Den Banken verpflichtet

Andreas Wehr: Der kurze griechische Frühling. Das Scheitern von Syriza und seine Konsequenzen, Papy-Rossa-Verlag, Köln 2016, 191 Seiten, 12,90 Euro.

In diesen Tagen erscheint im Kölner PapyRossa-Verlag unter dem Titel »Der kurze griechische Frühling« ein neuer Band von Andreas Wehr. Wir veröffentlichen daraus, um einige Passagen und Fußnoten gekürzt, das dritte Kapitel »Weshalb Griechenland?« (jW)

Die Euro-Krise wird oft mit einer Krise Griechenlands gleichgesetzt. Man spricht vom »Fall Griechenland«. Es wird der Eindruck erweckt, die Euro-Krise ließe sich schon mit Geduld und Hartnäckigkeit überwinden, wäre da nur nicht das kleine, widerspenstige Land in der Südostecke der EU, das sich beharrlich weigert, endlich seine »Hausaufgaben zu machen«, wie es Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble immer wieder so anschaulich und schlicht formuliert.

Kein Sonderfall

Was ist in den letzten Jahren nicht alles über die Probleme Griechenlands gesagt und geschrieben worden. Unzählige Artikel beschäftigten sich mit der dort angeblich epidemisch verbreiteten Vettern- und Klientelwirtschaft, mit Steuerhinterziehung bzw. überhaupt fehlender Besteuerung, etwa der Reederdynastien oder der griechisch-orthodoxen Kirche. Ausführlich berichtet wurde über grassierende Korruption und Verschwendung staatlicher Mittel. Herausgestellt wurde eine Überbesetzung des öffentlichen Dienstes. Und fast immer endeten diese Artikel mit dringenden Mahnungen an die griechische Regierung, dieses oder jenes abzustellen, gründlich zu reformieren bzw. energisch gegen Mängel einzuschreiten. So entstand das Bild von Griechenland als schwarzem Schaf Europas.

Es soll hier überhaupt nicht bestritten werden, dass tatsächlich dort vieles im argen liegt, möglicherweise mehr als in anderen Ländern der Union. Doch auch in den angeblich mustergültigen kerneuropäischen Staaten werden Steuern in einem hohen Maße hinterzogen bzw. verkürzt, schmieren Unternehmen öffentliche Entscheidungsträger und sind Schlendrian und Bürokratismus an der Tagesordnung.

Griechenland steht in der EU ganz und gar nicht alleine mit seinen Problemen. Schon deshalb gibt es den »Fall Griechenland« nicht. Es war nicht das erste Land der EU, das in eine Zahlungsbilanzkrise geriet, als es im Frühjahr 2010 Kredite zur Finanzierung seines Staatshaushalts auf den internationalen Finanzmärkten nur noch zu unzumutbaren Bedingungen aufnehmen konnte und sich deshalb hilfesuchend an die übrigen Euro-Länder wandte. Und es sollte auch nicht das letzte Land bleiben, das in diese für die Euro-Krise typische Falle geriet. Ihm folgten bald Irland, Portugal und Zypern auf diesem Weg nach und selbst das wirtschaftlich sehr viel stärkere Spanien musste zur Rettung seines Bankensektors europäische Finanzmittel in Anspruch nehmen.

Die Krise Griechenlands, wenn man denn schon von ihr sprechen will, ist Teil einer systemischen und allgemeinen Krise des Euro-Systems, nicht die Krise eines einzelnen Landes. Zu nennen sind hier Ungarn, Rumänien und Lettland. Alle drei Staaten verloren bereits im Herbst 2008, unmittelbar nach dem Lehman-Schock, den Zugang zu den Finanzmärkten. Über die Gründe dafür schrieb die der deutschen Bundesregierung nahestehende Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): »Die Verwerfungen auf den Finanzmärkten sind primär Folge einer importierten Krise. Die notleidenden Banken aus Westeuropa zogen in großem Maßstab Geld von ihren Töchtern in ihren Regionen (d. h. in Osteuropa, A. W.) ab. Da die Bankensysteme in den Ländern der Region zum großen Teil von westlichen Kreditinstituten kontrolliert werden (die Auslandsbeteiligungen liegen zwischen zwei Dritteln und weit über 90 Prozent), führte dies rasch zu Liquiditätsengpässen.«1

In Ungarn und in Südosteuropa dominieren vor allem österreichische und im Baltikum skandinavische Banken. Mit dem Abzug von Geld aus diesen Märkten wollten sie Verluste auf den Heimatmärkten kompensieren. Das Schicksal Osteuropas interessierte sie dabei wenig. Die Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit dieser Länder überließen die Banken der Europäischen Union.

