Domenico Losurdo über Russland: Teil des globalen Südens
Der Historiker und Philosoph Domenico Losurdo gilt als einer der bedeutendsten und zugleich produktivsten marxistischen Theoretiker der Gegenwart. Er veröffentlichte nicht weniger als 32 Bücher. Und es gibt weitere unveröffentlichte Manuskripte. Seine Bibliografie weist 200 Essays und Artikel auf. Darüber hinaus verfasste er Beiträge für 31 Bücher anderer Autoren. In Deutschland sind seine Werke vor allem im PapyRossa Verlag aber auch beim Argument-Verlag sowie bei VSA erschienen. Übersetzt wurden seine Bücher in zahlreiche Sprachen. Allein das Werk „Freiheit als Privileg – Eine Gegengeschichte des Liberalismus“ erschien in zwölf Sprachen.[1]
Wie keinem anderen gelang es Losurdo, den traditionell engen eurozentristischen Horizont europäischer Marxisten zu überwinden. Geschichte und Gegenwart des globalen Südens waren in seinem Denken und seinen Arbeiten stets präsent. Und so überrascht es nicht, dass er heute in vielen Ländern des Südens, etwa in Brasilien, intensiv gelesen wird. Nirgendwo sonst wurden auch so viele Bücher von ihm verkauft wie in diesem südamerikanischen Land.
Westlicher und östlicher Marxismus
Sein 2017 in Italien veröffentlichtes Buch „Il marxisme occidentale. Come naque, come morì, come può rinascere“ - auf Deutsch 2021 unter dem Titel „Der westliche Marxismus – Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte“ erschienen - hat die Entfremdung zwischen westlichem und östlichem Marxismus zum Gegenstand. Was hat Losurdo unter diesen beiden Marxismen verstanden? „Geboren im Herzen des Westens, hat sich der Marxismus mit der Oktoberrevolution in jeden Winkel der Erde ausgebreitet, wobei er entschieden auch in ökonomisch und sozial weniger entwickelte Länder und Gebiete mit recht unterschiedlicher Kultur eindrang. Mit der jüdisch-christlichen Tradition als Hintergrund schwangen im westlichen Marxismus (…) nicht selten messianische Motive mit (die Erwartung eines 'Kommunismus', mit dem jeglicher Konflikt und Widerspruch verschwinden sollte, damit eine Art 'Ende der Geschichte'). Der Messianismus fehlt hingegen weitgehend in einer Kultur wie der chinesischen, die in ihrer tausendjährigen Entwicklung vor allem durch ihre Aufmerksamkeit für die weltliche und soziale Realität gekennzeichnet ist. Die weltweite Ausbreitung des Marxismus ist der Anfang eines Spaltungsprozesses, der die andere Seite seines aufsehenerregenden Sieges ist.“ [2]
Zu den vom östlichen Marxismus geprägten Staaten zählte Losurdo neben China auch Vietnam sowie Kuba, obwohl sich dieses Land in einer ganz anderen Weltregion befindet und sich seine Führer – zumindest in den ersten Jahren nach der Revolution – stark von messianischen Gefühlen leiten ließen.
