Die Entsorgung des Klassenstandpunkts - zur Kritik an der kulturalistischen Linken
Hans-Jürgen Bandelt, Die Kultur-Linke und ihr Problem mit Grenzen. Solidarität und Sammlung statt Ausgrenzung, pad-Verlag, Schriftenreihe Forum Gesellschaft und Politik e.V., 2018, 80 S. 5 Euro (ISBN 987-3-88515-296-5
Bereits im ersten Satz stellt der Autor klar, wo er in der Auseinandersetzung um Asyl und Migration steht: „Es ist Solidarität mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten zu üben, in der Heimat wie international. Dazu sind nationalstaatliche Regelungen und zwischenstaatliche Verhandlungen nötig. Eine globale Sozialgesetzgebung kann es nicht geben. Daher sind offene Grenzen als Phantasmen zurückzuweisen.“ Und: „Überall, wo Menschen leben, gibt es Grenzen: Manche sind sichtbar und abschreckend, andere sind wahrnehmbar, aber nicht undurchdringlich, und wiederum andere sind vorhanden, aber unsichtbar.“ (7) Wem fällt da nicht das berühmt gewordene Graffiti an der Berliner Mauer ein: „Der Westen ist schlauer, für ihn ist Geld die Mauer“. Und man denkt an die "gated communities", die es inzwischen in allen großen Städten des Westens gibt. Für die dort gut bewacht und ungestört hinter Schlagbäumen und hohen Zäunen Lebenden sind offene staatliche Grenzen kein Problem. Die Frage nach den Grenzen von Staaten ist daher auch eine Klassenfrage. Die Benachteiligten und Ausgebeuteten müssen ein Interesse an ihrem Erhalt haben. Sowohl jene, die in den abhängigen und ausgebeuteten Ländern leben, denn ziehen die am besten Ausgebildeten weg, wird es dort nie anders werden, als auch die in den reicheren Ländern. Sie werden durch die ungehinderte Zuwanderung in eine unerträgliche Konkurrenzsituation um Arbeitsplätze und sozialstaatliche Leistungen getrieben.
Ein Problem mit Grenzen haben aber die Kultur-Linken. Um die Kritik an dieser Haltung geht es Bandelt in erster Linie, doch er geht darüber hinaus. Der Autor nimmt die Positionen der Kultur-Linken umfassend ins Visier. Chronologisch genau dokumentiert und kritisiert er aktuelle Auseinandersetzungen: Beginnend beim unsäglichen Aufruf „Solidarität statt Heimat“ (13 ff.) über die Vorwürfe von „Querfront und Verschwörungstheorien“ (S.40 ff.), die Beschuldigung des „Antisemitismus“ (45 ff.) und des „Rassismus“ (49 ff.), der abverlangten Political Correctness einer „gendergerechten Schreibweise“ (61 ff.) bis hin zur Demonstration „#ungeteilt“ im Oktober 2018 in Berlin (51 ff.), zu der bekanntlich die linksliberalen Medien und auch SPD-Außenminister Heiko Maas aufgerufen hatten. Nachgezeichnet wird das Handeln der führenden Kräfte in der Partei DIE LINKE und hier insbesondere ihrer Parteivorsitzenden Katja Kipping. Wer heute nach den Stationen des jahrelangen Mobbings von Sahra Wagenknecht durch die Führung der Linkspartei fragt, der kann sie in der Schrift dokumentiert finden.
