Geniale Täuschung

 

Analyse. Wie das Finanzkapital regiert. Über die Schlussfolgerungen, die die Europäische Union aus der Krise zieht

Es war eine peinliche Lage, in die die spanische Ministerin für Wirtschaft und Finanzen, Elena Salgado, da geraten war. Als amtierende Präsidentin des Europäischen Rats für Wirtschaft und Finanzen hatte sie am 3. Mai 2010 vor einem Ausschuss des Europäischen Parlaments Auskunft über das am 11. April 2010 beschlossene »Rettungspaket« für Griechenland zu geben. Das Maßnahmenbündel hat eine Dimension von 110 Milliarden Euro und sieht vor, dass bis zu dieser Obergrenze das Land Kredite von anderen Euro-Ländern erhalten kann. Ende April erklärte sich Griechenland für faktisch zahlungsunfähig und verlangte nach Hilfszahlungen, die Athen seitdem in einzelnen Raten erhält.

Nachdem Frau Salgado ihr Statement verlesen hatte, kam es zur Fragerunde. Ein Abgeordneter verlangte zu erfahren, auf welcher rechtlichen Grundlage eigentlich der Rat entschieden habe. Schnell wurde der Ministerin die Nummer des entsprechenden Paragraphen zugeflüstert. Doch auf die Nachfrage, was darin genau stehe, musste sie passen. Ein Vertragstext war nicht zur Hand. Eilig wurde ein Sekretär danach geschickt. Die Beantwortung der Frage wurde zurückgestellt. War all dies schon peinlich genug, so wurde es für Frau Salgado erst recht unangenehm, als sie den entsprechenden Wortlaut vorlas. Es handelte sich um den Artikel 122 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (VAEU): »Ist ein Mitgliedstaat aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission beschließen, dem betreffenden Mitgliedstaat unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren. Der Präsident des Rates unterrichtet das Europäische Parlament.« Der im letzten Satz enthaltenen Verpflichtung war Frau Salgado mit ihrem Auftritt im Parlamentsausschuss demnach gerade nachgekommen.

Garantierte Renditen

Die Abgeordneten glaubten, sich verhört zu haben. Der finanzielle Notstand eines Landes solle eine »Naturkatastrophe oder außergewöhnliches Ereignis, das sich seiner Kontrolle entzieht« sein? Einige Parlamentarier lachten, andere zeigten sich verlegen. Selbst einem juristischen Laien war sofort klar: Hier lag eindeutig eine Überdehnung des Vertrags, wenn nicht gar eine Rechtsbeugung vor.

Wenige Tage nach diesem denkwürdigen Auftritt von Frau Salgado wurde dieser Artikel 122 Absatz 2 VAEU erneut für einen Beschluss herangezogen. Am 7. Mai 2010 beschloss der Europäische Rat den sogenannten Rettungsschirm für alle Länder der Euro-Zone in Höhe der nicht gerade kleinen Summe von 750 Milliarden Euro. Bis zum Jahr 2013 können danach in Not geratene Euro-Länder diese Sicherheit mit dem Namen »Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus« (EFSF) nutzen. Den Banken, Versicherungen und Pensionsfonds aus Kerneuropa, die Hunderte Millionen Euro in die europäischen Peripheriestaaten verliehen haben und nun um deren Rückzahlung fürchten, wurde mit den Beschlüssen vom 11. April und vom 7. Mai 2010 mitgeteilt: Ihr könnt ruhig fortfahren, die Renditen von Staatsanleihen für Griechenland, Portugal, Irland, Spanien und anderen Ländern der Euro-Zone immer weiter in die Höhe zu treiben. Ein Ausfallrisiko entsteht euch dabei nicht, denn ein bedrängter Staat wird nicht Bankrott anmelden müssen, dafür garantieren wir, die übrigen Euro-Länder.

Vertrag soll geändert werden

Monate später, vom 28. bis 29. Oktober 2010, trat der Europäische Rat erneut zusammen. Diesmal ging es um die vorläufigen Schlussfolgerungen, die für die EU aus der Wirtschafts- und Finanzkrise zu ziehen sind. Im Beschlusstext heißt es: Die Staats- und Regierungschefs sind sich darin einig, »dass die Mitgliedstaaten einen ständigen Krisenmechanismus zur Wahrung der Finanzmarktstabilität im gesamten Euro-Währungsgebiet einrichten müssen, und ersuchen den Präsidenten des Europäischen Rates, mit den Mitgliedern des Europäischen Rates Konsultationen über eine begrenzte Vertragsänderung zu führen, die hierzu erforderlich ist, wobei Artikel 125 VAEU (›no bail out‹-Klausel) nicht zu ändern ist«.1