Die Überwindung der Spaltung zwischen westlichem und östlichem Marxismus sah Losurdo als zentrale Aufgabe der Linken: „Während sich die Gewitterwolken eines neuen großen Krieges verdichten, erweist sich eine solche Spaltung als äußerst unglücklich. Es ist an der Zeit, sie nun zu beenden. Natürlich werden dadurch nicht die Unterschiede verschwinden, die weiter zwischen Ost und West bestehen, was die Kultur, den Stand der ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung und die zu bewältigenden Aufgaben angeht: Im Osten kann die sozialistische Perspektive nicht von der Vollendung der antikolonialen Revolution auf allen Ebenen absehen; im Westen führt der Weg zu einer sozialistischen Perspektive über den Kampf gegen einen Kapitalismus, der gleichbedeutend ist mit der Verschärfung der sozialen Polarisierung und zunehmenden militärischen Versuchungen.“ [3]
Eine erweiterte dritte Welt
In seinem 2014 erschienenen Buches „La sinistra absente – Crisi, societá dello spectacolo, guerra“ - auf Deutsch 2017 unter dem Titel „Wenn die Linke fehlt…Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg“ erschienen - beschreibt Domenico Losurdo die Weltlage wie sie sich ihm darbot: „Die Dritte Welt, die Gesamtheit der Länder, die eine mehr oder weniger lange Periode der kolonialen oder halbkolonialen Herrschaft hinter sich haben, ist vom politisch-militärischen Stadium des nationalen Befreiungskampfes zum politisch-ökonomischen übergegangen. Was Lenin die 'politische Annexion' nannte, d. h. die direkte über ein Volk ausgeübte Kolonialherrschaft, dem das Recht verweigert wurde, sich als unabhängiger Nationalstaat zu konstituieren, ist weitgehend Vergangenheit. Was es noch gibt, ist die 'ökonomische Annexion', heute potenziert durch die militärische Bedrohung (in Form eines gigantischen Militärapparats, der auch ohne Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat in Aktion treten kann) und die juristische (die von einem weitgehend vom Westen kontrollierten und benutzten 'Internationalem Strafgerichtshof' ausgeht).“ [4]
Nicht mehr vorhanden ist der alte Ost-West Systemgegensatz: „Während die Dritte Welt sich in radikaler Weise geändert hat, ist die Zweite Welt buchstäblich verschwunden. Mit diesem Ausdruck belegte man traditionell die Länder sozialistischer Orientierung, die eine Zeit lang in einem 'sozialistischen Lager' ökonomischer und politisch-militärischer Art zusammengeschlossen waren. Der Kapitalismus ist nach Osteuropa, heute zu einem großen Teil in die NATO eingegliedert, zurückgekehrt. Auf der anderen Seite stellen sich China, Vietnam und in letzter Zeit auch Kuba auf internationaler Ebene nicht mehr als alternatives Gesellschaftsmodell gegen das herrschende dar, beanspruchen nicht mehr, der 'Leuchtturm des Sozialismus' im einen oder anderen Teil der Welt zu sein. An erster Stelle engagieren sie sich, zu den industriell und technologisch weiter entwickelten Ländern aufzuschließen, um den Lebensstandard der Bevölkerung anzuheben, mit dem Ziel auch, für die regierende kommunistische Partei die gesellschaftliche Konsensbasis zu verbreitern und zu konsolidieren sowie vom Westen und insbesondere seiner Führungsmacht inszenierte Destabilisierungsversuche zu vereiteln. Nicht weil die sozialistische Orientierung aufgegeben würde, sondern aufgrund der neuen Prioritätenskala tendieren China, Vietnam und Kuba dazu, Teil der Dritten Welt zu werden. (…)“ [5]
Anders verlief die Entwicklung in Europa. Die früheren europäischen sozialistischen Länder Mittelosteuropas sind längst feste Bestandteile der westlichen Welt. Bis auf einige Länder des Balkans sind sie Mitglieder der NATO sowie der Europäischen Union, auch wenn sie in der EU aufgrund ihres vergleichsweise niedrigen Entwicklungsstands lediglich eine untergeordnete Rolle spielen. Mit den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sind sogar Republiken der ehemaligen Sowjetunion Mitglieder geworden. Und geht es nach den Machtzentralen des Westens, so sollen auch Georgien, Moldawien, vor allem aber die Ukraine diesen Weg gehen.
