Die Sache mit dem Kommunismus

Dem Kampf um den Begriff Kommunismus kann die Partei Die Linke nicht ausweichen. Tut sie es dennoch, trennt sie sich von ihrer eigenen Geschichte, denn diese ist die Geschichte des Sozialismus, und ihr Gründungsdokument ist das »Manifest der Kommunistischen Partei« von Karl Marx und Friedrich Engels. Verzichtet sie auf die Verteidigung des Begriffs, isoliert sie sich in Deutschland gegenüber vielen, die als Mitglieder der Partei Die Linke oder außerhalb stehend sich als Kommunisten sehen. Kämpft sie nicht, isoliert sie sich international. In der Europäischen Linkspartei arbeitet sie mit zahlreichen kommunistischen Parteien zusammen, etwa mit der Frankreichs und der italienischen Rifondazione Comunista. Nicht anders ist es in der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im Europäischen Parlament. Ihr gehören auch die Abgeordneten der griechischen kommunistischen Partei und die der portugiesischen sowie der tschechischen Kommunisten an.

Die Aufgabe des Kampfes um den Begriff Kommunismus wäre zugleich eine Kapitulation vor den Angriffen der Rechten auf alle, für die der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte ist. Diese Rechte unterscheidet in ihrer Agitation nicht zwischen Kommunismus und Sozialismus. Gesine Lötzsch hat in ihrem Beitrag auf der XVI. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz darauf hingewiesen: »Wer Kommunist ist und wer nicht, das wird in dieser Gesellschaft durch Medienkonzerne festgelegt. Wer gestern noch als Reformer galt, kann schon morgen als Kommunist beschimpft werden.«1 Jahre nach der Niederlage des realen Sozialismus in Europa wollen die bürgerlichen Medien und die Rechtsparteien endgültig die Definitionsmacht darüber erringen, was in dieser erweiterten Bundesrepublik an linken Positionen noch zulässig ist und was nicht. Sie hat dafür ihre eigene Skala aufgestellt: Sie beginnt bei Stalin und geht über Lenin, den Kommunismus, Marxismus bis hin zum Sozialismus. Schritt für Schritt wird ein Begriff nach dem anderen tabuisiert und mit einem Bann belegt.

 »Reale Bewegung«

Was die deutsche Rechte erreichen will, kann man heute schon in Osteuropa studieren. Dort geht man gegen Kommunisten mit polizeilichen Mitteln vor. Der Jugendverband der tschechischen KP ist vor einigen Jahren für illegal erklärt worden, erst auf öffentlichen Druck hin wurde das Verbot wieder aufgehoben. In Polen, Ungarn und Litauen ist die Verwendung kommunistischer Symbole, etwa von Hammer und Sichel, bei Strafe untersagt. Im Europarat wurde auf Initiative osteuropäischer Regierungen eine Entschließung angenommen, in der Faschismus und Kommunismus gleichgesetzt werden. Einen ähnlichen Vorstoß gibt es im Europäischen Parlament. Verhält sich Die Linke bei der Auseinandersetzung um den Begriff Kommunismus indifferent, setzt sie diesen Angriffen nichts entgegen und ermutigt sie die Rechte, es den fanatischen Antikommunisten Osteuropas gleichzutun. Schon gibt es erste Erwägungen bei der CSU, ein Verbotsverfahren gegen die Partei Die Linke einzuleiten. Was den Antikommunismus angeht, so gilt hier weiter das Wort von Thomas Mann: Er könne nicht umhin, »in dem Schrecken der bürgerlichen Welt vor dem Wort Kommunismus, diesem Schrecken, von dem der Faschismus so lange gelebt hat, etwas Abergläubisches und Kindisches zu sehen, die Grundtorheit unserer Epoche«.

Gesine Lötzsch will um den Begriff Kommunismus kämpfen. Auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz sagte sie: »Gregor Gysi wies in einem Zeitungsartikel kritisch darauf hin, dass unter dem Begriff des Kommunismus die Menschen an Stalin und die Mauer denken. Da hat er Recht, deshalb müssen wir Aufklärungsarbeit leisten! Gregor Gysi hat aber nicht recht, wenn er meint, dass man den Begriff des Kommunismus nicht mehr verwenden darf.« Und an einer anderen Stelle erklärte sie, dass »es falsch (wäre), den Mantel des Schweigens über die Idee des Kommunismus zu legen.«2 Ihr geht es hier um die Verteidigung des Begriffs Kommunismus in der Marxschen Definition als »reale Bewegung«, denn es ist klar: Die Partei Die Linke selbst ist keine kommunistische Partei und sollte auch keine werden. Ihr Charakter als breite Sammlungspartei entspricht den gegenwärtigen historischen Bedingungen und ist Voraussetzung für ihren weiteren Bestand.

