Ein bisschen Brexit

Andreas Wehr

Erst mit der Aufgabe des gemeinsamen Binnenmarktes wird es zum Bruch zwischen London und Brüssel kommen

Für den Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs in Bratislava an diesem Freitag ist der Austritt Großbritanniens offensichtlich bereits Realität. Zum zweiten Mal treffen sich nur noch die Chefs von 27 Ländern. Britanniens Premierministerin Theresa May ist nicht eingeladen. Was die Folgen des »Brexit«-Votums vom 23. Juni angeht, werden die versammelten Regierungschefs nicht über viel Neues zu beraten haben.

Der angekündigte Wirtschaftsschock ist ausgeblieben. Die Panikmacher behielten nicht recht. Zwar hat sich das Pfund noch nicht ganz von seinem Schwächeanfall nach Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses erholt, doch die jetzt »weichere« Währung erlaubt es der britischen Industrie, ihre Waren im Ausland billiger anzubieten. Das führt zu einem Wachstumsschub. Gemeldet wurde für August ein um fünf auf 53,3 Zähler gestiegener Einkaufsmanagerindex. Gemäß den Deutschen Wirtschaftsnachrichten vom 1. September gab es in der fast 25jährigen Geschichte der Datenerhebung keinen größeren Sprung nach oben: »Das Barometer liegt nun auf dem höchsten Stand seit Oktober 2015 und signalisiert mit einem Wert über 50 Punkten wieder Wachstum.« Auch die Dienstleistungen, hier vor allem der Tourismus, profitieren vom schwachen Pfund.

Zu diesem Bild einer wieder beruhigten Lage trägt das Handeln bzw. Nichthandeln der neuen Regierung May bei. Wurde noch Ende Juni die Vorlage des Austrittsantrages unverzüglich, spätestens für Anfang Herbst, erwartet, so wird jetzt das Jahresende als frühestes Datum genannt. Spekuliert wird darüber, dass London sogar erst die Präsidentschaftswahlen in Frankreich und die Bundestagswahlen, beides 2017, abwarten könnte. Die gegenwärtige Politik des Nichthandelns der britischen Regierung demonstrierte der »Minister für den Ausstieg aus der Europäischen Union«, David Davis, Anfang September vor dem Unterhaus. Er hatte faktisch nichts zu verkünden, abgesehen von ein paar dürren Zahlen zum Aufbau seines Ministeriums. Einmal mehr nannte er die Ziele der Regierung: Der Brexit müsse zu einem Erfolg für Großbritannien werden, indem es nach dem Austritt sowohl seine neue Selbständigkeit nutzt als auch die Vorzüge des EU-Binnenmarktes, allerdings ohne die Gewährleistung der Personenfreizügigkeit, genießt. Damit will man sowohl den Forderungen der Wirtschaft nach Erhalt des Binnenmarktes als auch denen der Brexit-Befürworter nach einem Ende des ungehinderten Zuzugs von Arbeitskräften genügen.

Diese Rechnung wird nicht aufgehen. Die EU-Mitgliedsländer werden ein solches »Cherry picking« nicht zulassen. Die Personenfreizügigkeit gilt nämlich, neben der Kapital-, Waren- und Dienstleitungsfreiheit, als eine der vier unverzichtbaren Binnenmarktfreiheiten und zählt zu den »Säulen«, auf denen die gesamte EU ruht. Am Ende wird sich Großbritannien daher entscheiden müssen: Weiterhin uneingeschränkte Geltung aller Binnenmarktfreiheiten, was auf einen »Austritt light« hinausliefe und dem Land den heutigen Status Norwegens oder der Schweiz geben würde, ist eine Option. Großbritannien wäre damit draußen und zugleich weiterhin drin. Erst die Aufgabe der Zugehörigkeit auch zum Binnenmarkt würde einen wirklichen Bruch mit der Union darstellen.

Die ständige Hervorhebung der Bedeutung des EU-Binnenmarkts für die britische Wirtschaft soll offensichtlich bereits jetzt die Öffentlichkeit darauf vorbereiten, am Ende einem Verhandlungsergebnis, etwa in einer weiteren Volksabstimmung, zuzustimmen, in dem zur Sicherung dieses Ziels auch die Personenfreizügigkeit akzeptiert wird. Dieses Ergebnis haben sowohl moderate Konservative als auch die Liberalen und die Grünen fest vor Augen. Die Labour Party soll dann ebenfalls Teil eines solch »konstruktiven Bündnisses« sein. Und tatsächlich hat deren Parteiführer Jeremy Corbyn, mit Blick auf die Gewerkschaften, stets die enorme Bedeutung der weiteren Teilhabe des Landes am Binnenmarkt betont.

Nun hat Corbyn aber im Guardian vom 7. September Binnenmarktregelungen benannt, die auf keinen Fall akzeptiert werden dürfen. In den Mittelpunkt stellte er dabei das in den EU-Verträgen verankerte Beihilfeverbot. Die auf dieser Grundlage mögliche Untersagung staatlicher Subventionen für die britische Stahlindustrie würde deren sicheres Aus bedeuten. Damit würden nicht nur Tausende Jobs verschwinden, aufgegeben werden müssten zugleich Hoffnungen auf eine Reindustrialisierung des Landes. Als Vorbild dafür wird immer wieder Südkorea genannt, das als ein wirtschaftlich ungebundener Staat überaus erfolgreich auf den Weltmärkten agiert.

Corbyns innerparteilicher Konkurrent um das Amt des Vorsitzenden, Owen Smith, widersprach umgehend. Auf die Seite von Corbyn schlug sich hingegen die Gruppe »Labour Leave«, der Abgeordnete und Gewerkschaftsführer angehören. So ist die Frage der Art und Weise des Austritts Teil des Streits über den künftigen Kurs von Labour, einer Auseinandersetzung zwischen rechts und links.

Erschienen in der Tageszeitung Junge Welt am 15.09.2016

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