Die neuen Hitler. Ein Beitrag wider die Phrase

Vor 25 Jahren veröffentlichte der italienische Philosoph und Historiker Domenico Losurdo in den Marxistischen Blättern[1] den Artikel „Die neuen Hitler. Ein Beitrag wider die Phrase.“  Ein Text, der noch heute hochaktuell ist. In der Einleitung heißt es: „Zur außergewöhnlichen Persönlichkeit und dem Wirken Lenins gehört ein eher selten untersuchter Aspekt, der eine zugleich theoretische und pädagogische Dimension hat: nämlich der Kampf gegen die hochtönende und leere 'revolutionäre Phrase'. (…) Denn: 'Die revolutionäre Phrase besteht in der Wiederholung revolutionärer Losungen ohne Berücksichtigung der objektiven Umstände bei der jeweiligen Wende der Ereignisse'.“

Was waren seinerzeit die objektiven Unterschiede zwischen der neuen und der alten Lage, auf die Lenin Bezug nahm? Nach Losurdo steckte die junge Sowjetmacht in einer ungeheuer schwierigen Lage: „Sie hatte nicht nur mit der inneren Konterrevolution zu kämpfen, sondern wurde auch von der imperialistischen Aggression überrollt. Wie war der Angriff dieser schier übermächtigen Gegner zurückzuschlagen? Welcher Feind war der gefährlichste? Und welche Kompromisse würden sich als nützlich oder unverzichtbar erweisen, wo es um die Rettung der Sowjetmacht ging? Doch 'die Helden der revolutionären Phrase' verachten solche mühsamen Überlegungen; die revolutionäre Phrase ist eine Losung, die nichts als 'Gefühle, Wünsche, Entrüstung, Empörung' zum Ausdruck bringt (Lenin 1918).“ [2]

Tatsächlich verharrte die internationale kommunistische Bewegung noch lange nach der Oktoberrevolution in der Vorstellung einer Welt von 1914: Einer Welt erbarmungslos konkurrierender imperialistischer Mächte, deren Kräftemessen jederzeit zum Ausbruch von Kriegen, zu einem neuen Weltkrieg führen konnte, ja musste. In einer solchen Situation sollten sich die Kommunisten – wie einst die russischen Bolschewiki - der Vaterlandsverteidigung verweigern und zugleich die opportunistischen Sozialdemokraten des Burgfriedens scharf angreifen, um deren Einfluss auf die Arbeitermassen zu brechen. Die Ereignisse der Weltwirtschaftskrise von 1929 schienen diesen Kurs zu bestätigen. Spitzten sich doch jetzt erneut die innerimperialistischen Widersprüche in einer Weise zu, dass ein Kampf jeder gegen jeden erneut wahrscheinlich wurde? Und damit rückte angeblich die ersehnte Weltrevolution wieder in den Bereich des Möglichen.  

Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Zwar erstarkten im Zuge der Krise die Kommunisten, doch rechtsradikale bzw. faschistische Kräfte profitierten überall in Europa unvergleichlich stärker von ihr. Sie kamen zunächst in Italien, dann in Polen, Rumänien, Österreich, Deutschland, Portugal und Spanien an die Macht. Vor allem die Machtübernahme der deutschen Faschisten unter Hitler veränderte das Antlitz des Kontinents.                  

Es dauerte bis 1935, bis zum VII. Weltkongress der Komintern, ehe sich die kommunistischen Parteien dieser grundsätzlichen Veränderung bewusst wurden. Nach Losurdo vollzog sich „der komplizierte Lernprozess unter den dramatischen Bedingungen der immer drohender bevorstehenden Gefahr von Krieg und Faschismus: Zu den objektiven Schwierigkeiten kommen die Unerfahrenheit, die subjektiven Irrtümer und Verbrechen, durch die aus Widersprüchen im Volk, und dafür sind alle verantwortlich, antagonistische Widersprüche werden. Tatsache bleibt, dass die neue revolutionäre Welle einzusetzen beginnt, als die kommunistische Bewegung das Analogienspiel aufgibt und die konkrete Situation endlich konkret analysiert. Jene wenigen (Bordiga, Trotzki u.a.), die weiterhin nostalgisch die Losung der Transformation des imperialistischen Kriegs in den revolutionären Bürgerkrieg propagieren, geben sich damit als Gefangene einer 'Phrase' zu erkennen und trennen sich letztlich vom Heer der kommunistischen Bewegung.“

