Die "abwesende" Linke

Rezension von Andreas Wehr

Domenico Losurdo: Wenn die Linke fehlt… Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg, Köln 2017, PapyRossa Verlag, 373 Seiten, 19,90 Euro, 978-3-89438-651-1

Das Urteil des Autors ist hart: Die westliche Linke folgt in ihrer großen Mehrzahl einer Ideologie, „die von Anfang an die Geschichte der USA begleitet hat, die sich schon in den Jahrzehnten als ῾Reich der Freiheit῾ brüsteten, in denen quasi alle ihre Präsidenten Sklavenhalter waren und das Land auf dem amerikanischen Kontinent den Befürwortern des Instituts der Sklaverei als Maßstab galt. Zu einem großen Teil ist auch die Linke Opfer oder Träger dieser Ideologie, die den Tauglichkeitstest von Jahrhunderten Geschichte und Krieg siegreich überstanden hat. Diese Linke hält sich für kritisch und vorurteilsfrei, ist aber in Wirklichkeit chauvinistisch und macht sich den Chauvinismus der Ersten Welt zu eigen.“ (346) Der Autor spricht von der „kulturellen und politischen Verwüstung, die die Linke befallen“ hat (63) und fragt angesichts dieser Situation: „Gibt es im Westen noch eine Linke?“ (60) 

Losurdo beschreibt in seinem Buch die vom Westen geführten Kriege und inszenierten Staatsstreiche gegen alle, die sich seinen Diktaten nicht beugen wollen. Die Linke verhält sich demgegenüber passiv bzw. unterstützt diese Verbrechen sogar. Unter dem „Westen“ versteht dabei Losurdo in erster Linie die USA. Zwar nehmen „an diesen Kriegen und Staatsstreichen oft auch die EU-Länder teil. Sie sind hauptsächlich Vasallen der USA.“ (13) Nur den USA kommt der Rang eines Imperiums zu: „In Übereinstimmung mit der hier für die Gegenwart präzisierten ῾hierarchischen Ordnung῾ gebrauche ich den Ausdruck Imperium (und Imperialismus) nur bezüglich der USA. Die europäischen und asiatischen Verbündeten mögen Protagonisten schändlicher Kolonialkriege sein, doch nur unter der Bedingung, den Großen Bruder nicht herauszufordern; mögen sie sich auch mit ihrer angemaßten Überlegenheit über die ῾Barbaren῾ brüsten, bleiben sie dennoch, wenn schon nicht ῾Vasallen῾, so doch subalterne Partner der Vereinigten Staaten.“ (83) An anderer Stelle spricht der Autor von „einer neuen Arbeitsteilung im Rahmen des Imperialismus, aber nicht ohne innere Widersprüche. Die traditionellen kolonialen Großmächte wie England und Frankreich konzentrieren sich auf den Nahen Osten und Afrika, während Deutschland (…) seine Aufmerksamkeit auf den Balkan und Osteuropa konzentriert und dort Aktivität entfaltet; die USA können so ihren Militärapparat immer mehr nach Asien verlagern, um mit diesem ῾pivot῾ die Volksrepublik China ins Visier zu nehmen.“ (266)

Die heutige Weltlage unterscheidet sich nach Losurdo demnach deutlich von der, wie sie Lenin 1916 bei der Abfassung seiner Imperialismusschrift vorfand. Seinerzeit konnte noch von mehreren mehr oder weniger gleichstarken imperialistischen Staaten ausgegangen werden, die in einem Ringen auf Leben und Tod um die Neuaufteilung der Welt standen. Doch nach 1945 ist das grundlegend anders geworden. Losurdo folgt hier dem italienischen KPI-Vorsitzenden Palmiro Togliatti: „Der Widerspruch zwischen ῾kapitalistisch entwickelten῾ Ländern ist nicht notwendigerweise und ausschließlich ein zwischenimperialistischer Widerspruch, er kann auch ein Widerspruch zwischen einem besonders mächtigen und aggressiven Imperialismus und einer potentiellen Kolonie oder Halbkolonie sein.“[i] Damit wendet sich der Autor auch gegen aktuelle Analysen marxistisch-leninistischer Parteien, wonach es weiterhin eine Konkurrenz unter mehreren imperialistischen Staaten um die Vorherrschaft in der Welt gibt, die sogar in einem Krieg enden kann. Davon kann aber angesichts der ungeheuren militärischen und technologischen Übermacht der USA heute keine Rede mehr sein.

