Die wahre Melodie
»Wie können sie es wagen? Der Euro, die Krise und der große Raubzug« ist ein ungewöhnliches Buch und dies aus gleich mehreren Gründen. Sein Autor Peter Mertens ist Vorsitzender der linken belgischen Partei der Arbeit (PdA) und zugleich Chef eines Teams von Wissenschaftlern, das ihm beim Schreiben zugearbeitet hat. Wir haben es also hier mit einer Kollektivarbeit zu tun. Es ist auch eine Programmschrift, denn Mertens gibt mit seinen Vorschlägen nicht seine subjektive Meinung, sondern die Positionen der PdA wieder. Die werden aber nicht einfach aufgereiht, sondern ergeben sich als zwangsläufige Folgerungen aus einem Text, der Reportage, wissenschaftliche Analyse, Tagebuch der Ereignisse und einfühlsame Darstellung der Krise in Europa in einem ist. Das Buch steht zugleich im Zentrum eines Bildungsprojekts der Partei zur Krise, welches Filme, Lesungen und Vorträge umfaßt. Es ist daher Agitproparbeit im besten Sinne des Wortes, etwas, was es so in Deutschland heute leider nicht mehr gibt.
Das Buch bietet einen Gesamtblick auf die Länder der EU. Dabei werden
Quellen in verschiedenen Sprachen herangezogen, zitiert wird etwa auch
aus Artikeln der jungen Welt. Solch ein Buch konnte wohl nur in Belgien
geschrieben werden, dort, wo sich die europäischen
Sprachen tagtäglich begegnen, und wo man daher mehr als anderswo über
Europa und sein Elend erfährt.
All dies zusammen hat dem Buch »Wie können sie es wagen?« zu seinem
erstaunlichen Erfolg verholfen. In Belgien stand es monatelang an der
Spitze der Bestsellerliste und wurde mehr als 20000 Mal verkauft. Auf
das achtmal bevölkerungsreichere Deutschland übertragen
hieße das, nicht weniger als 160000 Exemplare eines aus linker
Perspektive geschriebenen Werks über die Krise abzusetzen! Neben den
Ausgaben auf Niederländisch und Französisch liegen nun auch eine
englische und eine deutsche Fassung vor. Die deutsche Ausgabe
ist übrigens sehr sorgfältig übersetzt und mit einem ansprechenden
Einband versehen worden. Dabei erwirbt man sogar zwei Bücher in einem:
den gedruckten Text und eine E-Book-Version. Auch das unterstreicht den
besonderen Charakter des Werks.
»Wie können sie es wagen?« handelt natürlich erst einmal von Belgien.
Man erfährt dabei, dass Tine Van Rompuy, »ihres Zeichens
Krankenpflegerin, Sozialaktivistin und Schwester des ersten ständigen
Präsidenten des Europäischen Rates«, regelmäßig sogenannte
Millionärsrouten
zu den schön gelegenen Luxussitzen der oberen Zehntausend organisiert –
natürlich mit dem Fahrrad, man ist schließlich in Belgien. Der Leser
erfährt auch, dass nicht nur die belgischen Unternehmer neidisch auf das
Deutschland des Niedriglohns, der Zeitarbeitsverträge
und von Hartz IV blicken, sondern auch der flämische
Rechtsaußenpolitiker Bart De Wever. »Wen ich sehr bewundere und wer
nicht immer den Respekt erhielt, den er verdient, das ist Gerhard
Schröder«, so der flämische Nationalist.
Und überhaupt Deutschland! Durch den Blick von außen auf das Land,
erfährt man, wie es zum Vorbild und Hoffnungsträger aller Neoliberalen
Europas werden konnte. Und so lernt man viel über das Musterland des
Kapitals und versteht, dass erst eine grundlegende
Wende hier stattfinden muss, bevor es im übrigen Europa besser werden
kann.
Doch danach sieht es nicht aus. Schritt für Schritt wird vielmehr die
deutsche Agenda 2010 den EU-Ländern aufoktroyiert: Verschärfung des
Stabilitäts- und Wachstumspakts, Euro-Plus-Pakt, Stabilitätspakt,
Six-Pack und Two-Pack. Das Prinzip ist dabei immer dasselbe:
»In Brüssels Europaviertel sollen die Konzepte und Pläne der
EU-Mitgliedstaaten bewertet und korrigiert werden, bevor nationale
Parlamente sie absegnen dürfen. (…) Die Kontrolle über Staatshaushalte
soll nicht mehr von unten erfolgen, sondern von oben, ganz
nach den Wünschen der industriellen und finanziellen Elite.« Am Ende
steht dann eine europäische Wirtschaftsregierung.
Zum Glück ist es aber noch nicht soweit, noch gibt es Widerstand gegen
die Entrechtung der Völker. Ausführlich wird über die Gegenwehr in
Griechenland, Lettland, Portugal und Irland berichtet. Die Sympathie des
Autors gehört dabei den kampfbereiten, klassenorientierten
Kräften, etwa den portugiesischen und den griechischen Kommunisten.
Die EU ist nach Mertens nicht die Antwort auf den überall anwachsenden
Nationalismus. Im Gegenteil: »Wettbewerb und Profitgier, die die
Europäische Union entstehen ließ, schüren nun allenthalben wieder den
Nationalismus.« Und: »Alle Menschen werden zu Konkurrenten
– danach klingt die wahre Melodie der Europäischen Union. Wer die
Menschen gegeneinander ausspielt, der bereitet den Nährboden für den
Nationalismus. Europäische Zentralisierung und aufkeimender
Nationalismus sind zwei Aspekte ein und derselben Konkurrenzpolitik.«
Für Belgien propagiert die PdA als Sofortmaßnahme die Einführung einer
zweiprozentigen Millionärssteuer. Das hört sich nach wenig an, würde
aber angesichts des unermesslich großen privaten Reichtums im Land
erlauben, wichtige soziale Programme auf den Weg zu
bringen sowie Kürzungen bei Bildung, Kultur und Gesundheit rückgängig
zu machen. Nach Mertens wäre dies eine Reform, »die uns mehr
Bewegungsfreiheit im Kampf gegen die Missstände« verschaffen würde.
Solche Zwischenschritte bedeuten aber keineswegs, dass die
Partei ihr Ziel Sozialismus aufgibt, denn es wäre »sehr engstirnig, den
Sozialismus abzuservieren, nur weil die ersten Versuche scheiterten«.
Da leider von keinem deutschsprachigen Autor ein solch gut
geschriebenes, faktenreiches und vom Ergebnis her so schlüssiges Buch
existiert, sollte das von Peter Mertens auch bei uns eine große
Verbreitung finden.
Peter Mertens, Wie können sie es wagen?
Der Euro, die Krise und der große Raubzug, Essay, Mainz 2013
Aus dem Niederländischen von Sabine Carolin Richter
416 Seiten, gebunden, inkl. eBook, 19,90 Euro
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