Der europäische Traum und die Wirklichkeit

Von Andreas Wehr ist im Herbst im PapyRossa Verlag das Buch „Der europäische Traum und die Wirklichkeit. Über Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit, Beck und die anderen“ erschienen, in dem sich der Autor mit den Europa-Verklärungen namhafter Intellektueller auseinandersetzt. Das Werkstatt-Blatt stellte dem Autor dazu folgende Fragen:

Werkstatt-Blatt: Andreas, in der Einleitung zu deinem neuen Buch schreibst du, dass der Europäischen Union die Legitimation abhanden kommt. Woran machst du das fest?

Andreas Wehr: Sie kommt ihr in doppelter Weise abhanden. Zum einen verliert die EU an Zustimmung in den Bevölkerungen der Mitgliedsländer, zugleich verlieren ihre traditionellen Legitimationsideologien an Bindungskraft.

Seit Beginn der Eurokrise schwindet so gut wie überall die Zustimmung zur EU. Immer weniger Menschen trauen ihr noch zu, hohe Arbeitslosigkeit und wachsende Verschuldung bekämpfen zu können. Vor allem in den von der Eurokrise am stärksten betroffenen Ländern, in Griechenland, Irland, Portugal und in Zypern, schwindet das Vertrauen. Dort ist es vor allem die hohe Arbeitslosigkeit, die die Menschen an der EU verzweifeln lässt. Die Eurokraten in Brüssel fürchten daher einen weiteren Rückgang der Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament in diesen Ländern. Sorgen bereiten ihnen auch die zu erwartenden Zugewinne von EU-kritischen linken Parteien in Südeuropa. Beides würde eine Schwächung der  Legitimation der Union bedeuten.

In Mittel- und Nordeuropa beruht der Vertrauensverlust in die EU auf der Angst vor hohen Kosten einer Transferunion zugunsten des Südens. Mit Missmut sieht man dort auch den Wertverlust von Sparguthaben aufgrund des gegenwärtig sehr niedrigen Leitzinses der EZB. Hiervon profitieren vor allem rechtspopulistische Kräfte. Auch die Stärkung solcher Kräfte bei den Europawahlen untergräbt die Legitimation der Union.

In der Krise sind auch die europäischen Legitimationsideologien. Früher genügte es, darauf hinzuweisen, dass die Gründung der Europäischen Gemeinschaften 1957 in Rom Ausdruck der Friedenssehnsucht der Völker nach dem Zweiten Weltkrieg war, die Union also eine Friedensunion ist. Sie wurde auch als Wohlstandsunion verklärt, die auf diese Weise die Völker einander näher bringt. Doch die Realität heute sieht ganz anders aus. Die Union ist längst nicht mehr Friedens-, sondern Militärmacht und wachsenden Wohlstand garantiert sie auch nicht mehr für alle. Im Gegenteil: Die Länder der Peripherie fallen immer weiter zurück.

Deshalb ja ist man auf der Suche nach neuen Legitimationsideologien. Eine der wichtigsten besteht in der Beschwörung der Angst vor einem Abstieg der europäischen Mächte in der globalen Konkurrenz, vor allem gegenüber China und anderen Schwellenländern. Und diesem Abstieg könne man – so heißt es jetzt - nur mittels einer forcierten Integration begegnen. Von dieser angeblichen „Notwendigkeit Europas als Supermacht in einer globalisierten Welt“ handelt vor allem mein Buch.

Werkstatt-Blatt: Du setzt dich in deinem Buch mit den Europa-Konzepten eines halben Dutzends namhafter Intellektueller – Politiker, Wissenschaftler und Publizisten – auseinander. Warum gerade mit diesen und welche Gemeinsamkeiten lassen sich aus ihren Konzepten herauslesen?

Andreas Wehr: Ich musste mich natürlich auf einige besonders Namhafte beschränken. Jeremy Rifkins Buch der „Europäische Traum“ hat eine ungeheure Verbreitung gefunden und der Buchtitel ist zur Metapher für unzählige Geschichten über Europa geworden. Es war wichtig, einmal genau zu untersuchen, was an der Argumentation überhaupt dran ist. Jürgen Habermas und Ulrich Beck genießen in Kreisen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften großes Ansehen, und das nicht nur in Deutschland. Bei dem Manifest „Für Europa“ von Daniel Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt handelt es sich um ein aggressives Plädoyer für mehr Europa, und das ausgerechnet von einem Grünen und einem Liberalen. Schließlich fand ich es wert, auch das Buch von Martin Schulz zu behandeln, da man es als Bewerbungsrede des gegenwärtigen Parlamentspräsidenten für seine Kandidatur für die Spitzenposition der europäischen Sozialdemokraten lesen kann.