Linker Selbsthass

Beim Streit um den Auftritt von Gesine Lötzsch auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz geht es aber um mehr als um die Verteidigung eines inkriminierten Begriffs. Es geht vor allem um die Zukunft der Partei Die Linke. Eine Zukunft hat diese nur, wenn sie ihre Vergangenheit nicht aufgibt. Das würde sie aber tun, wenn sie ihre eigene Geschichte, und die ist vor allem eine des realen Sozialismus, als illegitim, gescheitert oder Irrweg abtut. Wer dabei glaubt, daß diese Fragen nur den Teil der Partei betreffen, der aus der SED kommt, der irrt. Diese Fragen gehen auch die aus dem Westen dazugekommenen Gewerkschafter und ehemaligen Sozialdemokraten etwas an. Die Niederlage des europäischen Realsozialismus hat eine globale Dimension. Es war eine Niederlage all derer, die sich für die Überwindung des Kapitalismus einsetzen. In den »Herforder Thesen zur Arbeit von Marxisten in der SPD« von 1980 heißt es über das Verhältnis von Sozialdemokraten gegenüber dem realen Sozialismus: »Linke Sozialdemokraten in der Bundesrepublik werden ähnlich wie seinerzeit Otto Bauer weder den fortschrittlichen Grundcharakter der in der Sowjetunion verwirklichten Produktionsverhältnisse leugnen oder vergessen lassen noch unterschätzen sie die Bedeutung des sozialistischen Lagers als ein überall in Rechnung zu stellendes Gegengewicht gegenüber den Vorherrschaftsbestrebungen einzelner kapitalistischer Staaten und den von ihnen repräsentierten Monopolinteressen. Ebensowenig aber werden sozialdemokratische Marxisten, die in ihrem eigenen Land für einen prinzipiell anderen Weg zum Sozialismus eintreten, auf die Äußerung offener, solidarischer Kritik an solchen Entscheidungen der Sowjet­union wie der anderen sozialistischen Staaten verzichten, die der Sache des internationalen Sozialismus abträglich sind.«3

Die Niederlage des realen Sozialismus hat viele der verbliebenen Sozialisten verstört. An die Stelle nüchterner Selbstkritik und gewissenhafter Überprüfung der theoretischen Annahmen auf ihre weitere Verwendbarkeit trat vielfach lähmender Selbsthass. Wer diesen Selbsthass nicht verspürt und zugleich wagt, stolz auf das Geleistete zu sein, oder sich gar erdreistet, in der Vergangenheit Positives und Bewahrenswertes zu sehen, wird seitdem ausgegrenzt.

Warum ist das so? Der italienische Philosoph und Kommunist Domenico Losurdo hat in seinem Buch »Flucht aus der Geschichte?«4 wie kein anderer Ursachen und Konsequenzen der Niederlage des europäischen Realsozialismus präzise herausgearbeitet. Über die Gründe des linken Selbsthasses schreibt er: »In der Geschichte verfolgter ethnischer oder religiöser Gruppen begegnet uns eine merkwürdige Erscheinung. An einem gewissen Punkt neigen auch die Opfer dazu, sich den Standpunkt der Unterdrücker zu eigen zu machen, und beginnen deshalb, sich selbst zu verachten und zu hassen. Dieser Selbsthass wurde vor allem am Beispiel der Juden erforscht, die Jahrtausende hindurch das Objekt einer systematischen Diskriminierungs- und Diffamierungskampagne waren. Doch etwas Ähnliches, und ebenfalls Tragisches, hat sich in der Geschichte der Schwarzen zugetragen, die aus ihrer Heimat deportiert, versklavt, unterdrückt und ihrer Identität beraubt wurden. (…) Doch das Phänomen des Selbsthasses betrifft nicht nur ethnische und religiöse Gruppen. Es kann auch bei sozialen Klassen und politischen Parteien nach einer schweren Niederlage auftreten, vor allem wenn die Sieger, sobald die eigentlichen Waffen beiseite gelegt oder in den Hintergrund getreten sind, an ihrer tödlichen, heute durch das multimediale Feuer verstärkten Kampagne festhalten.« Für Losurdo steht fest, dass unter den vielen Problemen, mit denen die heutige Linke konfrontiert ist, »das des Selbsthasses gewiss nicht das geringste« ist. (S. 9)