Da die drei genannten EU-Staaten damals nicht Mitglied der Währungsunion waren, Lettland trat ihr erst am 1. Januar 2014 bei, Ungarn und Rumänien gehören ihr weiterhin nicht an, mussten für ihre Unterstützung die anderen Euro-Länder nicht einspringen, wie dann im Mai 2010 bei der Zahlungsunfähigkeit Griechenlands geschehen. Es war auch noch nicht nötig, Rettungsschirme, wie die spätere »Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF)« bzw. den »Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM)«, für sie zu schaffen. Für Unterstützungsleistungen an Länder außerhalb der Euro-Zone hält die EU vielmehr einen besonderen Fonds bereit. In der Finanzkrise wurde das Volumen dieses Fonds Ende 2008 von 12 auf 25 Milliarden und im Jahr 2009 weiter auf 50 Milliarden Euro erhöht. Im Vergleich zu den allein Griechenland später zur Verfügung gestellten öffentlichen Unterstützungsleistungen waren das niedrige Summen. Ungarn erhielt aus diesem Fonds 6,5 Milliarden, Rumänien fünf Milliarden und Lettland 1,7 Milliarden Euro. Zusätzliche Mittel bekamen die drei Staaten vom Internationalen Währungsfonds (IWF), bei Rumänien und Ungarn waren die Kredite des IWF sogar deutlich höher als die der EU.

Der Weg in die Knechtschaft

Am 4. Oktober 2009 fanden in Griechenland Parlamentswahlen statt. Es siegte die sozialdemokratische Pasok mit heute kaum mehr vorstellbaren 43,92 Prozent. Ministerpräsident wurde Giorgos Papandreou. Wie nach Wahlsiegen oft üblich, kündigte der neue Finanzminister Giorgos Papakonstantinou sogleich einen Kassensturz an. Der erbrachte ein deutlich höheres Haushaltsdefizit als noch kurz zuvor von seinem konservativen Amtsvorgänger behauptet. Am 21. Oktober 2009 wurden die Zahlen dementsprechend nach oben korrigiert. Das Defizit für 2008 wurde nun mit 7,7 und nicht wie bisher mit fünf Prozent des BIP angegeben. Noch deutlicher fiel die Korrektur für 2009 aus: Die für das Jahr erwartete Neuverschuldung wurde auf 12,5 Prozent angesetzt. Wie sich später herausstelle, war sie mit 13,6 Prozent sogar noch höher.

Doch was lediglich als gezieltes Nachtreten der neuen Regierung gegenüber den abgewählten Konservativen gedacht war, erwies sich als fatales Wecksignal für die Ratingagenturen, die Wachhunde des internationalen Finanzkapitals. In den großen US-amerikanischen und europäi­schen Medien wurde über einen bevorstehenden Staatsbankrott Griechenlands spekuliert. Auch die Europäische Kommission war alarmiert. Sie ließ sogleich die Arbeit der griechischen Statistik­ämter überprüfen. Der darüber verfasste Bericht fiel äußerst kritisch aus. EU-Kommissar Joaquin Almunia, damals für die Überwachung der Euro-Zone zuständig, kündigte an, gegen Griechenland vorzugehen: »Die Regierung in Athen habe die im Frühjahr (2009, A. W.) gemachten Vorgaben klar missachtet, sagte Almunia. Das griechische Defizitverfahren soll daher verschärft werden. Griechenland wird ›in Verzug gesetzt‹. Das ist theoretisch der letzte Schritt, bevor Sanktionen wie Geldbußen verhängt werden.«2 Angekündigt wurde eine »engmaschige Haushaltsüberwachung (…), wie es sie in dieser Strenge ›noch nie‹ gegeben habe.«3 Das »in Verzug Setzen« Griechenlands bedeutete, dass das Land möglichst schnell zur Drei- Prozent-Marke der Maastricht-Obergrenze zurückzukehren hatte. Die neue Regierung unter Ministerpräsident Papandreou antwortete darauf, indem sie das »Programm für Stabilität und Entwicklung« verkündete, mit dem das Defizit in kürzester Zeit verringert werden sollte.