Losurdo ruft die unter Führung der USA nach 1945 stattgefundenen imperialistischen Kriege und Umsturzversuche in Erinnerung. Diese Reihe beginnt im Iran 1953, führt über verschiedene Putsche in lateinamerikanischen Ländern, „Volksaufständen“ in Bulgarien und Rumänien 1989, die Kriege gegen den Irak 1999 und 2003, den Putsch in Serbien 2000, die „Rosenrevolution“ in Georgien 2003, den Krieg in Libyen 2011, bis zum Umsturz in der Ukraine 2014 bis zur heutigen Destabilisierung Syriens. Und damit sind nur die wichtigsten Schauplätze benannt, auf denen die USA unter Assistenz anderer Mächte in den letzten Jahrzehnten ihre Macht brutal einsetzten.

Die Gesellschaft des Westens ist eine des „Spektakels“, in dessen Zentrum ein hemmungsloser und alle manipulativen Instrumente nutzender „Empörungsterrorismus“ steht. (22) Zum Gestus der Empörung bzw. Entrüstung zitiert der Autor Friedrich Nietzsche: „Und niemand lügt soviel als der Entrüstete.“ (18) Herausgestellt wird die historische Kontinuität dieses „Empörungsterrorismus“: „Heutzutage wird die Aggression im Namen der ῾Werte῾ und der westlichen ῾Interessen῾ durchgeführt. Die Leitideologie der klassischen Kolonialkriege unterschied sich nicht davon. Zu ihrer Vorbereitung auf ideologischer Ebene dienten in der Vergangenheit die christlichen Missionare, die heute ihren Platz den Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) überlassen haben.“ (23) Und zum Opfer dieser Entrüstung ist jetzt vor allem die Linke geworden: „Der Entrüstungsterrorismus, der die Entfesselung der neuen Kolonialkriege dominiert, hat vor allem die Linke eingeschüchtert.“ (22)

Losurdo beschreibt das Versagen der Linken an Beispielen aus Italien: Es waren die Generalsekretärin der Gewerkschaft CGIL, Susanna Camusso, und die Mitbegründerin der Zeitung Il Manifesto, Rossana Rossanda, die sich im Februar 2011 mit am entschiedensten für den Krieg gegen Libyen aussprachen und sich dabei einer „überschwänglichen Sprache“ bedienten. Sie wussten es ganz genau: „Ja, in Libyen ist ein Genozid im Gang“ (295). Und das erfordere das sofortige Eingreifen der NATO.

Die Beispiele aus Italien lassen sich durch solche aus Deutschland ergänzen. Hier waren es bekanntlich vor allem SPD und Grüne, die den NATO-Krieg gegen Jugoslawien unter der Flagge der Verteidigung der Menschenrechte führten. Und 2011 war es ausgerechnet die Anführerin des linken SPD-Flügels, die als Juso-Vorsitzende „Rote Heidi“ genannte Heidemarie Wieczorek-Zeul, die im Bundestag den von der FDP gestellten Außenminister Guido Westerwelle scharf angriff, weil er es gewagt hatte, dass sich Deutschland im UN-Sicherheitsrat bei der Mandatierung des Kriegs gegen Libyen zusammen mit Russland und China enthielt. Heute heißt der Feind Assad, der – ginge es nach SPD und Grünen – verschwinden muss. Und auch die deutsche Linkspartei hält sich in Sachen Syrien bedeckt. Einige ihrer Führungsleute unterstützen sogar die Kampagne „Adopt a Revolution“, die offen zum Sturz der syrischen Regierung aufruft. Und wer nennt die vielen Namen all jener, die als Mitglieder von K-Gruppen, als Trotzkisten oder der DKP einst nicht radikal genug sein konnten und heute, aufgestiegen in Politik und Medien, eifrige Propagandisten des „Empörungsterrorismus“ sind?

Nach Losurdo haben „Die Ex-Kommunisten (…) eindeutig das Grundmotiv der heute herrschenden Ideologie verinnerlicht, d.h. die damnatio memoriae (Verbot des Andenkens, A.W.) des Kommunismus als einer Bewegung, die taub ist für moralische Überlegungen und deshalb bereit, diese auf dem Altar der Geschichtsphilosophie zu opfern. Deshalb verfallen die Ex-Kommunisten bei jeder Gelegenheit, wo durch Psywar (psychologischer Krieg, A.W.) und Spektakelgesellschaft ein Konflikt als Gegensatz von Gut und Böse dargestellt wird, in Panik und beeilen sich, sich als die unbeugsamsten Vorkämpfer der Moral zu präsentieren. Jedem ist andererseits der besondere Eifer bekannt, den Neubekehrte zeigen.“ (294) Es war „der Geschichtsrevisionismus, der Verwirrung schuf“. (301) In seinem 2007 auf Deutsch erschienenen Buch „Kampf um die Geschichte“ hatte der Autor den „historischen Revisionismus und seine Mythen“ eingehend beschrieben. Darauf greift er jetzt in seinem neuen Buch zurück.