 Die Flucht in die Utopie

Zum Selbsthass tritt die Flucht in die Utopie hinzu, wo es eigentlich darum geht, konkrete Ziele für die grundlegende Veränderung der bestehenden Verhältnisse zu formulieren. Das Setzen utopischer Ziele gehört dabei zum Programm der Lossagung von der eigenen Geschichte. Nach Losurdo fehlt es in der fortschrittlichen Bewegung nicht an denen, »die die mit der Oktoberrevolution begonnene Geschichte liquidieren möchten, wobei sie ihr natürlich nicht den westlichen Kapitalismus und Liberalismus entgegensetzen, sondern die Utopie«. (S. 101)

Dabei zeigt sich immer wieder, dass kaum ein anderes Wunschbild für die Beschwörung einer solchen Utopie geeigneter ist als das des Kommunismus. So richtig und wichtig es also ist, um den Kommunismus als »reale Bewegung« im Marxschen Sinne zu kämpfen, so untauglich ist er doch für die Beschreibung eines Ziels. Bereits in den Frühschriften von Marx haftet dem Kommunismus etwas Utopisches, Ortloses an. Als Geschichtsepoche soll er irgendwann nach dem Sozialismus kommen. Der Kommunismus wird als Reich der Freiheit und als Ende der Notwendigkeit gelobt. Dieses Schwadronieren über den Kommunismus gehört zum schlechtesten Erbe der Oktoberrevolution. Wie schon die französische neigte auch sie dazu, »sich Ziele zu setzen, die viel ehrgeiziger sind als die, die sie dann historisch realisieren kann. Im Endeffekt tendiert jede große Revolution dahin, sich als letzte vorzustellen, ja sogar als die Lösung aller Widersprüche und damit als Ende der Geschichte«. (S.103) Die Sowjetunion konnte sich nie von diesem fatalen Erbe befreien. Noch heute unvergessen ist, wie sich die KPdSU Anfang der 60er Jahre unsterblich blamierte, als sie erklären ließ, den Kommunismus innerhalb nur weniger Jahrzehnte einführen zu können.

Gesine Lötzsch ist nicht immun gegenüber solchen Anwandlungen. Zur Rechtfertigung ihres Artikels in der jungen Welt vom 3.1.2011 erklärte sie in einem Interview: »Der Kommunismus ist eine utopische Ideologie, über die die Menschen seit Jahrhunderten nachdenken.« (Berliner Morgenpost vom 9.1.11) Noch viel klarer wird das utopische Weltbild bei Helmut Holter, dem Spitzenkandidaten der Linken in Mecklenburg-Vorpommern: »Spätestens seit Marx und dem ›Kommunistischen Manifest‹ sind links denkende Menschen auf der Suche nach Wegen zu einer gerechten Gesellschaft, in der sich jeder frei entfalten kann. Alle bislang eingeschlagenen Wege, so auch die politische Entwicklung in der DDR, sind aus verschiedenen Gründen gescheitert.«5 Linke Politik befindet sich also Holter zufolge immer nur »auf der Suche«, niemals kommt es zu einer Etablierung und damit Konsolidierung ihrer Macht, was in der Sowjetunion und in der DDR zumindest ansatzweise gelang und was nach Antonio ­Gramsci erst den Erfolg einer Revolution ausmacht, um sie als »wahrhaft vollendet betrachten zu können«. (S. 103) Doch das interessiert Holter nicht. Indem er die »gerechte Gesellschaft« mit einer Gesellschaft gleichgesetzt, »in der sich jeder frei entfalten kann«, wird sie quasi-religiös überhöht und damit zugleich auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Eine solche Haltung ist für die Herrschenden vollkommen harmlos.

Die Verklärung Rosa Luxemburgs

In Deutschland gehört zu dieser Flucht in die Utopie der in der Linken so verbreitete Kult um Rosa Luxemburg. Die Verklärung ihrer Person durch ihre Reduzierung auf die Rolle einer sanften, menschlichen und zutiefst weiblich empfindenden Frau und damit ihre Stilisierung als Alternative zu dem als kalt und rücksichtslos dargestellten Mann Lenin begann bereits in der alten Bundesrepublik. Fatale Maßstäbe setzte hier 1985 Margarethe von Trottas Spielfilm »Rosa Luxemburg«. Trotta ließ darin die Revolutionärin hinter einer sympathischen aber letztlich weltfremden Frau verschwinden, um auf diese Weise deren subversive Energien zu neutralisieren. In dieses Bild passen nicht mehr die radikalen politischen Positionen der großen Marxistin. Weggelassen wird ihre klare Verurteilung der konterrevolutionären deutschen Sozialdemokratie. Die genauen Inhalte ihrer Kritik an den Bolschewiki werden nicht benannt. Tatsächlich vertrat sie hier in Fragen der Kollektivierung und der Behandlung der nichtrussischen Nationen unrealistische, wenn nicht gar sektiererische Positionen.