Doch die Finanzmärkte überzeugte das alles nicht. Im Gegenteil: Für griechische Staatsanleihen verlangten sie immer höhere Renditen. Ende April 2010 lagen sie bereits bei 10,6 für dreijährige und bei 8,9 Prozent für zehnjährige Anleihen. Die griechische Regierung bat daraufhin in einem Schreiben an Eurogruppenpräsident Jean-Claude Juncker, EU-Kommissar Olli Rehn und EZB-Präsident Jean-Claude Trichet um die Aktivierung des Unterstützungsmechanismus, auf den sich die EU-Regierungschefs einen Monat zuvor, am 25. März 2010, geeinigt hatten. Die Euro-Staaten entsprachen dieser Bitte und erklärten sich bereit, bis zu 30 Milliarden Euro für 2010 als Darlehen bereitzustellen. Damit begab sich Griechenland in die Abhängigkeit der übrigen Euro-Länder, aus der es sich bis heute nicht befreien konnte. Zu den Euro-Ländern trat bald der Internationale Währungsfonds (IWF) hinzu. Im Juni 2010 wurde die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) als sogenannter Rettungsschirm eingerichtet, die im September 2012 vom Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) abgelöst wurde. Diese Institutionen versorgten Griechenland und dann die anderen Memorandumsländer mit Krediten zur Aufrechterhaltung ihrer Zahlungsfähigkeit. Insgesamt erhielt Griechenland bis Juni 2015 öffentliche Kredite in Höhe von insgesamt 344 Milliarden Euro. Die Rückzahlung dieser Beträge, sollte sie überhaupt jemals erfolgen, wird Jahrzehnte beanspruchen. Das Land wird daher auf nicht absehbare Zeit in Abhängigkeit von seinen Gläubigern bleiben.

Der Preis, den Griechenland für diese Unterstützung zu zahlen hat, ist hoch. Mittlerweile sind dem Land drei Memoranden auferlegt worden. Bis in kleinste Details sind darin die Maßnahmen aufgeführt, die in genau festgelegten Schritten abzuarbeiten sind. Das von der Syriza-Regierung unterzeichnete und vom griechischen Parlament am 13. August 2015 beschlossene dritte Memorandum ist dabei das umfangreichste und zugleich härteste. Selbst die Unabhängigkeit der Regierung bei der Vorlage von Gesetzesentwürfen wird darin eingeschränkt: »Die Regierung muss die Institutionen zu sämtlichen Gesetzentwürfen in relevanten Bereichen mit angemessenem Vorlauf konsultieren und sich mit ihnen abstimmen, ehe eine öffentliche Konsultation durchgeführt oder das Parlament befasst wird.«4 Das ist ein in der Europäischen Union bislang beispielloser Eingriff in die Souveränitätsrechte eines ihrer Mitgliedsländer. Griechenland ist damit auf den Status einer Halbkolonie herabgesetzt worden.

Die ihm auferlegte Politik hat das Land aber nicht aus der Krise heraus und auf einen Wachstumskurs zurückgeführt. Im Gegenteil: Die Staatsschuld ist trotz eines Schuldenschnitts im Frühjahr 2012 weiter angestiegen und lag im zweiten Quartal 2015 mit 167,8 Prozent an der Spitze aller EU-Länder. Die Wirtschaftsleistung ist in den letzten fünf Jahren stark gesunken, so dass Griechenland inzwischen etwa ein Viertel seines Bruttoinlandsprodukts verloren hat. Auch im dritten Quartal 2015 ist sie weiter zurückgegangen, diesmal um 0,5 Prozent. Die Arbeitslosigkeit betrug im August 2015 24,6 Prozent. »Sie liegt damit im sechsten Jahr der Rezession immer noch mehr als doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt. Nach der Statistik hat rund jeder zweite jüngere Grieche keine offizielle Beschäftigung. Viele schlagen sich mit kleinen Jobs in der Schattenwirtschaft durch.«5

Der Lebensstandard ist für die breite Masse der Bevölkerung erheblich gesunken, Armut und Verelendung haben sich unter den Schwächsten in der Gesellschaft ausgebreitet. Die »Rettungspolitik« ist gescheitert. Konsequenzen daraus will man aber weder in der Europäischen Kommission noch beim IWF ziehen. Die Gefahr einer einseitigen Aufkündigung der Euro-Mitgliedschaft durch Athen sieht man nach der Kapitulation der Syriza-Regierung vor den Forderungen der Gläubiger am 12. Juli 2015 als gebannt an.