Die Notwendigkeit der Einrichtung eines solchen ständigen Krisenmechanismus ergibt sich aus dem Umstand, dass sowohl das »Rettungspaket« für Griechenland als auch der Schirm für die Euro-Zone nur bis 2013 befristet sind. Und da nicht zu erwarten ist, dass sich bis dahin die Probleme Griechenlands oder die anderer Euro-Staaten gelöst haben, ist es höchste Zeit, über Nachfolgeregelungen nachzudenken. Sollten dafür Vertragsänderungen erforderlich sein, so ist die verbleibende Zeit sogar ausgesprochen knapp, schließlich dauerte die letzte, 2010 mit dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags zu Ende gegangene Vertragsänderung gut zehn Jahre.

In den Schlussfolgerungen des Rates werden die zur Schaffung eines ständigen Krisenmechanismus notwendigen Vertragsänderungen nicht näher beschrieben. Es ist aber jener Artikel 122 Absatz 2 VAEU, der zur Änderung ansteht. Er soll so umformuliert werden, dass zukünftig mit dem Verweis auf ihn finanzielle »Rettungspakete« und »Rettungsschirme« für strauchelnde Staaten in Finanzkrisen ohne weiteres möglich sind. Diese relativ kleine Vertragsänderung glaubt man bis zum Auslaufen der Hilfspakete 2013 unter Dach und Fach zu bekommen. Man denkt dabei an die Anwendung des vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens. Dabei muss weder ein Konvent noch eine Regierungskonferenz die Änderungen ausarbeiten, sie werden vielmehr allein einstimmig vom Europäischen Rat beschlossen. Zur Ratifizierung in den Mitgliedsländern reicht die Zustimmung der nationalen Parlamente aus. So erhofft man, zeitraubende und in ihrem Ausgang ungewisse Volksabstimmungen vermeiden zu können.

Um einen ständigen Krisenmechanismus etablieren zu können, müsste eigentlich auch Artikel 125 VAEU aufgehoben werden. In dieser Bestimmung ist das sogenannte Bail-out-Verbot festgelegt, wonach weder die EU noch die anderen Mitgliedstaaten für die Verbindlichkeiten eines Mitgliedslandes haften. Doch darauf glaubt man aus juristischen Gründen verzichten zu können, da ein geänderter Artikel 122 VAEU dieses Bail-out-Verbot relativiert. Deshalb haben die Staats- und Regierungschefs auf dem Ratsgipfel in den Schlussfolgerungen ausdrücklich festgehalten, dass bei der vorgesehenen »begrenzten Vertragsänderung (…) Artikel 125 VAEU (›no bail out‹-Klausel) nicht geändert« wird.

Juristischer Druck

Die vor allem von der deutschen Bundesregierung angestrebte Vertragsänderung hat einen innenpolitischen Hintergrund. Gegen das am 21. Mai 2010 vom Deutschen Bundestag angenommene »Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetz«, mit dem das Parlament seine Zustimmung zum 750-Milliarden schweren »Rettungsschirm« gegeben hatte, ist Klage vor dem Bundesverfassungsgericht eingelegt worden. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Verhinderung dieses Gesetzes wurde zwar abgelehnt, die Entscheidung in der Hauptsache steht aber noch aus.2 Die verlangte Vertragsänderung ist daher vor allem eine deutsche Angelegenheit: »Nach Ansicht vieler Mitgliedstaaten wird inhaltlich nur der Status quo – also der Rettungsschirm – fortgeschrieben. Deshalb halten sie eine Vertragsänderung für überflüssig. Das Beharren der Bundesregierung auf einer Anpassung der Verträge erklärt sich mit möglichen Vorbehalten des Bundesverfassungsgerichts gegen eine deutsche Beteiligung an Hilfsaktionen. Es ist offen, wie das Gericht die anhängigen Klagen gegen den Schirm bewertet. Nach Berliner Einschätzungen wäre eine Hilfsaktion von 2013 an juristisch unbedenklich, wenn sie sich auf einen geänderten Vertrag stützen könnte«. (FAZ vom 30.10.2010)

Eine Verwerfung des »Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetzes« durch das Bundesverfassungsgericht würde den Rettungsschirm für die Euro-Staaten durchlöchern, zumindest aber eine Fortschreibung dieser Praxis über 2013 hinaus unmöglich machen. Als Folge davon stünden Banken, Versicherungen und Pensionsfonds im Regen. Sie haben an die Defizitländer reichlich Kredit zu horrenden Zinsen in der festen Annahme verliehen, dass die anderen Euro-Staaten im Falle eines Falles dafür schon bürgen werden. Fällt diese Bürgschaft weg, so müssten sie sich auf einen dann notwendigen Forderungsverzicht einlassen. Die Bankenkrise wäre damit wieder in die kerneuropäischen Staaten, und hier vor allem nach Deutschland zurückgekehrt. All das kann die schwarz-gelbe Bundesregierung nicht gebrauchen, schon gar nicht im Jahr der Bundestagswahl 2013!

