Klasse und Klassenbewusstsein in den Herforder Thesen

In den Herforder Thesen werden Fragen der Entstehung, des Erhalts und der Weiterentwicklung von Klassenbewusstsein ein bemerkenswert breiter Raum eingeräumt. Bezieht man die Aussagen zu den Strömungen innerhalb der Arbeiterbewegung und zu den Gewerkschaften dabei mit ein, so widmen sich die Thesen 22 bis 34 auf den Seiten 43 bis 65 diesen Themen. Das sind nicht wenige Seiten! Mit der Herausbildung des subjektiven Faktors, mit der Bedeutung der Arbeiterklasse haben wir uns also damals sehr eingehend befasst.

Eine starke und einheitlich handelnde Arbeiterbewegung als Bedingung des demokratischen Wegs zum Sozialismus

Interessant ist zunächst die inhaltliche Zuordnung dieser Ausführungen. Sie finden sich im Abschnitt III, der mit „Der demokratische Weg zum Sozialismus in den kapitalistischen Ländern“ überschrieben ist. Und die These 22, mit der dieser Abschnitt beginnt, trägt die Überschrift: “Strategische Bedingungen des demokratischen Weges zum Sozialismus“. In der These 22 selbst heißt es: „In den entwickelten kapitalistischen Ländern ist eine breite, möglichst weit über die Mehrheit hinausgehende Zustimmung in der Bevölkerung eine unverzichtbare Grundbedingung für die angestrebte soziale Umwälzung. Erste Voraussetzung hierfür ist das möglichst geschlossene und an

objektiven Interessen der Klasse ausgerichtete politische und gewerkschaftliche Handeln der Arbeiterbewegung. Darüber hinaus kommt es entscheidend auf die Fähigkeit der Arbeiterbewegung an, für die Durchsetzung der erarbeiteten gesellschaftlichen Alternative auch die Zustimmung anderer, in ihrer objektiven Interessenlage nicht an das Monopolkapital, gebundener Klassen und Schichten zu erreichen.“

Damit ist bereits ein wichtiger Hintergrund beschrieben: Zum Zeitpunkt der Entstehung der Thesen war uns allen die traumatische Erfahrung des chilenischen Militärputsches 1973 gegen die demokratisch gewählte Regierung der Unidad Popular noch sehr präsent. Hinzu traten Befürchtungen und Ängste vor ähnlichen Entwicklungen in Westeuropa. Bekanntlich hatte die französische KP auf dem Höhepunkt der Studentenunruhen im Mai 1968 auf die in Westeuropa stehenden amerikanischen Truppen hingewiesen und ihr Handeln daran ausgerichtet. Bis heute wird sie dafür von Trotzkisten und anderen linksradikalen Kräften kritisiert. In Italien wurde die Strategie der italienischen KP während der gesamten Nachkriegszeit stets mit Rücksicht auf die internationale Kräftekonstellation formuliert. Und wie die Entführung und Ermordung Aldo Moros zeigte, mit der der „historische Kompromiss“ zwischen Christdemokraten und Kommunisten verhindert wurde, waren solche Befürchtungen real.

In den Herforder Thesen wurde versucht, aus diesen Erfahrungen auch für die damals besonders sensible Situation in der Bundesrepublik die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen: Deswegen wurde in den Thesen – wie eben mit dem Zitat aus These 22 gezeigt - auf die Notwendigkeit eines möglichst geschlossenen Handelns der Arbeiterbewegung so viel Wert gelegt. Deswegen wurde der Suche nach „Zustimmung anderer, in ihrer objektiven Interessenlage nicht an das Monopolkapital, gebundener Klassen und Schichten“ so viel Bedeutung zugemessen.

Doch bei aller Betonung der Bündnispolitik ist die folgende Aussage über die Arbeiterbewegung von zentraler Bedeutung für die damaligen Ausführungen über Klasse und Klassenbewustsein. In These 23 heißt es: „Entscheidend für eine sozialistische Umwälzung ist eine Arbeiterbewegung, in der klassenbewusste Positionen vorherrschen und die - je nach nationalen Besonderheiten in unterschiedlicher organisatorischer Form - zu einheitlichem anti-kapitalistischem Handeln befähigt ist.“ Dies ist die entscheidende Aussage, die wir nicht übersehen dürfen.