Bandelt beschreibt anhand von Beispielen die Diffamierungen durch die Kultur-Linke, die dem selbst gewählten Motto von #ungeteilt, was da lautet „Für eine offene und freie Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung“, Hohn spricht: „Eigentlich wird fast allen, die nicht der Kultur-Linken zugehören oder zugeneigt sind, entschlossen entgegengetreten. Denn wer die israelische Politik mit scharfen Worten kritisierte, wäre nach Lesart der durch den Bundestag gefälschten Antisemitismus-῾Definition῾ ein Antisemit. Wer die Merkelsche Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 geißelte, wäre ein Rassist. Wer das Gender Mainstreaming als postmoderne Ideologie bekämpfte, müsste – zumindest nach Definition auf Wikipedia – ein Antifeminist sein. Und wer das Gendersternchen und das Gender-Neusprech brüsk ablehnte, wäre wohl ein LGBTIQ* Feind. Das genau ist der schrille Oberton von #ungeteilt, der den wortreichen berechtigten Klagebass über die desolate soziale Situation in Deutschland überlagert.“ (53)
Was die Folgen dieses Vorgehens betrifft, so zitiert Bandelt den Sozialwissenschaftler Martin Höpner: Es hat „sich die Aufmerksamkeit von der sozialen Konfliktachse auf eine Querachse verlagert, die von Kosmopolitismus, ῾mehr Europa῾, offenen Grenzen und der Verallgemeinerung des postmodernen Lebensstils handelt. Dort, nicht auf der sozioökonomischen Achse findet derzeit Politisierung statt.“ (57) Als verantwortlich für diese Veränderung identifiziert der Autor das postmoderne Denken: „Perfide ist die Umdeutung, die überhaupt das Linkssein in der Postmoderne erfahren hat. Links bedeutete stets Solidarität mit den Unterdrückten, auch wenn diese einen anderen Habitus und Sprachstil pflegten. Der Klassenstandpunkt ist wesentlich. Und da das Ideal der Menschlichkeit und der Beseitigung von Ausbeutung real werden soll, gehört ein universeller Humanismus selbstverständlich zum Kern der Leitvorstellungen für eine klassenbewusste Linke. Wenn der Klassenstand im gesellschaftlichen Diskurs schwindet, geraten die ökonomischen Bedingungen leicht aus dem Blickfeld und werden durch Emanzipationsbestrebungen und Identitätsfragen aller Art ersetzt. Es ist die Postmoderne, die große Teile der Linken, sogar bis hin zu den Kommunisten, transformiert hat. Für die kulturelle Emanzipation wird gekämpft, aber der ökonomische Gesichtspunkt fällt unter den Tisch.“ (58 f.)
Das Eindringen des postmodernen Denkens in die Linke hat zu deren Spaltung geführt: „Diese Kultur-Linke vertritt den progressiven Neoliberalismus im Gegensatz zu jenen, die jegliche Spielart des Neoliberalismus abweisen. Diese Linke denkt, wie sie zu leben strebt, nämlich kosmopolitisch. Diejenigen, die sich diesen Lebensstil nicht leisten können und auf Solidarität eines Sozialstaats angewiesen sind, gehören dann der sozialen Linken alias kommunitaristischen Linken an.“ (59) Die Partei DIE LINKE bezeichnet der Autor denn auch als „linksneoliberal“ (60).
Die Wortwahl „Kultur-Linke“ soll hier hinterfragt werden, denn warum sollte man dieser Spielart des progressiven Neoliberalismus den doch positiv besetzten Begriff „Kultur“ zugestehen? Besser wäre es, würde man sie als kulturalistische Linke bezeichnen.
Das Buch Bandelts steht im Kontext zu vergleichbaren Büchern und Artikeln von Nancy Fraser, Diana Johnstone, Nils Heisterhagen, Martin Höpner, Wolfgang Merkel, Andreas Nölke, Wolfgang Streeck, Michael Bröning, Bernd Stegemann und Didier Eribon. Viele dieser Autoren werden in dem umfangreichen und detaillierten Anmerkungsapparat der Broschüre aufgeführt. Auch Texte des Autors dieser Rezension werden genannt. Sie alle wenden sich gegen die Kultur-Linke bzw. kulturalistische Linke, denn sie ist es, die durch ihre Verengung auf Lebensstilfragen und auf die moralische, libertäre Befindlichkeit den Klassenkampf als Kern der Linken preisgibt und damit den Aufstieg rechter Kräfte überhaupt erst möglich gemacht hat.
