„EU hat sehr viel Erpressungspotential“ – Experte zu Brexit

Interview mit Andreas Wehr mit Sputnik am 28.03.2019

Auch in der Woche, in der der Austritt Großbritanniens stattfinden sollte, dominiert das Chaos und es bleibt unklar, wann und unter welchen Bedingungen der Brexit stattfinden wird. Premierministerin Theresa May setzt auf ihre letzte Karte und bietet den eigenen Rücktritt als Einsatz für ein positives Votum zum Brexit-Deal. Doch wird das reichen?

Sputnik sprach über die möglichen Varianten des britischen Austritts aus der EU und ihre Implikationen mit dem Buchautor und Europa-Experten Andreas Wehr.

Herr Wehr, eigentlich sollte Großbritannien am morgigen Freitag die EU verlassen, daraus wird jetzt aber ganz offensichtlich nichts. Der von Theresa May mühsam mit der EU ausgehandelte Brexit-Deal ist bereits zweimal bei den Abstimmungen im britischen Parlament gescheitert. Nun hat May die letzte Karte gezogen und ihren Rücktritt in Aussicht gestellt, wenn die Abgeordneten doch noch für den Deal stimmen. Das klingt nach einer verzweifelten Maßnahme und Experten glauben nicht daran, dass Mays Deal damit die Mehrheit bekommt. Woran liegt das Chaos aus Ihrer Sicht – ist es Theresa May, sind es die Bedingungen des Deals oder ist Großbritannien schlichtweg nicht bereit, die EU zu verlassen?

Die Abgeordneten haben eigentlich deutlich gemacht, was sie nicht wollen: Sie wollen diesen Vertrag nicht, den May und ihr Kabinett mit der Europäischen Union ausgehandelt haben. Da hat es in den letzten Wochen und Monaten zweimal Abstimmungen gegeben und beide Male ist dieser Vertrag durchgefallen. Beim ersten Mal sehr klar, da war es fast eine Zwei-Drittel-Mehrheit gegen den Vertrag. Beim zweiten Mal aber auch, auch wenn die Mehrheit nicht mehr so groß war. Das Abgeordnetenhaus will diesen Vertrag nicht, auf der anderen Seite weigert sich die EU zu verhandeln. Das ist der Grund für die Situation, die jetzt eingetreten ist. Es gibt für diesen Vertrag keine Mehrheit, wahrscheinlich auch in den nächsten Tagen nicht. Ob die Ankündigung von May, bei einer Annahme zurückzutreten, noch etwas daran ändert, muss man sehen. Die Mehrheitsverhältnisse sind da sehr unklar, vielleicht gibt es ein paar Abgeordnete, die den Vertrag mit unterstützen wollen. Aber ob es dann reicht – das weiß man nicht.

Nachverhandeln  will Brüssel nicht, allerdings wurde Aufschub gewährt – bis zum 22. Mai, sollte der Austrittsvertrag diese Woche doch noch Zustimmung bekommen, andernfalls bis zum 12. April. Das klingt aus heutiger Sicht am ehesten nach ungeordnetem Austritt. Hätte die EU vielleicht mehr Nachsicht walten lassen sollen, auch im eigenen Interesse? In welchen Punkten wäre ein Entgegenkommen zweckdienlich gewesen?

Die EU hat frühzeitig die Bedingungen genannt und es wäre im Sommer vergangenen Jahres eigentlich an May gewesen, diese Dinge zurückzuweisen. Das Hauptproblem, weshalb es bisher eine klare Mehrheit gegen diesen Vertrag gibt, ist der sogenannte Backstop. Diese Haltelinie besagt: Wenn bis Ende 2020 kein Vertrag zwischen der EU und Großbritannien über eine gemeinsame Zollunion zustande kommt, dann wird Großbritannien in der Zollunion bleiben müssen. Wegen der Grenze zu Irland muss dann vor allen Dingen Nordirland drin bleiben. Das heißt, dass Nordirland für nicht absehbare Zeit Mitglied der Europäischen Zollunion bleiben müsste. Das würde Großbritannien auseinanderreißen. Das sagt nicht nur die nordirische DUP-Partei, die Mays Mehrheit stützt, sondern das sagen auch sehr viele andere Abgeordnete und Politiker in Großbritannien. Es kann nicht akzeptiert werden, dass man den Bestand des Landes aufs Spiel setzt. Das ist unhaltbar. Ein Land kann aus der EU nach den Paragrafen, die in den europäischen Verträgen festgelegt sind, innerhalb von zwei Jahren austreten. Aber aus der Zollunion kommt man offensichtlich nicht raus. Das ist eine aberwitzige Situation, die irgendwie aufgelöst werden muss. Da müsste eigentlich die EU einen Schritt zurückgehen. Sie hat Großbritannien sehr stark eingebunden und das ist der Grund für den Widerstand im Unterhaus.