Inszenierung zum Stabilitätspakt

Für die deutschen Medien war die Ende Oktober erfolgte Verständigung des Brüsseler Ratsgipfels auf diese kleine Vertragsänderung hingegen ein Misserfolg: »Bekommen hat Frau Merkel nur das Linsengericht einer marginalen Änderung der EU-Verträge. Das feiert die Bundesregierung schönfärberisch als Durchbruch.« (FAZ vom 30.10.2010) Doch eine solche Kritik ist nur dann berechtigt, unterstellt man, dass die vor dem Gipfel erhobenen Forderungen der Bundesregierung nach sehr viel weitergehenden Vertragsänderungen wirklich ernst gemeint waren. Doch genau das ist zu bezweifeln.

An vielfältigen Forderungen nach einschneidenden Maßnahmen gegen »Defizitsünder«, ja nach ihrer harten Bestrafung hatte es tatsächlich nie gefehlt. Und hier tat sich besonders Berlin hervor. Am 19. Mai 2010 hatte die Bundesregierung ein Eckpunktepapier vorgestellt, in dem für Schuldnerstaaten die Blockierung bzw. Streichung europäischer Mittel, die Suspendierung ihres Stimmrechts und schließlich sogar deren Aberkennung gefordert wurde. Selbst die Möglichkeit des Ausschlusses eines Landes aus der Euro-Zone wurde erwogen.3 Damit entsprach man den Forderungen neoliberaler Ordnungspolitiker, wie sie etwa in dem Positionspapier »Zehn Regeln zur Rettung des Euro« enthalten waren. Dort hieß es u. a.: »Die Strafen können nichtpekuniäre Elemente enthalten wie zum Beispiel den Entzug von Stimmrechten.«4 Besonders eine Verfahrensänderung war führenden Medien und herrschender Wirtschaftswissenschaft wichtig: Jegliche Strafen für die »Sünder« sollten automatisch in Kraft treten, ohne ein Zutun der Politik. Für die Zukunft sollte unbedingt gelten, dass kein politisches Gremium, vor allem nicht der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer, über Sanktionen mehr mitentscheiden darf. Dahinter steckt der Wunsch, den Euro als »unpolitisches Geld«, das heißt als nur von den Kapitalmärkten abhängige Währung zu behandeln, wie es Otmar Issing, der ehemalige Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, Preisträger der Friedrich August von Hajek-Stiftung und heute Berater von Banken, einmal so treffend formuliert hatte.5 Noch im September wurde diese Forderung wiederholt: »So unpolitisch wie nötig« lautete am 29.9.2010 die Überschrift und zugleich die Empfehlung eines Kommentars der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Die Bundesregierung hat auf diese Stimmungen Rücksicht zu nehmen. Spätestens mit der Entscheidung über das »Rettungspaket« für Griechenland ist die Fragilität der Euro-Zone für jeden sichtbar geworden. Offen wird in Politik und Medien vor der Schaffung einer »Transferunion« gewarnt, wobei meist verschwiegen wird, dass es hier um einen Transfer von Finanzmitteln zugunsten des Finanzkapitals und nicht etwa zum Wohl des griechischen Volkes geht. Eine solche Transferunion wird nicht zuletzt in den Regierungsparteien CDU/CSU und FDP abgelehnt.

Die Bundesregierung war daher gehalten, auf europäischer Ebene vorsichtig vorzugehen. Man wählte hierfür eine Taktik, die bereits im Frühjahr 2010, vor der Beschlussfassung über das »Rettungspaket« für Griechenland und kurz danach über den Rettungsschirm, erfolgreich war. Damals beharrte Berlin solange, wie es irgendwie möglich war, auf Maximalpositionen. Frau Merkel ließ sich monatelang als »eiserne Kanzlerin« und als »Madame No« in Deutschland feiern. Erst im allerletzten Augenblick lenkte man mit dem Verweis darauf ein, dass sich die eigenen richtigen Forderungen leider als nicht durchsetzbar – insbesondere gegenüber Frankreich – erwiesen hatten.