Das »illegitime Kind« der Euro-Zone

Die Lage, in die Griechenland im Frühjahr 2010 geriet und in der es sich bis heute befindet, ist Ergebnis der in der Euro-Zone geltenden Mechanismen, die euphemistisch als »Konstruktionsfehler« umschrieben werden. Dies, und nicht all die Versäumnisse, die es in der griechischen Innenpolitik darüber hinaus noch gibt, ist die wirkliche Ursache für die missliche Lage.

Und doch ist zu fragen, weshalb es ausgerechnet Griechenland so hart traf. Weshalb nur wurde das Land von den Finanzmärkten so gnadenlos abgestraft, so dass es sich seit Beginn des Jahres 2010 nicht mehr allein finanzieren konnte? Zwar waren die angehäuften griechischen Staatsschulden bereits Ende 2009 hoch. Sie lagen bei 113 Prozent des BIP. Doch auch Italien hatte zu diesem Zeitpunkt Schulden von 115 Prozent. Und selbst in einem so robusten kerneuropäischen Land wie Belgien betrug der Schuldenstand 1993 schon einmal 140 Punkte. Und blickt man über Europa hinaus, so sieht man, dass eine ganze Reihe von Staaten noch wesentlich höher verschuldet ist. So betrug das Defizit Japans 2009 mindestens 189,6 Prozent des BIP. Und in absoluten Zahlen wurde das griechische Defizit 2009 in Höhe von 406 Milliarden Euro von dem Spaniens mit 695 Milliarden und dem Italiens mit 2.062 Milliarden Dollar deutlich übertroffen. Mit der hohen Neuverschuldungsrate von 13,6 Prozent für 2009 lag Griechenland zwar in der Spitzengruppe der EU-Länder, doch auch das war seinerzeit nichts Außergewöhnliches. Das Defizit Irlands betrug 2009 sogar 14,3 Prozent, das Großbritanniens 11,5 und das Spaniens 11,2 Prozent. Aus diesen Daten kann ein erster Schluss gezogen werden: Es war die Kombination aus einer hohen Gesamtverschuldung und einer erheblichen Neuverschuldung im Jahr 2009, die die Situation für Griechenland so brisant machte.

Ein zweiter, politischer Grund kam hinzu. Das Misstrauen der Finanzmärkte gegenüber Griechenland war Anfang 2010 auch deshalb so groß, weil in der öffentlichen Meinung und in der Politik der kerneuropäischen Staaten das Land schon lange als illegitimes Kind der Euro-Zone galt, der es eigentlich gar nicht angehören durfte. Griechenland war nicht Gründungsmitglied der Euro-Zone, es stieß erst 2001 als erstes Beitrittsland hinzu. Und bei diesem Beitritt ging es nicht mit rechten Dingen zu. Die Manipulationen, die ihn erst möglich machten und an denen Manager von Goldman Sachs maßgeblich beteiligt waren, sind inzwischen weitgehend aufgeklärt. Bekannt geworden sind auch Manipulationen durch die statistischen Ämter, die Angaben zum Staatsdefizit der Jahre 1997 bis 2000 betrafen.

Und so gab es von Beginn an Kritik an der Mitgliedschaft Griechenlands in der Euro-Zone, die bis heute nicht verstummt ist. Vor allem konservative und liberale deutsche Politiker tun sich dabei hervor. In den Bundestagsdebatten über die Griechenland-Hilfen in den letzten Jahren warfen denn auch Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion der zum Zeitpunkt des Beitritts im Amt befindlichen rot-grünen Bundesregierung regelmäßig vor, für die Aufnahme plädiert zu haben, obwohl Griechenland seinerzeit nicht die Bedingungen erfüllt habe. Die These von einer illegitimen Mitgliedschaft hat sich mittlerweile in der veröffentlichten Meinung festgesetzt. In einem Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus dem November 2015 heißt es: »War (sic!) nicht schon in der Geburtsstunde der europäischen Währungsunion jedem politisch Handelnden deren Konstruktionsmängel klar, und wussten nicht alle Beteiligten im Moment der Aufnahme Griechenlands in die Euro-Zone, dass das ein Fehler war?«