Für eine solche Linke, in der sich „nicht wenige frühere Kommunisten zusammengetan“ (300) haben, hat er nur Verachtung übrig. Er nennt sie „imperiale Linke“. (297) Und „dass sich die imperiale Linke durchsetzt, ist ein Symptom für die allgemeine Krise der Linken im Westen“. (300) Es sind in erster Linie ihre intellektuellen Wortführer, die versagen: „Vor diesem Hintergrund kann man die Kapitulation weiter Teile der heutigen westlichen Linken verstehen, in der in Folge der gravierenden Schwächung der Arbeiterbewegung jene intellektuellen und ideologischen Lager ein entscheidendes Gewicht haben, die nach der Analyse von Marx dazu neigen, die ῾moralischen῾ Illusionen, die die Bourgeoisie über sich selbst pflegt, schrecklich ernst zu nehmen“. (294f.)

Die intellektuellen Wortführer dieser Linken sind nach Losurdo Sozialliberale wie Norberto Bobbio und Jürgen Habermas aber auch Michel Foucault, David Harvey, Michael Hardt, John Holloway und Slavoj Žižek, bei denen der Autor nicht wenige „anarchistische Tendenzen“ (318) erkennt. Ein Wort Hegels aufgreifend, bezeichnet er sie als „schöne Seelen“. Von diesen wird auch die Nation in Bausch und Bogen als überkommen verworfen. Dabei ist es doch der „Neokolonialismus, der vorankommt, indem er das Ende des Nationalstaats proklamiert und das Heraufdämmern eines Weltstaats begrüßt, der sich, wie es scheint, am Horizont abzeichnet.“ (233)

Von den „schönen Seelen“ wird auch regelmäßig China als kapitalistisch, wenn nicht sogar als neue imperialistische Macht verurteilt. Die einst von der westlichen Linken bewunderte Zweite Welt gibt es zwar nicht mehr, doch die übrig gebliebenen Länder haben ihre sozialistische Orientierung nicht aufgegeben: „China, Vietnam und in letzter Zeit auch Kuba (stellen sich) auf internationaler Ebene nicht mehr als alternatives Gesellschaftsmodell gegen das herrschende dar, beanspruchen nicht mehr, der ῾Leuchtturm des Sozialismus῾ im einen oder anderen Teil der Welt zu sein. An erster Stelle engagieren sie sich, zu den industriell und technologisch weiter entwickelten Ländern aufzuschließen, um (…) vom Westen und insbesondere seiner Führungsmacht inszenierte Destabilisierungsversuche zu vereiteln. Nicht weil die sozialistische Orientierung aufgegeben würde, sondern aufgrund der neuen Prioritätenskala tendieren China, Vietnam und Kuba dazu, Teil der Dritten Welt zu werden. (…) Zu dieser erweiterten Dritten Welt, die auch die Schwellenländer umfasst, ist in gewisser Weise auch Russland hinzugekommen.“ (343) Verändert hat sich die Bedeutung von Innen- und Außenpolitik: „Diese größere Dritte Welt, (…) stellt trotzdem eine Alternative zur herrschenden Weltordnung dar, aber weniger auf der internen Ebene der einzelnen Länder als bezüglich der internationalen Arbeitsteilung (…).Der (auch technologisch) rasante Aufstieg Chinas ist der spektakulärste Beweis für die epochale Veränderung der Kräfteverhältnisse, die sich derzeit weltweit vollzieht.“ (344f.)

Die wenigsten westlichen Linken machen sich heute die Mühe, diesen widerspruchsvollen Prozess zu verstehen und auszuhalten, ist es doch sehr viel einfacher, etwa aus Anlass des G20-Gipfels im Juli 2017 in Hamburg sowohl gegen Merkel, Trump und Erdogan wie auch gegen Putin und Xi Jiping zu demonstrieren, seien sie doch alle gleichermaßen für Not, Hunger und Krieg in der Welt verantwortlich. Losurdos Kritik daran trifft auch traditionelle kommunistische Parteien, die Stalin verehren und zugleich „gegen China die Gemeinplätze der herrschenden Ideologie und Macht wiederkäuen“. (347)

Die im Westen verbliebene Linke steht in Gefahr, zu einem Anhängsel der „Spektakelgesellschaft“ zu werden. Losurdo stellt denn auch gleich zu Beginn die entscheidende Frage: „Wann wird die westliche Linke endlich imstande sein, von dieser tragischen Gefahr Kenntnis zu nehmen und dann entsprechend zu handeln?“ (17) Davon wird es abhängen, ob sie wieder an Selbständigkeit und Kraft gewinnen kann, oder ob sie gänzlich verschwindet.

Andreas Wehr

Erschienen in der Zeitschrift Marxistische Blätter 2_18



[i] Domenico Losurdo, Palmiro Togliatti und der Friedenskampf gestern und heute, in: Marxistische Blätter 1_2017, S.100

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