Der Text der Broschüre wurde im Oktober 2018 abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt konnte man noch die Hoffnung haben, dass sich die soziale Linke in der von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine initiierten Bewegung Aufstehen sammeln würde. Der Autor selbst hatte sich zu ihr bekannt und sich in einer Braunschweiger Gruppe von Aufstehen engagiert. Von Beginn an stand er allerdings der Position Wagenknechts und Lafontaines skeptisch gegenüber, wonach die neue Bewegung genügend Druck auf SPD, Grüne und DIE LINKE entwickeln könnte, so dass sie zu einem Schwenk nach links gezwungen werden könnten: „Der Glaube, die Bewegung ῾könnte den pflichtvergessenen Parteien Dampf machen und so neue Mehrheiten schaffen῾ wird an der Realität wohl schnell zerschellen. Denn jene drei Parteien links von der Merkelschen Mitte werden sich keinen Deut bewegen, außer sich in der heftigen Ablehnung der Sammlungsbewegung übertreffen zu wollen. Diese Parteien haben mit ihrer konsequenten Umsetzung neoliberaler Grundsätze die Menschen der unteren Schichten völlig aus dem Blick verloren. Oskar Lafontaines Hoffnung, dass die Bewegung auf die ehemals linken Parteien erfolgreichen Druck zur Erneuerung ausüben würde, wird sich mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit nicht erfüllen.“ (66 f.) Und genau so ist es auch gekommen.
Da abzusehen war, dass dieser Plan der Initiatoren von Aufstehen nicht aufgehen werde, hatte Bandelt im Herbst 2018 noch die Hoffnung, dass die Bewegung – trotz aller offiziellen Dementis – am Ende doch zur Neugründung einer linkspopulären Partei führen werde: Es „wird sich eventuell zeigen, ob nicht die Bewegung bald ein eigenes Momentum bekommt, so dass Sahra Wagenknecht gar nicht umhinkommt, es (die Gründung einer Partei, A.W.) doch zu tun.“ (66) Bandelt spricht sich in der Broschüre für einen solchen Schritt aus, denn wir „brauchen eine neue, wirklich linke Partei, in der all diese Menschen und andere Gehör finden und nicht Verachtung. Gründen wir sie bald – zu Zehntausenden. Denn wer einmal aufgestanden ist, um zu lüften, will eben nicht nur dumm rumstehen oder den Zorn über die sechs neoliberalen Parteien im Deutschen Bundestag veratmen, sondern etwas dagegensetzen, etwas tun.“ (68)
Gut sechs Monate nach Abfassung dieser Zeilen steht fest, dass es dazu nicht kommen wird. Nicht allein die Hoffnung auf eine neue Partei ist inzwischen zerstoben, Aufstehen liegt nach dem Rückzug von Sahra Wagenknecht in Trümmern, und jetzt folgt, was in solchen Situationen der Niederlage regelmäßig passiert: Streit über die Gründe des Scheiterns, die Entstehung sich befehdender Gruppen, verbunden mit Durchhalteappellen.
Womöglich ist aber die Zeit noch nicht reif für eine organisatorische Trennung der sozialen von der kulturalistischen Linken. Von der Bewegung Aufstehen selbst gingen in den letzten Monaten die widersprüchlichsten Signale aus. So wurde zwar im Gründungsaufruf die soziale Frage in den Mittelpunkt gestellt, doch die konkreten Aktivitäten gingen in eine ganz andere Richtung: Gemeinsam mit Grünen und Linkspartei beteiligte man sich prominent an den Protesten um den Hambacher Forst und war man sehr darum bemüht, mit der Herausstellung der eigenen Symbole an der Demonstration #unteilbar als Teil des Bündnisses sichtbar zu sein. Auf diese Weise unterschied man sich aber nicht von der kulturalistischen Linken. Eine „neue, wirklich linke Partei“ – wie sie Bandelt und viele andere fordern – kann sich aber nur in scharfer Auseinandersetzung mit diesen Positionen herausbilden. Für den dafür notwendigen Meinungsstreit hält die Broschüre „Die Kultur-Linke und ihr Problem mit Grenzen“ gute Argumente bereit.
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