Jeder dieser Autoren setzt natürlich seine eigenen, spezifischen Akzente. Zugleich gibt es aber auch Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Und die größte Übereinstimmung besteht in der Forderung nach Schaffung eines „Global Players EU“. Das wird mal verhalten ausgesprochen, wie etwa von Habermas und Beck, mal offen und aggressiv gefordert, wie bei Cohn-Bendit und Verhofstadt.

Werkstatt-Blatt: Ein entscheidender Streitpunkt in der EU-Kontroverse ist die Frage Nationalstaat versus Globalisierung. Kann der Nationalstaat die Interessen seiner BürgerInnen – ich denke vor allem an demokratische Teilhabe und soziale Errungenschaften – angesichts der Globalisierung nicht mehr gewährleisten, wie einige der Europa-Ideologen behaupten?

Andreas Wehr: Genau das ist ja eines der zentralen Argumente der Befürworter einer europäischen Integration. Es lautet zusammengefasst: Allein auf den Nationalstaat gestellt, können wir in einer globalisierten Welt unseren Wohlstand nicht erhalten. Das ist aber eine bloße Ideologie, da sie mit der Realität nichts zu tun hat. Länder wie Deutschland, Großbritannien und Frankreich, aber auch kleinere Staaten wie die Niederlande oder Österreich können sich in dieser angeblich so globalisierten Welt sehr gut behaupten, sie gewinnen sogar nach außen – zumindest im regionalen Rahmen  – Macht hinzu. Österreichische Unternehmen und Banken  konnten etwa vom Ende des Sozialismus in Osteuropa stark profitieren und sind heute dort überall präsent.

In der EU zusammengeschlossen, wollen diese Länder nun eine – neben den USA – zweite Weltmacht des Westens werden, wenn nicht gar die Weltmacht. Im Rahmen der Union will man mit den USA gleichziehen und zudem aufsteigende Mächte wie China in Schach halten. Zur Erreichung dieses Ziels soll die EU der global „wettbewerbsfähigste Raum“ werden, wie es in der Lissabonagenda von 2000 heißt. Mehr Wettbewerb heißt aber immer Absenkung sozialer Standards. Die Mitgliedsländer sollen zugleich wichtige Souveränitätsrechte, wie etwa das Budgetrecht, an eine künftige Wirtschaftsregierung in Brüssel abgeben. Das heißt Abbau von demokratischen Rechten durch Zentralisierung. All das ist aber das krasse Gegenteil von demokratischer Teilhabe und dem Erhalt sozialer Errungenschaften.

Werkstatt-Blatt: Der französische Publizist Pierre Levy, der vor kurzem bei uns in Wien und Linz zu Gast war, berichtete von einem offenen Brief französischer Gewerkschafter/innen und Intellektueller an ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen mit der Aufforderung zu einer ergebnisoffenen Diskussion über die Bilanz der EU und über die Konsequenzen daraus. (1) Was hältst du von dieser Initiative und was weißt du über Reaktionen in der BRD?

Andreas Wehr: Ich begrüße ausdrücklich diese Initiative. Die europakritischen Kräfte brauchen unbedingt eine engere Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg. In der EU werden ja permanent die Arbeiterklassen gegeneinander ausgespielt. Das kann man an der Entwicklung der deutschen Agenda 2010 sehr gut studieren. Vor zehn Jahren hieß es in Deutschland: Wir brauchen geringere Löhne und die Absenkung sozialer Standards, damit „wir“ in Europa und weltweit nicht an Konkurrenzfähigkeit einbüßen. Heute werden die Lohnabhängigen der anderen EU-Staaten – und hier insbesondere die Frankreichs – mit dem Argument unter Druck gesetzt, dass man dem „deutschen Weg“ folgen müsse, um in Europa Anschluss zu halten. Und dabei spielt stets die EU den Vermittler und Verstärker des Drucks. Es ist höchste Zeit, dass dieser Mechanismus des Gegeneinanderausspielens erkannt und überwunden wird.

in: Werkstatt-Blatt 1/2014

(1) Vergleiche dazu das Interview mit Pierre Levy, in: Werkstatt-Blatt 4/2013, S. 9 bzw. auf www.werkstatt.or.at/index.php?option=com_content&task=view&id=983&Itemid=1“

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