Zwar schien der Zweite Weltkrieg mit den Kriegen zwischen Nazideutschland mit Frankreich sowie Großbritannien anfangs Blick tatsächlich eine Wiederauflage des ersten zu sein, doch das änderte sich grundlegend mit dem Angriff der Wehrmacht auf die UdSSR im Juni 1941: Der Schwerpunkt des Krieges lag nun eindeutig in der Eroberung neuer Kolonien. Deutschland überfiel die Sowjetunion, um sich das Riesenreich als Kolonie unterzuordnen: Hitler als „letzter Konquistador der Weltgeschichte“. Mit der Vernichtung des ersten sozialistischen Staates erhoffte Nazideutschland die Führungsrolle im Kampf gegen die Komintern zu erringen und, mit der Trophäe der Eroberung Moskaus in der Hand, die westlichen Staaten USA, Frankreich und Großbritannien ausstechen zu können. Die deutsche Weltmachtrolle sollte auf dem „Ruhm“ errichtet werden, der kommunistischen Hydra ein für allemal den Kopf abgeschlagen zu haben. Ein vergleichbares Ziel verfolgte Japan in Asien. Es versuchte, sich China als Kolonie zu unterwerfen. Das Land der aufgehenden Sonne strebte nach der Hegemonialmacht in Asien und die USA von dort zu verdrängen. Auch Italien, als drittes Land der Achsenmächte, versuchte durch die Eroberung Äthiopiens sowie Albaniens und Griechenlands eine bedeutende Kolonialmacht zu werden.              

Die vernichtende Niederlage des deutschen Faschismus am 8. Mai 1945 und die wenige Monate darauf folgende Kapitulation Japans haben die Welt grundlegend verändert. Die Sowjetunion wurde zur Weltmacht und die antikolonialistische Bewegung erlebte einen ungeheuren Aufschwung: Indien errang 1947 die Unabhängigkeit. 1949 rief Mao Tse Tung die Volksrepublik China aus. In den folgenden Jahren wurden fast überall in Asien und Afrika die alten Kolonialmächte verdrängt.    

Doch auch jetzt zeigte sich für Losurdo, dass sich die kommunistische Bewegung „nur sehr widerwillig von ihren großen historischen Erinnerungen und dem damit verbundenen Analogienspiel“ trennt. Er bezieht sich dafür auf die 1968 entstandenen Gruppen, die „nicht müde“ werden, „von der neuen 'Resistenza' und den 'neuen Partisanen' zu sprechen. Die Vorstellung, die Krise würde die Bourgeoisie veranlassen, erneut den faschistischen Weg zu gehen, war weit verbreitet; diesmal allerdings würde der Kampf zur Wiedereroberung der Demokratie zu Ende geführt und der Kapitalismus ein für alle Mal gestürzt.“ Losurdo fügte dem jedoch hinzu: „Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: nicht dass es an Staatsstreichen und versuchten Staatsstreichen gemangelt hätte; doch sogar die Militärdiktatur, die es allerdings vom Faschismus im eigentlichen Sinne zu unterscheiden gilt, war zumeist als provisorische Lösung gedacht, als eine Zwischenetappe auf dem Weg zur Verwirklichung jener Neuen Weltordnung, die heute, nach dem Ende des 'sozialistischen Lagers' und der von ihm ausgelösten Ängste, sich, wie wir sehen, klar abzuzeichnen beginnt.“

