Schritt in das politische Abseits

Martin Schulz als „Radikaleuropäer“

von Andreas Wehr

Hat die SPD auf ihrem atemberaubenden Weg vom einstimmigen Nein hin zu einer Neuauflage der Großen Koalition nun endgültig die Orientierung verloren? Es scheint so zu sein, forderte doch ihr Parteivorsitzender Martin Schulz in seiner Rede auf dem SPD-Bundesparteitag am 7.Dezember 2017 seine Partei auf, „spätestens im Jahre 2025 die Vereinigten Staaten von Europa“ zu schaffen.

Nach Schulz solle die SPD die Europapartei werden: „Globale Regeln müssen global durchgesetzt werden, und hierfür brauchen wir Europa. Deshalb müssen wir Europa stärken. Deshalb sind wir die Europapartei. Und nur Europa kann in dieser Globalisierung die Regeln durchsetzen, die ihre Auswüchse, (…) unter Kontrolle bringen. Deshalb müssen wir Europa stärken. Wir brauchen das sozialdemokratische Europa, und genau dafür treten wir ein. Nur dieses Europa gibt es aktuell nicht, und wir müssen es schaffen. (…)“ 

Von jenem „sozialdemokratische Europa“ ist aber gegenwärtig weit und breit nichts zu sehen. Im Unterschied zum Jahr 2000, als Sozialdemokraten noch die Mehrheit der Regierungschefs in der EU stellten, sind sie inzwischen fast überall von konservativen, offen rechten bzw. liberalen Kräften von der Macht verdrängt worden. Lediglich in Portugal und in Schweden konnten sie sich an der Regierung halten. Zwar regieren auch in Italien, Rumänien und in der Slowakei Politiker, die sich Sozialdemokraten nennen, sie sind es aber nicht. In vielen EU-Ländern wurde die Sozialdemokratie in letzter Zeit sogar marginalisiert, etwa in Griechenland, den Niederlanden, Irland, Frankreich und kürzlich in der Tschechischen Republik. In mehreren Ländern Osteuropas sind sie nicht einmal mehr im Parlament vertreten. Die europäischen Sozialdemoraten erhielten damit die Quittung für ihre neoliberale Politik überall in Europa.

Und jetzt soll es ausgerechnet der französische Präsident Emmanuel Macron sein, jener ehemalige Manager der Investmentbank Rothschild, an dem sich die deutsche Sozialdemokratie aufrichten will. Im Parteitagsbeschluss „Unser Weg. Für ein modernes und gerechtes Deutschland“ heißt es: „Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern und insbesondere mit Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron wollen wir die Europäische Union als Gemeinschaft demokratischer Staaten mit sozialer Marktwirtschaft so weiterentwickeln, dass sie allen Bürgerinnen und Bürgern Sicherheit und Stabilität in einer unsicher werdenden Welt gewährleisten kann.“ Die SPD scheint sich offenbar nicht daran zu stören, dass Macron, kaum war er gewählt, sofort daran ging, die Rechte der Lohnabhängigen rigoros abzubauen. Mit seiner erdrückenden Mehrheit in der Nationalversammlung gelang ihm, was seine konservativen und sozialistischen Vorgänger nicht fertiggebracht hatten: Es zerstörte mit seiner sogenannten Arbeitszeitreform ein wichtiges Element jener sozialen Marktwirtschaft in Frankreich, die nun ausgerechnet die SPD mit ihm zusammen auf europäischer Ebene „weiterentwickeln“ will.

Doch Martin Schulz ging es in seiner Rede auf dem Bundesparteitag noch um sehr viel mehr: „Seit 1925 - mit dem Heidelberger Programm - fordert die SPD die Vereinigten Staaten von Europa. Das bedeutet konkret, dass wir Europa mindestens in den Bereichen Innere und Äußere Sicherheit, beim Klimaschutz, bei der Steuer- und Geldpolitik, beim Kampf gegen Steueroasen, bei der Flüchtlingspolitik und bei der Entwicklungszusammenarbeit die Instrumente geben müssen, die Europa braucht, um handlungsfähig zu sein. Und deshalb frage ich Euch: Warum nehmen wir uns eigentlich jetzt nicht vor - hundert Jahre nach unserem Heidelberger Beschluss; hundert Jahre später - spätestens im Jahre 2025 diese Vereinigten Staaten von Europa verwirklicht zu haben? Ich will, dass es einen europäischen Verfassungsvertrag gibt, der ein föderales Europa schafft, das keine Bedrohung für seine Mitgliedsstaaten ist, sondern ihre sinnvolle Ergänzung. Ein solcher Verfassungsvertrag muss von einem Konvent geschrieben werden, der die Zivilgesellschaft und die Völker Europas mit einbezieht. (…) Dieser Verfassungsvertrag muss deshalb mit den Menschen erarbeitet werden. Wenn wir ihn haben, dann muss er in den Mitgliedsstaaten vorgelegt werden. Wer dann dagegen ist, der geht dann eben aus der Europäischen Union heraus. Lasst uns endlich den Mut aufbringen, Europa beherzt voranzubringen! Nicht dieses Drehen an Stellschräubchen! Lasst uns Mut haben!“

