Befreiungsbewegungen als Terroristen

Im Jahr 2007 erschien in Italien das Buch „Il linguaggio dell' Impero. Lessico dell' ideoleologia americana“ des marxistischen Historikers und Philosophen Domenico Losurdo, auf Deutsch wurde es 2011 unter dem Titel „Die Sprache des Imperiums“ veröffentlicht.[1] Darin geht Losurdo unter anderem auf die Instrumentalisierung des Begriffs Terrorismus durch die Staaten des Westens und insbesondere der USA ein. Als Beispiele dienen ihm die seit 1967 andauernde israelische Besetzung des Westjordanlandes sowie des Gazastreifens, der Krieg Israels gegen die Hisbollah im Libanon und die Unterwerfung des Irak durch die USA. Seine Aussagen haben angesichts des Angriffs der palästinensischen Hamas auf Israel und des darauf folgenden Genozids Israels an der Bevölkerung Gazas neue Aktualität erhalten. Die Hamas und die anderen am Angriff des 7. Oktober 2023 beteiligten palästinensischen Organisation werden in nahezu allen Medien als „terroristisch“ bzw. „Terrororganisationen“ gebrandmarkt. Das ist alles andere als neu. Der italienische Historiker und Philosoph beschrieb bereits 2007 die Absicht dahinter: „Die beharrliche, obsessive Anprangerung des 'Terrorismus' zielt nur darauf ab, jede Form des Widerstands gegen die militärische Okkupation zu kriminalisieren, nicht den Konflikt einzuschränken oder seine Verrohung zu verhindern.“ (50)

Vor allem die USA haben die Praxis entwickelt, ihnen missliebige Personen, Organisationen, ja ganze Staaten als terroristisch zu kennzeichnen und sie damit dem Abschuss freizugeben. So wurde Nelson Mandelas Name von der „US terrorist lists“ erst wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag 2013, kurz vor seinem Tod, gestrichen. In den achtziger Jahren war er sowie der African National Congress (ANC), auf diese Liste gekommen. Dass in der Zwischenzeit durch den Kampf des ANC unter Führung Mandelas die Apartheid abgeschafft und er zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas gewählt sowie mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war, spielte keine Rolle. Für Washington blieb er Terrorist! In seiner ersten Präsidentschaft setzte Trump sogar Kuba auf die Terrorliste. Auch der Iran, Nord-Korea und Syrien befinden sich dort. Joe Biden beließ es dabei. Erst wenige Tage vor Ende seiner Präsidentschaft nahm er Kuba von der Liste in der Gewissheit, dass Trump es wieder draufsetzen würde. Und so kam es auch.

Man kann inzwischen von einer wahren Terrorismusinflation sprechen: „Der terroristische Gebrauch der Kategorie Terrorismus findet seinen Höhepunkt in Palästina. Wie ein Dozent der jüdischen Universität von Jerusalem anmerkt, schließt die israelische Regierung in die Aufzählung der 'feindlichen Terroranschläge' auch den 'Steinwurf' mit ein. Aber wenn der palästinensische Junge, der Steine werfend gegen die Okkupation protestiert, 'Terrorist' ist, sollen wir dann den israelischen Soldaten, der ihn erschießt, als Helden des Kampfes gegen den Terrorismus betrachten? Es handelt sich nicht um ein imaginäres Beispiel. Eine israelische Rechtsanwältin, die Palästinenser verteidigt, berichtet von einem zehnjährigen Kind, das bei einem check point an der Ausfahrt aus Jerusalem von einem Soldaten getötet wurde, auf den es nur einen Stein geworfen hatte. Sogar in der einflussreichsten US-amerikanischen Presse können wir von 'schrecklichen Todesszenen' lesen, 'wenn ein israelischer Panzer oder Hubschrauber das Feuer auf eine Gruppe von palästinensischen Demonstranten, einschließlich Kindern, im Flüchtlingslager Rafah eröffnet'. (51f.)