Die beständige Unsicherheit der Lebenslage der Lohnabhängigen

Warum insistieren nun die Thesen auf der zentralen Bedeutung der Arbeiterklasse? Es ist die von Karl Marx und Friedrich Engels hervorgehobene besondere Rolle der Lohnabhängigen, die wir damals beschrieben haben. Es ist der Doppelcharakter ihrer Stellung im Produktionsprozess – zum einen Objekt der Ausbeutung und Abhängigkeit, zum anderen Hauptproduktivkraft zu sein - , die die Lohnabhängigen zu einer potentiell revolutionären Kraft macht, und sie damit als einzige Klasse in der Lage versetzt, dem Kapital die Herrschaft zu entreißen. In These 23 wird dieser Doppelcharakter wie folgt beschrieben:

„Die Arbeiterklasse ist im Kapitalismus zum einen Objekt kapitalistischer Herrschaft und Ausbeutung. Über die Ausbeutung und Abhängigkeit im Produktionsprozess erfährt sie tagtäglich ihre gesellschaftliche Stellung und zugleich die Notwendigkeit, sich kollektiv gegen die Ausbeutung zur Wehr zu setzen. Zugleich aber ist die Arbeiterklasse der entscheidende Träger der vergesellschafteten Produktion, ist sie die Hauptproduktivkraft. Aufgrund dieser gesellschaftlichen Stellung ist sie das gesellschaftliche Subjekt, das allein in der Lage ist, den Kampf gegen die Ausbeutung mit einer sozialistischen Gesamtperspektive und der Umgestaltung der Gesellschaft zu verbinden. Politische Veränderungen mit sozialistischer Perspektive sind nur möglich, wenn die Arbeiterklasse sich ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihrer objektiven Interessen, soweit sie über die kapitalistische Gesellschaftsformation hinausreichen, in weiten Teilen bewusst wird und entsprechend handelt.“

Die hier benannte „gesellschaftliche Stellung“ der Lohnabhängigen ist eine „der Unsicherheit der Lebensstellung“, die sie nach Friedrich Engels „zu Proletariern macht.“ (MEW 2, S. 344). 1980, als die Thesen formuliert wurden, wurde diese „Unsicherheit der Lebensstellung“ der Lohnabhängigen kaum wahrgenommen. Die lange Nachkriegskonjunktur mit nahezu erreichter Vollbeschäftigung und ein seinerzeit noch weitgehend intakter Sozialstaat hatten ihre tiefen ideologischen Spuren im Bewusstsein der Lohnabhängigen hinterlassen. Man fühlte sich noch ganz auf der sicheren Seite. Heute, 30 Jahre später sind die mehr oder weniger theoretischen Annahmen von damals, bittere Realität geworden. Anhaltende Massenarbeitslosigkeit, die Entstehung eines riesigen Niedriglohnsektors, Hartz IV und die Möglichkeit, das neu entstandene Prekariat zu nicht entlohnter, entwürdigender Arbeit zu zwingen, etwa durch 1-Euro Jobs, demonstrieren heute zur Genüge die Gültigkeit der Engelsschen Aussage von der andauernden „Unsicherheit der Lebensstellung“ der Lohnabhängigen. Was Marx Überbevölkerung oder industrielle Reservearmee nannte, wächst heute wieder im großen Stil. Immer mehr Menschen werden zu "Überflüssigen" abgestempelt.

Im ersten Band des Kapitals, im Abschnitt "Der Akkumulationsprozess des Kapitals" beschreibt Marx den untrennbaren Zusammenhang von immer größerem gesellschaftlichen Reichtum und gleichzeitig wachsender Verelendung: „Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe der Arbeiterbevölkerung und die Produktivkraft ihrer Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. (...) Je größer endlich die Lazarusschicht der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Das ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation.“ (MEW 23, S. 673 f.) Wohlgemerkt: Marx sieht in dieser Entwicklung „das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation.“ Er misst ihr also eine zentrale Bedeutung bei.