Aus eigenem Interesse der EU: Ist der Deal für die darin Verbleibenden denn gut?

Die EU hat schon den Backstop und die Nordirlandfrage so verhandelt, dass das im Interesse der EU funktionieren soll. Dahinter steht ja, dass man zwar Großbritannien aus der EU rauslassen muss, aber man will es unbedingt über diese Regelung binden. Man will ja bis Ende 2020, womöglich aber auch danach garantieren, dass alle möglichen EU-Verpflichtungen weiterhin von Großbritannien erfüllt werden müssen. Man kann schlecht sagen, das sei in unserem Interesse oder in deren Interesse, sondern es ist das Interesse der EU und insbesondere Deutschlands und Frankreichs, Großbritannien möglichst eng an der EU zu halten. Vor allen Dingen immer wieder zu erklären, dass ein harter Austritt auf keinen Fall in Frage kommt. Das könnte aber am Ende so kommen und dann hätte die EU sich mit ihrer unnachgiebigen Haltung tatsächlich selbst Schaden zugefügt. In Brüssel ist man sich aber ziemlich sicher, dass es für einen harten Brexit keine Mehrheit gibt. Deswegen hat man die Hürden so hoch aufgebaut und denkt nicht daran, sie abzusenken. Wenn May die Option hätte, einen harten Brexit durchzuführen, dann würde die EU wahrscheinlich nachgiebiger sein. So sitzt sie auf dem hohen Ross und kann erklären: Das ist der Vertrag und er wird nicht geändert. Das hat sie in den letzten Wochen und Monaten immer wieder getan und May ist aus Brüssel, aus Berlin, aus Paris mit der Botschaft abgereist, dass faktisch kein Zentimeter geändert wird. 

Bei der gestrigen Abstimmung wurden acht Alternativen zum Brexit-Deal vorgelegt, keine konnte die notwendige Mehrheit bekommen. Die beliebtesten Varianten waren aber die Zollunion mit der EU und ein erneutes Referendum. Welche Rückschlüsse  lassen sich daraus ziehen?

Das sind Wunschvorstellungen, die die Abgeordneten geäußert haben. Die EU hat immer wieder klargemacht, dass sie über den Vertrag nicht neu verhandeln wird. Man kann natürlich sagen, man will dieses oder jenes Modell, aber das waren nur Spielchen, die die Abgeordneten veranstaltet haben. Selbst wenn ein Modell eine Mehrheit gewonnen hätte, wäre die Regierung nicht daran gebunden gewesen. Die EU ist auch überhaupt nicht bereit, über solche Modelle zu verhandeln. Was eine neue Abstimmung angeht, so ist das in der Bevölkerung und auch in den Medien ausgesprochen unpopulär.  Denn das hieße ja, man stimmt so lange ab bis das Ergebnis stimmt, also bis der Brexit widerrufen wird. Auch da hat es keine Mehrheit gegeben, auch wenn es viele Abgeordnete gern gehabt hätten. Das muss man nicht allzu ernst nehmen.

Aus der Industrie hört man große Sorgen, sie fühlt sich von May im Stich gelassen und fürchtet große Einbußen. Worauf muss sich die Industrie diesseits und jenseits des Ärmelkanals realistisch einstellen?