Mit verteilten Rollen

Auch diesmal ließ sich Frau Merkel lange bitten. Und wieder war es der französische Staatspräsident, der ihr beim gesichtswahrenden Einlenken half. Am Rande des Treffens der Regierungschefs Frankreichs, Russlands und Deutschlands am 18. Oktober 2010 in Deauville an der französischen Atlantikküste verzichtete die Bundesregierung in einem klassischen Deal auf automatisch wirksame Sanktionen zum Preis, dass Paris einer Vertragsänderung zustimmt. Übrigens funktioniert dieser deutsch-französische Mechanismus des Gebrauchs der jeweils anderen Seite zur Räumung eigener Positionen auch umgekehrt. Die lange von der französischen Finanzministerin Christine Lagarde hochgehaltene Forderung nach Lohn­erhöhungen in Deutschland als Mittel zur Senkung des hohen deutschen Leistungsbi­lanzüberschusses ließ man in Frankreich am strikten deutschen Nein scheitern.

In diesem Spiel der gegenseitigen Schuldzuweisung ist immer nur schwer zu unterscheiden, wo es sich nur um eine Inszenierung handelt und wo der Ernst beginnt. Bei der geforderten Verschärfung der Sanktionsmöglichkeiten wurde diesmal offensichtlich viel von deutscher Seite aus inszeniert. Dazu gehörten wohl der geforderte Automatismus bei Strafen und die Aussetzung der Zahlungen europäischer Hilfsgelder. Und mit Sicherheit waren die Möglichkeit der Suspendierung des Stimmrechts im Rat oder gar der Ausschluss eines Defizitlandes aus der Euro-Zone von Beginn an nicht ernst gemeint.

Doch wie in jeder guten politischen Inszenierung gehört zu ihr, dass möglichst viele an sie glauben. Und diesmal waren es besonders viele. Da ist zunächst der immer ein wenig begriffsstutzige EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung, Olli Rehn, zu nennen. Er hatte lange angenommen, Berlin stünde hinter seinen Bemühungen, Strafen unter weitgehender Umgehung des Rates durchsetzen zu können. Nach der Einigung von Deauville zog er es erst einmal vor, betreten zu schweigen. Düpiert fühlten sich die erzneoliberale schwedische Regierung und vor allem der luxemburgische Premierminister und Vorsitzende der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker. Über eine verbitterte Auslassung von ihm vor Europarlamentariern konnte man lesen: »Merkel habe einerseits ›den falschen Eindruck schinden wollen‹, sie fordere mit der Verstetigung des Euro-Rettungsschirms etwas in der EU Umstrittenes. Andererseits habe sie mit dem Verzicht auf den Automatismus in Defizitverfahren leichtfertig etwas aufgegeben, was für die ›sonst so orthodoxen deutschen Verteidiger der Stabilität‹ sehr wichtig sei. Diese ›mit Talent inszenierte‹ deutsche Verhandlungstaktik ›kann einen schon verstimmen‹.« (FAZ vom 9.11.2010) Rein gar nichts begriffen hatten wieder einmal die Europaabgeordneten von FDP bis Grünen. So zeigte sich die Parlamentsvizepräsidentin Silvana Koch-Mehrin (FDP) ganz empört über die Kanzlerin: »Sie hatte den deutschen Steuerzahlern klipp und klar versprochen: Deutschland gibt Griechenland Milliardenhilfen, dafür wird aber der Stabilitätspakt zum Euro verschärft. Dieses Versprechen hat Merkel gebrochen.« (Die Welt vom 20.10.2010). Der CDU-Europaabgeordnete Werner Langen ließ verlauten, die »von Berlin und Paris verabredete ›Aufweichung des von der EU-Kommission vorgeschlagenen Quasi-Automatismus bei Sanktionen‹ werde im Europaparlament kritisch gesehen«. (Frankfurter Rundschau vom 20.10.2010) Und selbst der Europaabgeordnete der Grünen und ATTAC-Aktivist Sven Giegold zeigte sich enttäuscht und »kündigte ›weitreichende Verschärfungen‹ an«. (Süddeutsche Zeitung vom 20.10.2010) Die Medien schäumten: »Mit einem rechtlichen Kniff, durch den eine aufwendige Änderung der EU-Verträge nicht mehr nötig sein soll, stimmte Frau Merkel die EU-Partner gnädig. Der eindeutig formulierte Artikel 125 der EU-Verträge, der die Haftung eines Landes für die Schulden eines anderen (›Bail-out‹) verbietet, wird nicht angetastet. Dafür soll der Artikel 122 überdehnt werden. (…) Mit so etwas wie ›Zahlungsunpässlichkeit‹ soll also der klare Haftungsausschluss ausgehebelt werden. Soll das etwa das Bundesverfassungsgericht beruhigen? Das nennt man Chuzpe.« (FAZ vom 30.10.2010)