Zur revolutionären Rolle des Proletariats

Bertolt Brecht hat die Frage nach dem subjektiven Faktor, nach den gesellschaftlichen Akteuren der Veränderungen, wunderbar knapp und treffend formuliert. In Kule Wampe lässt er einen Arbeiter fragen: „Wer ändert die Welt?“ Ein anderer antwortet: „Der, dem sie nicht gefällt.“ Wer ist nun dieser "der"? Nach den Herforder Thesen sind es die Lohnabhängigen, oder, mit Marx und Engels gesprochen, das Proletariat, das als einziger sozialer Akteur zu einer solch grundlegenden gesellschaftlichen Änderung der Welt in der Lage ist. 

Im Übrigen stellt das Proletariat für Marx keineswegs eine soziologische Größe dar. Seine zentrale Beutung ergibt sich für ihn aus dem Gesamtzusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft. Im Proletariat sieht er „keine mechanisch unter der Last der Gesellschaft gebeugte Menschenmasse, sondern eine Masse, die in deren scharfer Zersetzung ihren Ursprung genommen hat.“[1] Das Proletariat wird permanent in der kapitalistischen Produktionsweise neu hervorgebracht und verschwindet erst mit ihr. Dieses zum Verschwindenbringen bezeichnet Marx philosophisch als die "historische Mission des Proletariats", ein seitdem ewig missverstandener und karikierter Begriff, so als sei es etwa die Aufgabe des Proletariats, für andere - etwa für die linken Intellektuellen - die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Manche folgerten aus der Bedeutung des Wortes „Mission“ gar, dass es hier um "Schicken" gehe, das Proletariat demnach nur von anderen „vorgeschickt“ werde. Tatsächlich beschrieb Marx damit nur seine zu den Kapitalisten antagonistische Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Es gehört zu den Vorzügen der Herforder Thesen, dass sie es nicht bei diesem Postulat bewenden lassen, sondern nach den Gründen fragen, wie Klassenbewusstsein entsteht, wie es sich immer wieder auflöst und wieder neu konstituiert, und wo die Orte sind, an denen es sich herausbildet. Es sind dies demnach Fragen danach, wie sich die „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“ formen kann.

In These 23 heißt es: „Klassenbewusstsein entsteht innerhalb der Arbeiterklasse weder individuell in den Köpfen einzelner, noch spontan aus den jeweils aktuellen gesellschaftlichen Kämpfen. Es ist vielmehr selbst Moment und Ergebnis des bewusst und organisiert geführten Klassenkampfes. Erst durch die Vermittlung der konkreten Auseinandersetzungen und ihrer unmittelbaren Wahrnehmung mit den kollektiven Erfahrungen, die die Arbeiterklasse über längere Zeiträume international gewonnen hat, kann sich Klassenbewusstsein herausbilden.“

Und zur Arbeit der Vermittlung der konkreten Auseinandersetzungen und ihrer unmittelbaren Wahrnehmung mit den kollektiven Erfahrungen wird ausgeführt: „Geschichtlich entscheidend für die Durchsetzung und Festigung des Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse war dessen wissenschaftliche Fundierung und theoretische Verallgemeinerung durch den wissenschaftlichen Sozialismus, der im Wesentlichen auf die Erkenntnisse der sozialdemokratischen Klassiker Marx und Engels zurückgeht. Der wissenschaftliche Sozialismus ist der Arbeiterbewegung keineswegs fremd oder nur von außen in sie hineingetragen.“

Wenn in der These 23 von „sozialdemokratischen Klassikern“ gesprochen wird und dabei die Autoren des Manifestes der Kommunistischen Partei, Karl Marx und Friedrich Engels gemeint sind, wenn man sich von „Alleinvertretungsansprüchen auf richtiges Bewusstsein“ und von der „Verfestigung einmal gewonnener Erkenntnisse zu unveränderbaren Dogmen“ und, wie in These 26 vom Avantgardeanspruch einer Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung distanzierte, so ist dies Ausdruck davon, dass die marxistischen Kräfte in der SPD damals in Konkurrenz zu einer kommunistischen Partei in der alten Bundesrepublik standen. Die hatte wohl kaum eine wahlpolitische Bedeutung, sie verfügte aber über einen nennenswerten Einfluss auf klassenbewusste Kräfte in Betrieben und Gewerkschaften, und sie besaß zudem ein großes intellektuelles Potential. Ich erinnere hier nur an die damals für uns sehr wichtigen Veröffentlichungen des Instituts für Marxistische Studien und Forschungen (IMSF). Auch darf man nicht vergessen, dass die Führung der SPD stets um eine harte ideologische Abgrenzung gegenüber SED und DDR besorgt war. Und wir, als die Marxisten in der SPD, die gern so abschätzig genannten „Stamokaps“, galten eh vielen als trojanische Pferde im sozialdemokratischen Stall. All das verlangte, bei der Abfassung der Herforder Thesen besonders sorgfältig zu formulieren.