Wenn man sich die deutschen und die europäischen Medien ansieht, wird das in den schwärzesten Farben gemalt. Aber wenn man in die Details reingeht, wird man sehen: Wenn es zu einem harten Brexit kommt, hat Großbritannien doch ein paar Möglichkeiten, die Sache abzumildern.  Man könnte sich an die WTO-Richtlinien halten und entsprechend ganz normale Zölle erheben, die auch für Drittstaaten gelten. Und man könnte, um administratives Chaos am Beginn des Brexits zu vermeiden,  für wichtige Produkte und Zulieferungen auf die Zölle erstmal insgesamt verzichten und so zunächst eine Übergangsperiode schaffen. Die Schwarzmalerei entsteht auch aus dem Interesse Brüssels, die Möglichkeit des harten Brexits auszuschließen.

Zurück zu Theresa May. Diese hat ihren Rückzug unter anderem damit begründet, dass sie den Eindruck habe, man wünsche sich in ihrem Land eine andere Führungsspitze. In der Presse wird schon jetzt eine ganze Reihe von möglichen Nachfolgern gehandelt. Wen sehen Sie als aussichtsreichsten Kandidaten und würde das tatsächlich etwas besser machen?

In der konservativen Partei gibt es schon seit längerem Unmut über Premierministerin May, weil sie diesen Vertrag letztendlich alleine ausgehandelt hat, ohne sich vorher im Kabinett abzusichern. Man darf nicht vergessen, dass alleine zwei Brexit-Minister im letzten Jahr zurückgetreten sind. Erst David Davies im Juli 2018. Dann hat Theresa May die Sache an sich gezogen, der Vertrag wurde faktisch von Downing Street alleine ausgehandelt. Auch der Nachfolger von Davies, Dominic Raab, ist zurückgetreten, weil er gemerkt hat, dass er gar keine Kompetenzen hat – es wird direkt im Umfeld von May mit Berlin, mit Brüssel, mit Paris verhandelt. Da sind die Dinge herausgekommen, die man jetzt so scharf kritisiert. Der Backstop und all die Dinge, die Großbritannien hindern, aus der EU auszutreten und in seiner Souveränität einschränken. Deswegen gab es gegen May ein Misstrauensvotum und es ist gut möglich, dass die konservative Partei sie jetzt stürzt. Wenn der Vertrag nun doch angenommen wird, wird May mit der EU weiterhin nachgiebig verhandeln, wie sie das bisher getan hat. Womöglich wird es einen Nachfolger aus der Gruppe der echten Brexit-Vertreter geben. Man darf nicht vergessen, dass May eine Befürworterin der EU-Mitgliedschaft ist, sie war für den Verbleib. Sie erfüllt diese Funktion jetzt auch nur, weil sich die konservative Partei auf ihrem Parteitag darauf festgelegt hatte, aus der Zollunion und dem Binnenmarkt auszutreten.

Ob diese Woche, am 12. April oder 22. Mai, ob mit oder ohne Deal, auch für die EU muss irgendwann der Schlussstrich gezogen werden. Was ist Ihre Erwartung, was kommt auf uns zu?

Ich halte es für möglich, dass der Vertrag, den May ausgehandelt hat und der zu Recht kritisiert wird, doch noch eine Mehrheit gewinnt. Denn viele der entschiedensten Kritiker der Brexiteers sagen jetzt: Erstmal raus aus der Union und dann kann man sehen, wie es weitergeht. Selbst wenn der Vertrag angenommen wird, erwarte ich, dass weitere Konfliktpunkte auftauchen und es noch sehr hart wird. Es wird keineswegs so sein, dass die Geschichte mit diesem Vertrag vorbei ist, denn dieser Vertrag ist für Großbritannien eigentlich nicht annehmbar.  Wenn sie ihn annehmen, dann um die Möglichkeit zu haben, aus der EU auszutreten. Aber um die Umsetzung wird es noch ein hartes Ringen geben und womöglich auch weitere Brüche zwischen der EU und Großbritannien. Denn der ganze Prozess, wie er angelegt ist, führt zur Entfremdung zwischen den beiden Parteien, weil letztendlich die EU mit diesem Vertrag sehr viel Erpressungspotential gegenüber Großbritannien hat.

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