Losurdos Urteil ist eindeutig: „Es ist also Unsinn, den Horizont nach Anzeichen für den neuen Hitler abzusuchen. Ebenso gut könnte man auf die Ankunft des Antichrists warten. Im einen wie im anderen Falle handelt es sich um eine religiöse Vorstellung: die Neuauflage des absoluten Bösen und den erhofften vollständigen und endgültigen Sieg des Guten. In Wirklichkeit werden sich die Hitlerhorden, die in Stalingrad gestoppt und schmählich besiegt und dann von der heroischen Roten Armee bis zur endgültigen Niederlage des Dritten Reiches zurückgetrieben wurden, nicht wieder aus ihrer Asche erheben. Die kommunistische Bewegung hat entscheidend zur Liquidierung des Nazismus auch auf der ideologischen Ebene beigetragen. Noch in der 30er Jahren hatte der Begriff 'Rassismus' einen keineswegs eindeutig negativen Beigeschmack; auf die 'Rassenkunde' als angebliche 'Wissenschaft' beriefen sich auch außerhalb Deutschlands nicht wenige 'Wissenschaftler' der kapitalistischen Welt. Mit dem Debakel des Dritten Reichs ist es damit vorbei.“

Scharf fällt Losurdos Kritik an jenen Kommunisten und Sozialisten aus, die weiterhin dem Gespenst eines wiederauferstandenen Nazismus nachjagen: „Eine Linke freilich, die weiterhin dem Analogienspiel frönt und den Horizont nach dem wieder erstandenen oder erstehenden Nazismus absucht, bewegt sich nicht nur in einem imaginären historischen Raum, sondern trägt letztlich auch bei zur Stärkung der Hegemonie des Heiligen Vaters — der in Washington sitzt und heute zugleich über die Exkommunikationsgewalt und die Fähigkeit zur atomaren Vernichtung verfügt. (…) Tatsächlich sind das Streben nach und der Traum von der Weltherrschaft keineswegs verschwunden, sondern haben in unseren Tagen eine noch deutlichere Gestalt angenommen. In diesem Sinne gilt: Wenn es irgendetwas gibt, was an das Dritte Reich denken lässt, das nach der Vorstellung Hitlers mindestens tausend Jahre dauern sollte, so ist es die Neue Weltordnung, beherrscht von den USA, den Trägern einer, nach dem arroganten und visionären Anspruch Clintons, (zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels im Jahr 2000 war Bill Clinton Präsident der USA, A.W.) geradezu 'zeitlosen' weltweiten 'Mission'.“

Für Losurdo besteht kein Zweifel: „Wenn man denn wirklich zum Analogiespiel greifen will, dann gleicht dem Führer am ehesten der Weltherrschaftsaspirant in Washington. (…) Anders als der Nazi-Imperialismus strebt der amerikanische heute keine direkte politische Kontrolle seiner Kolonien und Halbkolonien an. Ihm geht es eher um die Umwandlung der ganzen Welt in einen 'freien Markt' und eine als 'freier politischer Markt' verstandene 'Demokratie', die für die Waren und 'Werte' made in USA offensteht. Der Verwirklichung dieses Ziels sollen einerseits die Förderung ethnischer Spannungen und separatistischer Bewegungen, andrerseits die 'Menschenrechts'-Kampagnen dienen. In den Augen Washingtons ist eine durchorganisierte politische Partei ebenso unerträglich wie eine blühende und autonome nationale Wirtschaft und Technologie (Volkschina passt unter beiden Gesichtspunkten wie die Faust aufs Auge). Die Länder, die ein Hindernis auf dem Weg zur Weltherrschaft bilden können, müssen zerstückelt werden und sich der wirtschaftlichen, multimedialen, kulturellen und politischen Übermacht des amerikanischen Imperialismus öffnen. Im Schatten lauert, bereit zur direkten Intervention und zur Entfesselung 'humanitärer Kriege', ein monströser Militärapparat der Zerstörung und des Todes. Mehr als an den der Nazis, erinnert der heutige amerikanische Imperialismus an den britischen, der den Anspruch erhob, mit seiner Expansion 'die Kriege unmöglich zu machen und die besten Interessen der Menschheit zu fördern'. So drückt sich Cecil Rhodes aus, der die Philosophie des britischen Empire so zusammenfasst: 'Philanthropie + 5 %'.“