Für eine historische Sichtweise auf die Arbeiterbewegung

In der Zeit der Entstehung der Herforder Thesen, in der zweiten Hälfte der 70er Jahre, konnte niemand mehr übersehen, dass die alten kulturellen, politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiterbewegung bereits einem tiefgreifenden Wandel ausgesetzt waren, ja zum Teil einfach zerfielen. Die SPD wandelte sich von einer Klassen- zu einer Volks- und schließlich zu einer Allerweltspartei, wie es Otto Kirchheimer einmal so treffend formulierte. Nachdem schon nach 1945 die Arbeitersport- und Arbeiterkulturvereine nicht mehr wiederbegründet worden waren, verschwanden in den 70er Jahren nun auch die großen Selbsthilfeorganisationen der Arbeiterbewegung beim Konsum (Stichwort: Zerschlagung von Co-op), beim Wohnen (genannt seien hier nur die Krisen und Skandale um die Neue Heimat) und bei Bankgeschäften (die Bank für Gemeinwirtschaft wurde an die französische Bank Credit Lyonais verkauft). In diesen Jahren fiel auch die Büchergilde Guttenberg in eine Existenzkrise. In Österreich und in Skandinavien verzögerten sich diese Auflösungsprozesse noch um ein bis zwei Jahrzehnte. Aufhalten konnte man sie aber auch dort nicht. Für den Niedergang der österreichischen Arbeiterbewegung symbolisch geworden ist der beispiellose Skandal um die Bank für Arbeit und Wirtschaft (Bawag). Sie fiel einer internen Spekulation zum Opfer und wurde an den amerikanischen Hedgefonds Cerberus verkauft.  

1980 waren die klassischen sozialdemokratischen und kommunistischen Wählermilieus längst auf dem Rückzug begriffen, wenn sie schon nicht bereits ganz verschwunden waren. Ich verweise hier nur auf die Arbeiten von Frank Deppe, in denen diese Auflösungsprozesse anhand von Beispielen detailliert beschrieben werden. Damals wie heute steht die übrig gebliebene Linke vor diesen offensichtlich nicht änderbaren Tatsachen voll Trauer und Ratlosigkeit. Und es ist modisch geworden, von einem steten und unaufhaltsamen Individualisierungsprozess zu sprechen, der das traditionell kollektive und auf Solidarität gerichtete Bewusstsein der Ausgebeuteten nahezu vollständig hat verschwinden lassen.

Doch verschwindet damit auch der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital? Ist das Proletariat nicht länger die Negation der bürgerlichen Gesellschaft, Resultat ihres eigenen Zersetzungsprozesses? Und wenn das so ist, wer kann an seine Stelle treten? Attac, die vielfältigen Sozialforen, der BUND, Greenpeace, die verbliebenen Frauenorganisationen, die ominöse Zivilgesellschaft oder gar "die Menschen" wie es in der Partei DIE LINKE so oft heißt? Können die genannten Organisationen, zusammen mit den linken politischen Parteien und den  Gewerkschaften etwa eine „Mosaiklinke“ bilden, wie sie dem IG Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban vorschwebt?[2] Oder sollte vielmehr ein „Block verschiedener sozialer und politischer Kräfte“ gebildet werden, wie es Frank Deppe fordert.[3] Ich habe da meine Zweifel. Mit den vorgeschlagenen Konzeptionen eines „Blocks“ als auch einer „Mosaiklinken“ wird doch nur das Problem einer Bewertung des Zustands und der möglichen Bedeutung der Organisationen der Lohnabhängigen übergangen bzw. verdrängt. "Blockbildung" oder "Mosaiklinke" sind doch Fragen der Bündnispolitik!