Doch Manipulationen, wenn vielleicht auch nicht so umfangreich und auch nicht so klandestin wie in Griechenland, hatte es auch in anderen europäischen Ländern gegeben, als es darum ging, die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in der Euro-Zone zu erfüllen und dafür die Staatsschulden trickreich zu reduzieren. Italien als auch Frankreich gliederten hierfür riesige Defizite aus ihren Haushalten einfach aus und übertrugen sie auf die formal unabhängigen Rentenversicherungen. Doch mit diesen Gründungsländern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 wollte man sich nicht anlegen, denn eine Euro-Zone ohne Frankreich oder Italien war einfach nicht vorstellbar.

Bei Ausbruch der Finanzkrise war daher Griechenland längst das »schwarze Schaf« der Euro-Zone. Da passte es eben genau in das Bild vom »statistischen Serienlügner«, dass unmittelbar nach dem Regierungswechsel im Oktober 2009 plötzlich ein viel höherer Schuldenstand in Athen bekanntgegeben wurde. Und als dann der ehemalige EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing Anfang 2010 auch noch erklärte, »kaum ein anderes Land hat auf der einen Seite über Jahre hinweg so große Vorteile aus der Währungsunion gezogen und auf der anderen Seite so sehr gegen die gemeinsamen Regeln verstoßen wie Griechenland«,6 da konnte es keinen verwundern, dass sich Finanzkapital aus der Finanzierung des Landes zurückzog.

Weshalb Hellas »gerettet« wurde

Im April 2010 war Griechenland faktisch bankrott. Der Syriza-Politiker Giorgios Chondros beschreibt die damalige Situation: »In 2009 wertete Standard and Poor’s die langfristige Kreditwürdigkeit des Landes von A auf A- herab, gefolgt von Fitch mit der miesen Note BBB+. Da wollte Moody’s nicht zurückstehen. Das Ergebnis dieses Dreiklangs war die jähe Erhöhung der Kosten für die Kreditaufnahme des Landes.«7

Doch warum hatte die Regierung in dieser Situation nicht den Staatsbankrott erklärt? Es wäre nicht das erste und letzte Mal gewesen, dass ein Staat Liquidation anmeldet. Und mit Blick auf die Erfahrungen von mittlerweile fünf Jahren »Rettungspolitik« steht fest, dass der griechischen Bevölkerung ihr Leidensweg dadurch weitgehend erspart geblieben wäre.

Doch eine solche Liquidation hätte gegen die Interessen der griechischen Banken durchgesetzt werden müssen, denn auch sie hatten Schuldverschreibungen des Staates in einem erheblichen Maße gekauft. Mit einem Schuldenschnitt wären diese Forderungen entwertet worden, wenn nicht gar ganz verlorengegangen. Und tatsächlich haben die griechischen Banken beim Schuldenschnitt im März 2012 einen Teil dieser Forderungen dann eingebüßt. Aber Anfang 2010 wollte es sich die Pasok-Regierung unter Papandreou nicht mit den Banken und den hinter ihnen stehenden Besitzenden verderben.

Ein weiterer und womöglich entscheidender Grund für den ausgebliebenen Staatsbankrott war der Umstand, dass die Staatsschuld im Frühjahr 2010 zu mehr als 70 Prozent nicht von den einheimischen, sondern von ausländischen Banken gehalten wurde. Damit lag Griechenland beim Anteil der Auslandsverschuldung an der gesamten Staatsschuld an erster Stelle in der EU, vor Belgien, Portugal, Italien und Frankreich. Hier finden wir daher die Antwort auf die Frage, weshalb das Land überhaupt von den anderen Euro-Ländern gerettet wurde. Es war die Furcht, das viele aus Kerneuropa dorthin verliehene Geld zu verlieren: »Zusammen mit dem Euro waren auch einige europäische Banken in Gefahr, in erster Linie französische und deutsche, welche mit den griechischen Banken auch den Löwenanteil an griechischen Staatsanleihen hielten.«8