Russland als Teil der erweiterten dritten Welt
Einen anderen, geradezu entgegengesetzten Kurs schlug nach einigen Kehrtwendungen Russland, das Kernland der ehemaligen Sowjetunion, ein. Vorbei sind die Jahre, in denen es sich zwischen 1991 und 2014 - erst unter Boris Jelzin und dann unter Wladimir Putin – selbst zum Westen rechnete. Es war die Zeit der Mitgliedschaft des Landes im elitären Klub der G 8, dem Machtzentrum der bedeutendsten Industrienationen der westlichen Welt. Doch bereits Anfang der 2000er Jahre begann der Entfremdungsprozess. Unter der Präsidentschaft Putins durchlief dieser Prozess mehrere Etappen. Nach der Annexion der Krim kam es 2014 zum Bruch. Moskau wurde aus der G8 geworfen und mit weitreichenden Sanktionen belegt. In seinem in jenem Jahr erschienenen Buch „Wenn die Linke fehlt…“ bewertet Losurdo diese Entwicklung: „Zu dieser erweiterten Dritten Welt, die auch die Schwellenländer umfasst, ist in gewisser Weise auch Russland hinzugekommen. Natürlich handelt es sich um ein Land, das eine mit imperialistischem Expansionismus durchsetzte Geschichte hinter sich hat, das aber aufgrund seiner ökonomisch-sozialen Fragilität und seiner ethnischen Heterogenität schnell in eine halbabhängige Lage geraten kann.“ [6]
Losurdo durchschreitet in großen Schritten die wechselvolle Geschichte Russlands, wobei er besonders auf die wiederholten Versuche des Deutschen Reiches hinweist, das Riesenland aufzuteilen und in eine gigantische Kolonie - in das „deutsche Indien“, wie Hitler zu sagen pflegte – zu verwandeln: „Nachdem es fast zwei Jahrhunderte die Mongolenherrschaft ertragen und lange den Albtraum der Ordensritter erlebt hatte, sah Russland Anfang 1600 seine Hauptstadt von den Polen besetzt; ca. hundert Jahre später erfolgte die Invasion durch Karl XII. von Schweden und wieder ein Jahrhundert später diejenige Napoleons; am Ende des Ersten Weltkriegs hatte Russland nicht nur die Intervention der Westmächte zu ertragen, sondern auch einen Balkanisierungsprozess, der nicht aufzuhalten schien. Von diesem Prozess ging Hitler aus, um den später mit der Operation Barbarossa umgesetzten Plan zu hegen, der das riesige eurasische Land in eine immense Kolonie und einen immensen Pool an Sklavenarbeitskraft verwandeln sollte. Am Ende der im Kalten Krieg erlittenen Niederlage fiel Russland für einige Zeit zurück in eine Lage, die derjenigen, die auf die Niederlage im Ersten Weltkrieg folgte, ziemlich ähnlich war; noch heute schafft das unerbittliche Vordringen der NATO in Osteuropa eine gefahrenreiche Situation. Wir haben damit eine erweiterte Dritte Welt vor uns, die die Schwellenländer und die sozialistisch orientierten Länder umfasst und insgesamt vom Kampf um die Realisierung oder die endgültige Durchsetzung zweier Menschenrechte charakterisiert ist, nämlich der 'Freiheit von Not' und der 'Freiheit von Angst'. Diese größere Dritte Welt, die natürlich reich an Widersprüchen in ihrem Inneren und gewiss nicht frei von Herausforderungen und Schwierigkeiten ist, stellt trotzdem eine Alternative zur herrschenden Weltordnung dar, aber weniger auf der internen Ebene der einzelnen Länder als bezüglich der internationalen Arbeitsteilung, die so lang dadurch gekennzeichnet war, dass der Westen die Hochtechnologie monopolisiert und den Rest der Welt auf einen Lieferanten von Rohstoffen, von Niedriglohnarbeit und nicht zuletzt auf einen Absatzmarkt für anspruchsvollere Waren aus den entwickelten kapitalistischen Ländern reduziert hat.“ [7]