Nach Losurdo „ist es kein konkretes Verhalten (die Miteinbeziehung oder die Aussparung der Zivilbevölkerung), das die Grenzlinie zwischen Terrorismus und Gegenterrorismus bestimmt. Sie fällt vielmehr mit der Grenzlinie zwischen Kultur und Barbarei, zwischen Orient und Okzident zusammen. Die Machthaber, die souverän darüber entscheiden, wer die Barbaren sind, entscheiden genauso souverän darüber, wer die Terroristen sind. Anlässlich der Nahostkrise vom Sommer 2006 sind, nach der großen Tagespresse zu schließen, die von der libanesischen Hisbollah in einer militärischen Operation gefangen genommenen israelischen Soldaten 'Entführte', von den 'Terroristen' 'Verschleppte', die zu ihren 'Geiseln' geworden sind. Die demokratisch gewählten palästinensischen Abgeordneten und Minister, die vom israelischen Heer manchmal mitten in der Nacht und noch im Schlafanzug, ohne Widerstand zu leisten, in ihren Wohnungen abgeholt wurden, sind dagegen 'verhaftet' worden. Von Israel und von den Vereinigten Staaten (aber nicht von Russland und China) wird die Hisbollah als terroristisch abgestempelt (die EU hat 2013 ihren militärischen Arm als terroristisch eingestuft, A.W.): sie hat sich im Verlauf des Kampfes gegen die israelische Besetzung des Südens des Landes formiert, die sich, zusammen mit der wiederholten Verletzung des Luftraums und der Hoheitsgewässer, von 1982 an über achtzehn Jahre und mehr hingezogen hat; weil sie im Volk verwurzelt ist und wegen ihrer Fähigkeit, militärische und politische Aktion miteinander zu verbinden, ist diese Gruppe oft mit den vietnamesischen Guerillakämpfern verglichen worden. Sollen wir eine der größten Befreiungsbewegungen der Zeitgeschichte als terroristisch und als Protagonistin eines gegenterroristischen Kampfes die Supermacht betrachten, die ein ganzes Volk mit Bomben und Dioxin übersät hat? Diese Argumentationsweise hätte Schmitt (gemeint ist der NS-Jurist Carl Schmitt, A.W.) nicht missfallen, dem großen Theoretiker des kolonialen 'Gegenterrors', der seinerzeit auf diese Weise auch die Feldzüge Mussolinis in Äthiopien und Hitlers in Osteuropa gerechtfertigt hatte.“ (53/54)

Losurdos schließt daraus: „Zur Erklärung ihres einzigen Berührungspunktes (die 'Mörder' bzw. die 'Terroristen' sind jedenfalls bei den Kolonialvölkern zu suchen, und es ist gerechtfertigt oder zumindest verständlich, gegen sie zu jeder Art von Waffen zu greifen) kann eine Betrachtung Lenins dienen: für die Großmächte sind ihre Kolonialexpeditionen keine Kriege und das nicht nur wegen des enormen Missverhältnisses der Kräfte zwischen den beiden Lagern, sondern auch, weil die Opfer 'nicht einmal als Völker angesehen werden (irgendwelche Asiaten, Afrikaner – sind das etwa Völker?)'. Die Weigerung also, diejenigen als Frontkämpfer zu betrachten, die dem Westen Widerstand leisten, ist Ausdruck der mehr oder weniger ausgeprägten Tendenz zu ihrer Entmenschlichung. In diesem Sinn können wir die Stellungnahme des damaligen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld verstehen, wonach sich im Irak nur 'Kriminelle, Verbrecherbanden und Terroristen' (thugs, gangs and terrorists) gegen die von Washington geschickten Truppen auflehnten. So drückt sich der Hauptverantwortliche für das Inferno von Guantánamo und Abu Ghraib aus: zwischen der hier in die Tat umgesetzten Entmenschlichung und den zornigen 'Gegenterror'-Erklärungen besteht vollkommene Folgerichtigkeit.“ (55)


[1] Die Sprache des Imperiums. Ein historisch-philosophischer Leitfaden, Köln 2011. Die in Klammern gesetzten Zahlen bezeichnen die Seiten, auf denen sich die angeführten Zitate befinden.  

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