Die Macht der Stimmen
Es war alles andere als zufällig, dass Kanzlerin Merkel kurz vor dem Berliner EU-Gipfel ausgerechnet Polen einen Besuch abstattete. Ende Januar war sie bereits in Prag vorstellig geworden. Als einzige der neuen EU-Mitglieder haben Tschechien und Polen den Vertrag bisher nicht ratifiziert. Die öffentliche Aufmerksamkeit in Sachen EU-Verfassung gilt meist den widerspenstigen Franzosen und Niederländern, die Non bzw. Nee zu dem Vertrag sagten. Regelmäßig übersehen wird dabei, dass mit Polen und Tschechien weitere, harte Brocken auf dem Weg liegen.
Umstritten ist dabei mit den neuen Entscheidungsverfahren im Rat der Kern des Vertrags. „Als qualifizierte Mehrheit“ gilt eine „Mehrheit von mindestens 55% der Mitglieder des Rates, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern, sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 Prozent der Bevölkerung vertreten“. Damit ist erstmals für das Zustandekommen von Beschlüssen die Bevölkerungszahl der Mitgliedsländer entscheidend. Eine Position, für die Deutschland seit seiner Vereinigung penetrant eingetreten ist.
Wird das demografische Prinzip zur Grundlage, werden sich jedoch die Machtverhältnisse innerhalb der EU erheblich verschieben. Begünstigt wären davon die vier bevölkerungsstärksten Länder und hier insbesondere Deutschland. Da Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland jeweils 29 gewichtete Stimmen im Rat haben, beträgt ihr Anteil dort nur wenig mehr als acht Prozent. Ganz anders sähe es hingegen aus, würde die Bevölkerungszahl das entscheidende Kriterium sein. Allein der Anteil Deutschlands würde sich dann auf gut 17 Prozent verdoppeln; die der drei anderen Großen würde sich auf immerhin jeweils ca. 12 Prozent erhöhen. Da sich aber die Anteile Spaniens und Polens nur geringfügig verändern würden, ginge ihr Einfluss zurück. Derzeit verfügen sie jeweils über 27 Stimmen, das war ihnen 2000 in Nizza zugestanden worden. Die vier Großen der EU repräsentieren zudem mehr als 50 Prozent der Bevölkerung und sind damit nicht mehr weit von der 65- Prozent-Marke entfernt, die für eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist. Die Herrschaft eines Direktoriums in der EU läge dann im Bereich des Möglichen.
Die Zurücksetzung Spaniens und Polens war von Beginn an umstritten. Bereits im Dezember 2003 scheiterte daran ein erster Anlauf zur Verabschiedung des Verfassungsvertrages. Erst nachdem das Quorum von ursprünglich 60 auf 65 Prozent angehoben wurde, stimmten auch diese beiden Länder zu. Da nun aber nach dem Nein der Franzosen und Niederländer der Verfassungsvertrag tot ist, lebt die Debatte auch über das Abstimmungsverfahren wieder neu auf. Und der Widerstand dagegen beschränkt sich keineswegs nur auf engstirnige, national gesinnte konservative Politiker. Es war der damalige Fraktionsvorsitzende der als europafreundlich eingestuften polnischen Bürgerplattform, Jan Rokita, der 2003 die Parole ausgab: „Nizza oder Tod“. Und in Tschechien gehört selbst der Europaminister Alexandr Vondra zu den entschiedenen Kritikern des Verfassungsvertrages.
In diesem Streit kommen alte Konflikte und Ressentiments wieder hoch. So warnte der polnische Präsident Lech Kaczynski davor, dass Europa eines Tages „Berlin oder Paris unterstellt werde“. Auf einen belehrenden und überheblichen Kommentar des SPD-Europaabgeordneten Jo Leinen reagierte der Chefberater des tschechischen Präsidenten gar mit der spitzen Bemerkung, dass sich Leinen wohl das Protektorat Böhmen und Mähren zurückwünsche.
Die von der deutschen Bundesregierung mit aller Macht vorangetriebene Stärkung der eigenen Position setzt in der Tat die EU als erfolgreichen Aushandlungsmechanismus aufs Spiel. Dies wird auch in der deutschen Linken so gesehen. So fordert etwa das von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine vorgelegte Memorandum zum Verfassungsvertrag auch eine „Neudefinition der qualifizierten Mehrheit“. Sie solle „selbstverständlich die Bevölkerungszahl beachten, aber nicht überbetonen“.
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