Im »Mythos Rosa Luxemburg« verbindet sich der selbstlose Kampf der Spartakisten, die Ermordung der Führer der gerade erst gegründeten und daher noch »unschuldigen« KPD mit der Kritik Luxemburgs an den russischen Bolschewiki zu einer Imagination der perfekten Einheit von Demokratie und Sozialismus, vor der die reale, profane und ganz und gar unromantische Geschichte der kommunistischen und sozialistischen Bewegung der vergangenen 90 Jahre als häßliche Entstellung, wenn nicht gar als Verrat erscheinen muß.6 Die Vorstellung aber, ausgestattet mit dem heutigen Wissen über die wirkliche Geschichte an einen imaginären Ausgangspunkt des Jahres 1919 zurückkehren zu können und so nun endlich, nach vielen Wirren und Irrtümern, die perfekte Vereinigung von Demokratie und Sozialismus verwirklichen zu können, ist ein bloßes moralisches Postulat des Sollens, das zu nichts führt.

Ganz ähnlich verfahren übrigens seit Jahr und Tag die Trotzkisten mit ihrem Idol. Wäre Trotzki und nicht Stalin Lenin nachgefolgt, so hört man beständig von dort, hätte sich alles anders und natürlich zum besten entwickelt. Und womöglich würde, dank der von Trotzki propagierten »permanenten Revolution«, längst die rote Fahne in New York wehen. Doch den Verlauf der Geschichte allein von einigen Zitaten abhängig machen zu wollen, ob nun von Luxemburg oder Trotzki, ist purer Idealismus und hat mit dem historischen Materialismus nicht das geringste zu tun.

Das Luxemburg-Bild von Gesine Lötzsch ist von diesem Mythos leider nicht frei. Zwar weist sie zunächst darauf hin, dass die Spartakisten sehr wohl konkrete und der Zeit angemessene Forderungen erhoben hatten: »Luxemburg und Liebknecht forderten die Teilnahme an den Wahlen zur Nationalversammlung, und vor allem entwickelten sie in der programmatischen Erklärung ›Was will der Spartakusbund‹ ein Sofortprogramm, das einen sechsstündigen Höchstarbeitstag genauso einschloss wie die Sozialisierung der Banken und der Großindustrie, Enteignung des Großgrundbesitzes und die Bildung von Genossenschaften, die Schaffung von Betriebsräten, die die Leitung der Betriebe übernehmen sollten.«7 Doch dieses klare, politische Bild Luxemburgs verschwimmt anschließend in ihrem Artikel.

Über die Rolle Luxemburgs in der Novemberrevolution heißt es etwa: »Sie hatte keinen Masterplan und auch keine einfachen Antworten. Sie war auf der Suche, im Dialog mit anderen, zugleich außerordentlich ungeduldig und mahnend, sich nicht hinreißen zu lassen zu Terror und Sektierertum und doch entschieden zu wirken. Sozialismus war für sie kein fertiges Ideal, kein genial entworfener Bauplan, sondern etwas, was aus den realen Kämpfen wachsen würde. Sie schrieb in ihrer Auseinandersetzung mit Lenin und Trotzki: ›Das Negative, den Abbau, kann man dekretieren, den Aufbau, das Positive, nicht. Neuland. Tausend Probleme. Nur Erfahrung (ist) imstande, zu korrigieren und neue Wege zu eröffnen. Nur ungehemmtes, schäumendes Leben verfällt auf tausend neue Formen…‹«8 Was hier auf den ersten Blick so sympathisch daherkommt, verhüllt tatsächlich eine der größten Schwächen der deutschen Revolution. Das war das völlige Fehlen eines konkreten und damit realisierbaren Umsturzplans. Der Historiker Arthur Rosenberg, der Journalist Sebastian Haffner und der Politiker Peter von Oertzen haben dies in ihren Schriften über die Novemberrevolution scharf und unnachgiebig kritisiert. Und ausgerechnet dieser offenkundige Mangel soll jetzt eine Tugend sein?