Diese Sichtweise ist auch die des Philosophen und Publizisten Arnold Schölzel. In einem Artikel mit der Überschrift „Imperialismus-Inflation“, in dem er sich kritisch mit Positionen auseinandersetzt, die Russland heute als imperialistisches Land bewerten, schreibt er: „Die Vernachlässigung dieser Perspektive auf Russland, d. h. das seit mehr als 100 Jahren vorherrschende Bestreben, dieses Land zu kolonialisieren, zu ignorieren, scheint mir ein Hauptgrund für heutige unterschiedliche Beurteilungen des Ukraine-Kriegs zu sein.“ [8]
„Die Gewitterwolken eines neuen großen Krieges“, die Losurdo schon vor acht Jahren sah, sind inzwischen bedrohlich nahe gekommen. Tatsächlich begann der Krieg um die Ukraine bereits 2014. Er ist mittlerweile „Der längste Krieg in Europa seit 1945“, wie der Titel eines Buches von Ulrich Heyden lautet. [9]
In der Reaktion der übrigen dritten Welt auf das russische Vorgehen zeigt sich die Richtigkeit der damaligen Analyse Losurdos: China schloss noch kurz vor dem russischen Angriff demonstrativ einen Freundschaftsvertrag mit dem Land. Weitere gewichtige Staaten des Südens wie Argentinien, Brasilien, Indien, Indonesien, Pakistan, Senegal, Südafrika und Vietnam weigern sich beharrlich, die westliche Sanktionspolitik gegenüber Russland mitzutragen. Im Gegenteil: Staaten wie Indien und Indonesien weiten sogar ihren Wirtschaftsaustausch mit dem verfemten Land aus! Mit der erweiterten dritten Welt entsteht zwar kein neuer, in sich geschlossener Machtblock, dazu sind die Unterschiede unter den einzelnen Ländern viel zu groß. Dennoch blockiert diese heterogene Ablehnungsfront zumindest die vom Westen angestrebte totale Isolation Russlands. Damit werden dem Westen seine Grenzen aufgezeigt. Selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung muss das anerkennen. Über Putin heißt es dort: „In einem hat er sich nicht vertan: Seine Allianz mit China hält, und die Mittelposition von Ländern wie Indien kommt ihm ebenfalls zugute, sogar materiell. Wenn man so will, ist der Ukrainekrieg tatsächlich die erste Schlacht des multipolaren Zeitalters.“ [10]
Die verbliebene westliche Linke sollte diese Ereignisse genau studieren, denn „die Überwindung der verhängnisvollen zeitlichen und räumlichen Amputation des Marxismus wird nicht möglich sein, wenn die Marxisten im Westen die Beziehung zur weltweiten antikolonialen Revolution (oft angeführt von kommunistischen Parteien) nicht wiederherstellen, jener Revolution, die der Hauptinhalt des 20. Jahrhunderts war und weiterhin eine wesentliche Rolle in dem Jahrhundert spielt, in das wir inzwischen eingetreten sind. Eine solche Beziehung wiederherzustellen, bedeutet an erster Stelle, die koloniale Frage wieder in vollem Umfange in die historische Bilanz des 20. Jahrhunderts und des Marxismus des 20. Jahrhunderts einzuführen.“ [11]
[1] Andreas Wehr zu seinem Leben und Werk: „Domenico Losurdo – Theoretiker des Marxismus“,
[2] Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus – Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte, PapyRossa Verlag, Köln 2018, S. 258
[3] Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus, a.a.O., S. 260 f.
[4] Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt…Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg, PapyRossa Verlag, Köln 2017, S. 341 f.
[5] Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt…, S. 343
[6] Ebenda
[7] Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt…, a.a.O., S. 344
[8] Arnold Schölzel, Imperialismus-Inflation, in: Junge Welt vom 06.07.2022
[9] Vgl. Andreas Wehr, Protokoll des ukrainischen Bürgerkriegs, Rezension des Buches von Ulrich Heyden, Der längste Krieg in Europa seit 1945. Augenzeugenberichte aus dem Donbass
[10] Nicolas Busse, Die erste Schlacht der neuen Zeit, in: FAZ vom 14.07.2022
[11] Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus, a.a.O. S. 249
Der Artikel erschien am 26. Juli 2023 im Onlinemagazin Telepolis
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