Vor dem letzten Akt

Genauso wird es jedoch sehr wahrscheinlich kommen. Nach der kleinen Vertragsänderung wird das Bundesverfassungsgericht sein mildes Urteil über das »Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetz« sprechen, und kein Vertreter des Rates muss länger mehr – wie noch Frau Salgado im Mai – vor Scham erröten, wenn er den Artikel 122 Absatz 2 VAEU als Rechtsgrundlage für »Rettungspakete« zitiert. Vor allem aber zählt eines: Das Finanzkapital wird bei der Ausübung seiner üblen Machenschaften auch nach 2013 von staatlicher Seite abgeschirmt.

Doch der letzte Akt der großen Inszenierung steht uns noch bevor. Zur Rechtfertigung ihres Vorgehens hat Frau Merkel wiederholt darauf verwiesen, dass man neben der Vertragsänderung zwei weitere Ziele zur Stabilisierung der Euro-Zone unbedingt erreichen wolle. Es soll eine Konkursordnung für deren Staaten geschaffen werden. Zudem sollen künftig die Gläubiger, Banken, Versicherungen und Pensionsfonds, einen teilweisen Forderungsverzicht mittels eines sogenannten Haircuts leisten. Zu dieser angemahnten Beteiligung der Gläubiger gibt es auch immerhin einen Hinweis in den Schlussfolgerungen des Rates, der allerdings an Unverbindlichkeit kaum zu überbieten ist: »Der Europäische Rat begrüßt die Absicht der Kommission, (…) Vorbereitungsarbeiten zu den allgemeinen Merkmalen eines künftigen neuen Mechanismus durchzuführen, unter anderem zu der Rolle der Privatwirtschaft (…).«6

Zur geforderten Konkursordnung gibt es bisher keine Vorstellungen, wie sie konkret aussehen könnte. Die Europäische Zentralbank ließ bereits verlauten, dass so etwas mit ihr nicht zu machen ist: »Ihr Präsident Jean-Claude Trichet bezeichnete kürzlich die Vorstellung, dass der Euro-Raum die Möglichkeit eines staatlichen Zahlungsausfalls als Option festschreibe, als bizarr und eine Einladung für spekulative Attacken.« (FAZ vom 11.11.2010)

Und was den geforderten Haircut angeht, so konnte man schon bei der eiligen Verabschiedung des nationalen Bankenrettungspakts 2008 Vergleichbares hören, geschehen ist bekanntlich nichts. Inzwischen machen Vertreter der Finanzmärkte jene vage Formulierung in der Schlusserklärung über die Rolle der Privatwirtschaft sogar verantwortlich für die in den letzten Tagen wieder deutlich gestiegenen Renditeforderungen für Staatsanleihen Griechenlands, Portugals und Irlands: »›Gerade hatte sich die Lage beruhigt. Doch die Ende Oktober begonnene Diskussion über die Beteiligung privater Gläubiger an einer möglichen Umschuldung hat alle wieder aufgeschreckt‹, sagte ein Händler einer großen deutschen Bank.« (FAZ vom 11.11.2010).

So ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann auch die Forderungen nach einer Konkursordnung für Defizitstaaten und nach einem Verzicht des Finanzkapitals fallengelassen werden. Damit könnte auch nach diesem letzten Akt der gekonnten Inszenierung der Vorhang fallen.

1 Europäischer Rat vom 28.–29.10.2010, Schlussfolgerungen, EUCO 25/10, CO EUR 18, CONCL 4

2 Vgl. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 9.6.2010, 2BvR 1099/10

3 Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Neue europäische Task Force, Eckpunkte der Bundesregierung zur Stärkung der Euro-Zone, 21.5.2010, www.bundesfinanzministerium.de

4 Clemens Fuest, Wolfgang Franz, Martin Hellwig und Hans-Werner Sinn, Zehn Regeln zur Rettung des Euro, in: FAZ vom 18.6.2010

5 Otmar Issing, Der Euro und die politischen Risiken, in: FAZ vom 6.12.2008

6 Europäischer Rat vom 28.–29.10.2010, Schlussfolgerungen. a. a. O.

 

 

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