Ein anderes Herangehen an diese Probleme besteht darin, mit Thomas Lühr die Existenz der alten Organisationen der Arbeitersolidarität als einen „Spezialfall der Frühphase der Industrialisierung“ anzusehen, in der eine „maximale Transparenz der sozialen Verhältnisse“ noch gegeben war. Nach Lühr führt „die weitere Entwicklung vor allem dazu, dass mit der Herausbildung neuer sozialer Erscheinungsformen (…) die Transparenz immer weiter verzerrt wird. Heute schließlich klaffen soziale Erscheinung und gesellschaftliches Sein so weit auseinander, dass die Transparenz gar nicht mehr gegeben ist.“ [4]

Wir sollten uns also angewöhnen, die Klassenverhältnisse historisch zu denken. Auf- und Abstieg der Organisationen der Arbeiterbewegung, wie auch das Entstehen und Verschwinden von Klassenbewusstsein müssen als Ausdruck von Phasen des Ringens um die allgemeine Einsicht in das Ausbeutungsverhältnis verstanden werden. Ohne Zweifel steht es um diese Einsicht in das Ausbeutungsverhältnis gegenwärtig schlecht. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch wieder anders werden kann und anders werden muss. Die objektiven Bedingungen dafür sind heute jedenfalls besser als 1980. Schon gar nicht bedeutet das gegenwärtige Fehlen der Einsicht , dass das Ausbeutungsverhältnis selbst nicht mehr existiert. 

Auch Marx und Engels waren zu ihren Lebzeiten beständig mit einer Arbeiterbewegung konfrontiert, deren Anhänger per se wenig Einsicht in die Notwendigkeit der Aufhebung des allgemeinen Ausbeutungsverhältnisses zeigten, schon gar nicht gab es dafür in der englischen Arbeiterbewegung Sympathien. In seiner Schrift Lohn, Preis und Profit schrieb Marx 1865: „Gleichzeitig, und ganz unabhängig von der allgemeinen Fron, die das Lohnsystem einschließt, sollte die Arbeiterklasse die endgültige Wirksamkeit dieser tagtäglichen Kämpfe nicht überschätzen. Sie sollte nicht vergessen, dass sie gegen Wirkungen kämpft, nicht aber gegen die Ursachen dieser Wirkungen; dass sie zwar die Abwärtsbewegung verlangsamt, nicht aber ihre Richtung ändert; dass sie Palliativmittel anwendet, die das Übel nicht kurieren. Sie sollte daher nicht ausschließlich in diesem unvermeidlichen Kleinkrieg aufgehen, der aus den nie enden wollenden Gewalttaten des Kapitals oder aus den Marktschwankungen unaufhörlich hervorgeht. Sie sollte begreifen, dass das gegenwärtige System bei all dem Elend, das es über sie verhängt, zugleich schwanger geht mit den materiellen Bedingungen und den gesellschaftlichen Formen, die für eine ökonomische Umgestaltung der Gesellschaft notwendig sind. Statt des konservativen Mottos: ′Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagwerk!′, sollte sie auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: ′Nieder mit dem Lohnsystem!′“ Das war eine schon fast flehentliche Bitte, sich nicht allein mit den täglichen Sorgen zu befassen, sondern die geschichtliche Dimension des revolutionären Kampfes im Blick zu behalten.

Ich möchte an dieser Stelle auf die Herforder Thesen zurückkommen. Auch in ihnen findet sich eine historische Sichtweise auf die Entstehung aber auch auf das mögliche Verschwinden von Klassenbewusstsein. In These 24 heißt es unter der Überschrift „Unentfaltetes Klassenbewusstsein: Reformismus:" „Die Entwicklung und Festigung von Klassenbewusstsein in der Arbeiterklasse erfolgt weder geradlinig noch ohne Rückschläge, Die Geschichte der nationalen Arbeiterbewegungen wie ihr internationales Zusammengehen ist deutlich gekennzeichnet durch Perioden des Stillstands oder durch Rückschläge bei der Durchsetzung klassenbewusster Positionen.“

