Die humanitäre Antwort
Der Titel des Buches von Domenico Losurdo »Das 20.
Jahrhundert begreifen« erinnert an Eric Hobsbawms »Das Zeitalter der Extreme.
Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts« und an Luciano Canforas »Eine kurze
Geschichte der Demokratie«. Im Unterschied zu diesen beiden Werken ist der Band
mit nur knapp 90 Seiten kurz. Er bietet dennoch eine vollständige und in sich
geschlossene Sicht auf das 20. Jahrhundert im Sinne des schönen deutschen Worts
Weltanschauung.
Gleich zu Beginn wird der geistige Gegensatz benannt, um den es im ganzen Werk
geht. Es ist das »Schwarzbuch des Kommunismus« von Stéphane de Courtois und
anderen aus dem Jahr 1997. Es steht stellvertretend für die liberale Sicht auf
das 20. Jahrhundert, die wie folgt lautet: Dessen Geschichte ist eine des
widerspruchsvollen, aber letztlich doch erfolgreichen Voranschreitens hin zum
Wirtschaftsliberalismus und zur bürgerlichen Demokratie. Zwar hat es auf diesem
Weg gleich zwei bedauerliche Rückschläge gegeben, den Faschismus und den
Sozialismus/Kommunismus. Beide Irrtümer sind nun aber überwunden, so dass dem
liberalen Glück nichts mehr im Wege steht.
Koloniale Massaker
Losurdo zeigt, dass dieser Sicht grobe Geschichtsfälschungen
und »kolossale Verdrängungen« zugrunde liegen, soll doch die Darstellung des
Faschismus als »Ausrutscher« seine Herkunft aus der Geschichte des weißen,
kolonisierenden Mannes vergessen machen. Zugleich soll die Schuld der
westlichen Demokratien an seinem Aufkommen gestrichen werden. Doch es war
anders: »Zweifellos ist das Laboratorium des Dritten Reiches und der Greuel des
20. Jahrhunderts schon lange vor dem Ausbruch der Oktoberrevolution in voller
Aktivität, und es verweist auf die koloniale Tradition bzw. auf die Behandlung
der ›Barbaren‹ in den Kolonien und selbst in der Metropole seitens derer, die
sich selbst als die exklusiven Vertreter der Zivilisation betrachten.« Und so
sind die vielfältigen Verbindungen zwischen Liberalismus und Faschismus nicht
zu übersehen: Der Nazi-Terminus »Untermensch« entstammt dem US-amerikanischen
»Underman«. Und mit der Niederlage des deutschen Faschismus verschwanden
keineswegs die kolonialen Massaker. In »Die Verdammten dieser Erde« beschuldigt
Frantz Fanon 1961 Frankreich, »eine ›an Genozid grenzende‹ Politik
durchzuführen und sogar ›die entsetzlichste Ausrottungskampagne der modernen
Zeiten‹ verwirklichen zu wollen«.
Doch wie verhält es sich nun mit der Geschichte des Kommunismus, der nach
herrschendem liberalem Alltagsverständnis »wahren Erbsünde des 20.
Jahrhunderts«? Haben sich dieser Sichtweise, abgesehen von einigen
Versprengten, nicht auch seine einstigen Anhänger angeschlossen, die sich nach
seinem Ende eiligst von ihm distanzierten und sich für seine Taten bis heute
entschuldigen? Losurdo kommt es nicht in den Sinn, diese Epoche zu idealisieren
oder auch nur die in jener Zeit begangenen Verbrechen zu verharmlosen. So
spricht er von den »furchtbaren Seiten des Kommunismus«, die man aber nur
verstehen kann, wenn man sie nicht »von den furchtbaren Seiten der hinter ihm
liegenden Geschichte« loslöst. Doch er belässt es nicht dabei, vorangegangenen
Zeiten die Schuld an Verfehlungen zu geben. Er nimmt auch Elemente der
kommunistischen Ideologie in den Blick: »Während er (der Kommunismus, A.W.)
verbissen die Utopie einer von Widersprüchen und Konflikten unberührten
Gesellschaft verfolgt, bringt er schließlich eine Art permanenter Revolution
und einen permanenten Bürgerkrieg hervor (was sich besonders in der
chinesischen Kulturrevolution niederschlug).«
Farbige und Frauen
Dennoch gibt es für Losurdo keinen Zweifel daran, dass der
»Rote Oktober« legitim war und als humanitäre Antwort dem Versagen der
demokratisch-liberalen Systeme folgte, die sich im Weltkrieg als »reißende Bestien,
als Hexensabbat der Anarchie« (Rosa Luxemburg) erwiesen. Erst die »Wende
Lenins« öffnete den Ausweg aus dieser Nacht. Ihre Impulse sieht Losurdo auf
drei Gebieten: in der Überwindung der »Klassenaristokratie als
Rassenaristokratie«, die sowohl zur Unabhängigkeit kolonialer Völker wie zur
rechtlichen Gleichstellung der Farbigen in den USA und Südafrika führte. Zum
zweiten in der Infragestellung der gegenüber den Frauen verhängten »Ausschlussklausel«.
Losurdo zitiert hier Gramsci, der die proletarische Revolution lobt, da sie
»den Autoritarismus zerstört und ihn durch das allgemeine auch auf die Frauen
ausgedehnte Wahlrecht ersetzt hat«. Die »dritte Etappe, die mit den Umwälzungen
in Russland begann«, sieht Losurdo in dem Kampf um Freiheit von Not, um die
Erringung sozialer Rechte.
Nach Losurdo handelt es sich »im Grunde um einen einzigen Prozess, in dem die
subalternen Klassen die Anerkennung ihrer vollen Menschenwürde fordern«. Es ist
eine globale und nicht eurozentrierte Sicht auf die Geschichte des 20.
Jahrhunderts, die hier geboten wird. Durch die Berücksichtigung der Kämpfe der
Frauen und der Farbigen ist es zudem keine klassenreduktionistische Sicht.
Sozialismus und Kommunismus werden nicht als Irrtümer der Geschichte angesehen.
Es geht Losurdo um die Einbettung des Roten Oktober in den Prozess der
menschlichen Emanzipation.
Losurdos Buch erschien 1998 in Italien unter dem Titel »Il peccato originale
del Novecento – Die Erbsünde des 20. Jahrhunderts«. Man kann es als Kurzfassung
wichtiger Gedankengänge des Gelehrten lesen. Detailliert ausgeführt wurden sie
in seinen in den letzten Jahren in Deutschland erschienenen Büchern wie »Kampf
um die Geschichte«, »Der Marxismus des Antonio Gramsci«, »Von der Utopie zum
›kritischen Kommunismus‹«, »Flucht aus der Geschichte?« und »Stalin: Geschichte
und Kritik einer schwarzen Legende«. Das nun auch auf Deutsch vorliegende
kleine Werk eignet sich daher ideal als Einstieg in das Denken des wohl
wichtigsten heute lebenden marxistischen Philosophen.
Domenico Losurdo: Das 20. Jahrhundert begreifen. PapyRossa Verlag, Köln 2013, 95 Seiten, 8 Euro
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