Doch die romantische Verklärung Luxemburgs geht noch weiter: »Die zukünftige Gesellschaft war für sie wie die belebte Natur: die ungeheure Vielfalt und Selbstorganisation, die sie dort bei ihren Studien und Ausflügen immer wieder beobachtete. Die Menschen waren ihr niemals Schräubchen im Getriebe einer neuen perfekten Welt. Sie hatte Ehrfurcht vor dem Leben in seiner Besonderheit. Der ›wahre Odem des Sozialismus‹ war für sie die Einheit von ›rücksichtslosester Tatkraft und weitherzigster Menschlichkeit‹«.9 Das ist schwärmerisches Idyll! Und im übrigen: Wenn die Gesellschaft ganz so wie die »belebte Natur« sein soll, dann ist das eine sehr brutale Welt, denn die Natur ist bestimmt vom Fressen und Gefressenwerden, dort herrscht das Gesetz der Evolution, und das ist bekanntlich rücksichtslos.

 Notwendige Ent-Messianisierung

Nach Domenico Losurdo geht es heute darum, »eine nachkapitalistische und nachimperialistische Gesellschaft aufzubauen, eine Gesellschaft jedoch, die wir uns nicht länger in den Farben einer platten und unkritischen Utopie vorstellen können und dürfen. Die Distanzierung von einer solchen Utopie ist das grundlegende Merkmal der Marxschen Definition des Kommunismus als ›reale Bewegung‹.« (S.67) Das mag manchen profan und langweilig vorkommen. Unterhalb des Ziels einer »gerechten Gesellschaft, in der sich jeder frei entfalten kann«, will es etwa ein Holter nicht machen. Und da dieses Ziel einer konfliktfreien Gesellschaft nun einmal ein utopisches ist, befestigt man die neue Gesellschaftsordnung Sozialismus gleich am unerreichbaren Wertehimmel, ganz so wie es die SPD mit ihren Grundwerten seit ihrem Görlitzer Programm von 1921 regelmäßig macht. Mit ganz ähnlichen Haltungen in seinem Heimatland Italien konfrontiert, hat Losurdo darauf wie folgt geantwortet: »Mancher Genosse (…) mag sich fragen: Ist es überhaupt der Mühe wert, für eine Zukunft zu kämpfen, die nicht das Ende aller Konflikte und Widersprüche bringt? Das ist ein bisschen die religiöse Haltung derer, für die das Erdenleben ohne Weiterleben im Jenseits keinen Sinn macht.« (S. 67)

Eine Ent-Messianisierung des Sozialismus ist demnach so notwendig wie die Überwindung des in den linken Bewegungen verbreiteten Selbsthasses. Wer als Ziel seines heutigen, konkreten Handelns den Kommunismus angibt, ohne natürlich auch nur ansatzweise benennen zu können, wie er es je erreichen will, beschreibt als Ziel seines Handelns eine Utopie. Der spielt damit jenen in die Hände, die eh nicht mehr erreichen wollen als die Beteiligung an der einen oder anderen Regierung, denn die können mit solch utopischen Forderungen bestens leben, niemand kann von ihnen verlangen, sie jemals zu realisieren. Die Kommunismusdebatte kam so gerade noch rechtzeitig für die Auseinandersetzung um das neue Programm für die Partei Die Linke. Jetzt ist es unmissverständlich klargeworden, dass es in ihr darum gehen muss, an die Formulierung gangbarer Wege hin zu einer nachkapitalistischen und nachimperialistischen Gesellschaft zu gehen. Dabei ist auf der eigenen Geschichte aufzubauen, auf die nicht mit Selbsthass zu blicken ist.

1 Gesine Lötzsch, »Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte«, in: jW vom 10.1.2011

2 ebd.

3 Herforder Thesen zur Arbeit von Marxisten in der SPD, spw Sonderheft 2, Berlin, 1980, S.10 unter: www.sozialistische-linke.de/images/dateien/herford10/herforderthesen1980.pdf

4 Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, Neue Impulse Verlag, Essen 2009. Die Seiten mit den Zitaten aus diesem Buch sind im Text in Klammern gesetzt.

5 »Sind seit Marx auf der Suche«, Interview mit Helmut Holter in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.1.2011

6 Ein ganz anderes, realistisches Bild Rosa Luxemburgs zeichnet hingegen Dietmar Dath in einer Biographie von ihr, vgl. Dietmar Dath, Rosa Luxemburg, Suhrkamp Verlag (Basis Biographien 35), Berlin 2010

7 Gesine Lötzsch, »Wege zum Kommunismus«, in: jW vom 3.1.2011

8 ebd.

9 ebd.

 

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