennoch in einem politischen Sinne »parteiisch«. So sind wir etwa der Meinung, wenn eine andere Gesellschaftsordnung gebraucht wird, dann muss mit der bisherigen gebrochen werden, was wiederum harte Maßnahmen in der Ökonomie einschließt, z.B. die Vergesellschaftung der Monopole. Das heißt: Eine Transformation, die quasi geräusch- und widerstandslos den Kapitalismus in den Sozialismus verwandelt, wird es nicht geben. Wir sprechen deshalb im MEZ auch immer wieder über ökonomische Ursachen und den bestehenden Imperialismus und darüber, was zu seiner Bekämpfung getan werden kann. Wir stellen ein wachsendes Bedürfnis fest, sich mit solchen Grundfragen marxistischer Politik wieder zu beschäftigen und sich nicht länger mehr mit Floskeln abspeisen zu lassen. Mit anderen Worten: Wir wollen Grundfragen nicht ignorieren. Man nennt uns daher manches mal Traditionalisten, aber darauf sind wir stolz.

Die Fragen stelle Arnold Schölzel

 

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