Doch nicht einmal alle griechische Banken befanden sich 2010 im Besitz einheimischer Eigentümer. 54 Prozent der Bank Geniki gehörten der französischen Bank Société Générale. Und unter den ausländischen Gläubigern standen französische und deutsche Banken ganz weit vorne. »Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) hat das Engagement der französischen Kreditgeber im vergangenen Monat auf 75 Milliarden Dollar beziffert – gegenüber 43 Milliarden Dollar für deutsche Banken. Neben der Société Générale ist vor allem der Crédit Agricole mit seiner Tochtergesellschaft Emporiki, der fünftgrößten griechischen Bank, in Griechenland aktiv. Crédit Agricole bezifferte kürzlich sein Kredit-Engagement über Emporiki hinaus auf 850 Millionen Dollar.«9 In einer anderen Analyse heißt es: »Es fällt auf, dass die französischen Banken absolut und relativ wesentlich stärker in Griechenland engagiert waren als die deutschen.«10 Dabei handelte es sich keineswegs nur um französisches Kapital, das nun im Feuer stand: »Die französischen Banken hatten sich viel Geld im Ausland geliehen. Viel Geld war von Deutschland direkt oder auch über die Benelux-Länder an die französischen Banken geflossen, die es in Staatspapieren südlicher Länder anlegten und es den südlichen Banken liehen, weil sie zu diesen Ländern besonders enge Geschäftsbeziehungen unterhielten.«11 Das im Verhältnis zu den deutschen Finanzinstituten sehr viel größere Engagement französischer Banken war denn auch der Grund dafür, dass Paris im Frühjahr 2010 Berlin drängte, endlich Hilfen zu gewähren. In der Entscheidungsnacht war es der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der sich in der Runde der Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone am 7. Mai 2010 am entschiedensten dafür einsetzte.

Auch wenn das Engagement deutscher Banken in Griechenland nicht ganz so groß war wie dasjenige französischer, veranlasste es sie dennoch, von der Bundesregierung zu verlangen, mit Kredithilfen den Bankrott des Landes abzuwenden. Zu den Auswirkungen eines möglichen Bankrotts auf deutsche Banken hieß es: »Besonders teuer würde eine Griechenland-Pleite für jene Geldhäuser, die ohnehin schon am Tropf des Staates hängen: den maroden Münchener Immobilienunternehmer Hypo Real Estate (HRE) und die Commerzbank mit ihrer Immobilien- und Staatsfinanzierungstochter Eurohypo.«12

Es waren also Klasseninteressen, nämlich die der Eigentümer der Banken und der Geldanleger, die einem Staatsbankrott Griechenlands entgegenstanden und damit dem griechischen Volk all die Leiden auferlegten. Und zu dieser Vermögensrettung der Reichen wurden die Gelder aller Steuerzahler der Euro-Länder herangezogen. Neben dem griechischen Volk werden es daher auch sie sein, die eines Tages dafür zu zahlen haben.

Anmerkungen

1 Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Krisen, Crashs und Hilfspakete, in: SWP-Aktuell 12, März 2009, S. 2

2 Bis 2013 Zeit für den Defizitabbau, in: FAZ Net vom 10.11.2009

3 Brüssel beurteilt den griechischen Sparplan skeptisch, in: FAZ vom 2.2.201038

4 Erklärung des Eurogipfels vom 12.7.2015

5 Tsipras’ Partei streikt gegen eigene Reformen, in: FAZ vom 13.11.201540

6 Otmar Issing, Die Europäische Währungsunion am Scheideweg, in: FAZ vom 29.1.2010

7 Giorgios Chondros: Die Wahrheit über Griechenland, die Eurokrise und die Zukunft Europas, Frankfurt am Main 2015, S. 36 f.

8 ebd., S. 40

9 Griechenland-Risiko belastet Société Générale, in: FAZ vom 8.5.2010

10 Hans-Werner Sinn: Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel, München 2015, S. 123

11 ders.: Gefangen im Euro, München 2014, S. 61

12 Spiegel online vom 30.4.2010, zitiert nach: Unsere Zeit (UZ) 2010/18 vom 7.5.2010

 

Zurück

Zurzeit sind keine Nachrichten vorhanden.

Mein Newsletter

Abonnieren Sie den Newsletter von Andreas Wehr. Der Newsletter informiert unregelmäßig (10 bis 12 mal im Jahr) über Publikationen, Meinungen und Bucherscheinungen und wird über den Newsletter-Anbieter Rapidmail versendet.