Und auch zu den wichtigsten „objektiven Ursachen, die zu Schranken der Entwicklung von Klassenbewusstsein werden können“ finden sich in den Thesen Aussagen: „Es sind die Formen, in denen die ökonomischen Verhältnisse an der Oberfläche der Gesellschaft erscheinen und die vielfältige Illusionen erzeugen und dadurch den Blick für die wirklichen Zusammenhänge verstellen: In der Stellung der abhängig Beschäftigten als Verkäufer der Ware Arbeitskraft und scheinbar gleichberechtigte Warenbesitzer sowie als Empfänger des Arbeitslohns, der seiner Form nach als Entgelt für die gesamte Arbeitszeit erscheint und so die Teilung des Arbeitstages in notwendige Arbeit und Mehrarbeit und damit die Tatsache der Ausbeutung verschleiert, sind die hauptsächlichen und objektiven Bedingungen für die Entstehung von illusionären Vorstellungen einer nichtantagonistischen Gesellschaft. Das Bestehen derartiger Illusionen ist Voraussetzung bürgerlicher Herrschaft, ihre Überwindung wesentliche Bedingung für eine von der Arbeiterklasse breit getragene Strategie sozialistischer Gesellschaftsveränderung.“

Bei der Formulierung der Herforder Thesen am Ende der 70er Jahre konnte nicht erahnt werden, wie weitreichend der Abbau des Sozialstaats eines Tages gehen werde, schon gar nicht, dass er ausgerechnet von Sozialdemokraten vorangetrieben wird. Heute sind viele Lohnabhängige mit umfassenden Entqualifikationen, massenhafter Prekarität, wachsender Armut und sogar mit der Androhung von Zwangsarbeit konfrontiert.[5] Die sozialen Gegensätze sind nach 1980 nicht etwa geringer geworden - wie damals noch viele annahmen – sie haben sich weiter verschärft.

In den vergangenen 30 Jahren hat sich die Lohnabhängigkeit weiter verbreitet. Heute sind, nach einem kontinuierlichen Schrumpfen des Mittelstands und der freien Bauernschaft, so viele Menschen in Deutschland lohnabhängig beschäftigt, wie nie zuvor. Mit der Privatisierung weiter Bereiche der öffentlichen Infrastruktur und der staatlichen Daseinsvorsorge sind aus unzähligen Angestellten des Staates Lohnabhängige in kapitalistischen Unternehmen geworden. Und betrachtet man nur die wachsende Masse der nur von ihrem Lohn lebenden Menschen weltweit, so steigt sie jährlich um eine zweistellige Millionenzahl. Die Aussagen der Herforder Thesen zu Klassen und Klassenbewusstsein bleiben daher weiter hochaktuell.



[1] Michail Lifschitz, Karl Marx und die Ästhetik, Dresden 1957, S.113

[2] Hans-Jürgen Urban, Die Mosaik-Linke, in Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 5, 2009, S.71-78

[3] „Kollektive Interessenvertretung der Subalternen wird wohl nur in einem Block verschiedener sozialer und politischer Kräfte (von den sozial Ausgegrenzten bis zu Teilen der lohnabhängigen Mittelklassen und der Intellektuellen möglich sein – in diesem Block werden Gewerkschaften als sozialökonomische und sozialpolitische Interessenvertreter der Lohnabhängigen eine wichtige, aber keineswegs eine privilegierte Rolle spielen (' führende Rolle der Arbeiterklasse' ), Frank Deppe, Es ist eine Geschichte von Klassenkämpfen – Wandel des Kapitalismus und die Kämpfe der Arbeiterbewegung, Vortrag im IGM-Bildungszentrum Sprockhövel, 11.01.2010, in: debatte.kommunisten.de

[4] Thomas Lühr, Soziale Frage und Arbeiterklasse – Zur Krise der Arbeiterbewegung, in: Marxistische Blätter 4- 2010, S. 67

[5] Vgl. dazu Wolfgang Richter und Irina Vellay: „Dritte Arbeit“ – Entrechtung, „Loyalty rent“ und gesellschaftliche Reproduktion, in: Marxistische Blätter, Nr. 4/2010, S. 55-64

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