„Da es“ – nach Losurdo – „der Linken an einer konkreten Analyse der konkreten Situation fehlt, erweist (sie) sich als unfähig, eine eigenständige Strategie auszuarbeiten. Sie verliert den Hauptfeind aus dem Blick. Während sie sich wegen des Falls Haider [3] entsetzt gaben, führten die USA im Kosovo, in Übereinstimmung mit ihren europäischen Alliierten, eine schreckliche ethnische Säuberung durch.“

Auch heute kann eine angebliche Linke nicht von ihrem sattsam bekannten Analogienspiel lassen, nach dem hinter jeder Ecke der „neue Hitler“ lauert. War es seinerzeit der längst verblichene und zurecht vergessene Blender Jörg Haider, so ist es heute der Aufschneider Björn Höcke von der AfD, dessen bizarren Auftritte regelmäßig Protestbündnisse von der Partei Die Linke bis hin zur CDU/CSU hervorbringen. Hofiert wird dabei eine „Antifa“ als Speerspitze des Kampfes gegen Rechts, die sich gleichzeitig nicht scheut die Fahnen der USA, Israels und selbst der NATO zu schwenken.

Und während man mit dem unsinnigen Spruch „Nie wieder ist heute“ die Massen gegen die vermeintlich faschistische AfD mobilisiert, finanzieren die herrschenden Parteien gleichzeitig eine ukrainische Regierung, deren Existenz zu einem guten Teil auf der Unterstützung rechtsradikaler Milizen beruht. Mit dabei im Chor der Unterstützer des Kiewer-Regimes ist stets die Partei Die Linke. Zwar lehnt sie weitere Waffenlieferungen an die Ukraine ab, doch befürwortet sie gleichwohl schärfere Sanktionen gegenüber Russland. So tut sich ihr Vorsitzender Jan van Aken immer wieder mit der Forderung hervor, russische Öltanker, die die Ostsee durchqueren „an die Kette“ legen zu lassen, was Russlands Marine als Kriegsgrund ansehen wird.

Erneut durchschaut eine Linke, wie schon beim Kosovo-Krieg, nicht die Manöver und Ablenkungsmanöver des Westens: Während sie dem Phantom eines neuen Faschismus nachjagt, versucht der Westen mit Russland einen ihm unangenehmen Konkurrenten in die Knie zu zwingen. Die imperialistische Barbarei geht unter Führung des US-Imperiums weltweit weiter und erfordert nach Losurdo „eine konsequente Strategie und eine Antwort, die auf der Höhe der Situation und also imstande ist, ihr Einhalt zu gebieten. (…) Der Zusammenbruch des 'realen Sozialismus' und der siegreiche Aufstieg der USA zur einzigen Weltmacht verlangt von den Kommunisten, das nationale und internationale Terrain neu zu erkunden. Dabei kann eine Untersuchung der gebräuchlichsten 'revolutionären Phrasen' nur von Nutzen sein, die sich bei genauem Hinsehen nicht selten als ein Widerhall von Gemeinplätzen der bürgerlichen Ideologie entpuppen.“


[1] Domenico Losurdo, „Die neuen Hitler. Ein Beitrag wider die Phrase“, in: Marxistische Blätter, Jahrgang 2000, Heft 4, S. 64 – 71. Dieser Aufsatz war der erste der „Beiträge wider die Phrase“. Ein weiterer erschien in der Ausgabe 6-2000  der Marxistischen Blätter unter der Überschrift „Überwindung des Nationalstaats“?
[2] Zitiert nach Wladimir I. Lenin, Über die revolutionäre Phrase, in Lenin-Werke (LW) 27, S. 1-12
[3] Im Jahr 2000, dem Zeitpunkt der Abfassung des Artikels von Domenico Losurdo steht die Regierungsbeteiligung des Vorsitzenden der Freiheitlichen Partei Österreichs ganz im Mittelpunkt des politischen Interesses. Viele Linke sehen in ihm gar den neuen Hitler.

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