Als Kanzlerkandidat hatte Schulz das Wort Europa hingegen so gut wie nie in den Mund genommen. In seiner ersten großen Rede nach seiner Nominierung hatte er auf einer Konferenz der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen am 20. Februar 2017 in Bielefeld Europa nur ein einziges mal erwähnt. So hielt er es auch im gesamten Wahlkampf: Stets war nur vom „gerechten Deutschland“ die Rede.

Mit seiner Parteitagsrede kehrte Schulz nun zu seinen Wurzeln zurück. Bekanntlich hatte er allein im Europäischen Parlament Karriere gemacht. Dort war er erst Vorsitzender der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) und dann Parlamentspräsident. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2014 trat er als Spitzenkandidat der SPE an.

In Vorbereitung dieser Kandidatur hatte er im Frühjahr 2013 das Buch „Der gefesselte Riese. Europas letzte Chance“[i] vorgelegt. Das Werk wurde seinerzeit kaum zur Kenntnis genommen.[ii] In dem Buch entwickelte Schulz Forderungen, die weitgehend identisch mit denen seiner Parteitagsrede vom 7. Dezember 2017 sind. Bereits 2013 sprach er von einem „vollständigen Umbau der Union“, der einen „neuen europäischen Vertrag“ erfordere. Vergleichbar dem Konvent, der den Verfassungsvertrag entworfen hatte, müsse dieser neue Vertrag, so damals Schulz, „von einem Konvent ausgearbeitet werden, in dem die europäischen Institutionen, nationale Parlamentarier, Regierungen und Nichtregierungsinstitutionen eingebunden sind“. Auf diese Weise solle der Einfluss der Mitgliedstaaten auf die Vertragsgestaltung möglichst gering gehalten werden, denn „wir können es uns nicht erlauben, dass ein mit breiter Beteiligung erarbeiteter Verfassungsvertrag schließlich am Veto einzelner Länder scheitert, wie das bei der letzten Verfassungsrunde geschehen ist“. Für die Mitgliedsländer, die diesen neuen Vertrag am Ende ablehnen, sah Schulz schon damals keinen Platz mehr in der Union vor: „Diejenigen Länder, die den Vertrag nicht ratifizieren, sollten dann automatisch aus der EU ausscheiden.“ Schulz nahm in seinem Buch also eine Zerschlagung der EU bewusst in Kauf.

Forderungen „nach einem europäischen Verfassungsvertrag, der ein föderales Europa schafft“, so Schulz auf dem SPD-Parteitag, haben aber keinerlei Chancen auf Realisierung, schon gar nicht in der gegenwärtigen Krise der EU. Die tatsächlich dort Herrschenden, und dies sind die im Europäischen Rat versammelten Regierungschefs der Mitgliedsländer, wären schon froh, wenn sie die Union, und hier insbesondere die Eurozone, ohne größeren Schäden und ohne Auflösungsprozesse an ihren Rändern durch die Krise bringen könnten. Der britische Brexit und die Weigerung osteuropäischer Regierungen, sich an einer EU-weiten Verteilung von Flüchtlingen zu beteiligen, bringen die EU schon jetzt an den Rand des Scheiterns.

Die 2013 von Schulz erhobene Forderung nach einem Ausschluss der einen neuen Vertrag ablehnenden Mitgliedsländer hatte seinerzeit den Rezensenten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Nicolas Busse, irritiert. Er fragte: „Glaubt Schulz wirklich, dass irgendeine Regierung in Europa bereit wäre, sich auf ein Alles-oder-Nichts-Spiel einzulassen, bei dem sie für ein paar neue Integrationsschritte alle bisherigen Verträge riskieren würde? Will er wirklich in Kauf nehmen, dass womöglich Länder wie Frankreich, die Niederlande oder auch Deutschland aus der EU fliegen, wenn es dort zu ablehnenden Volksabstimmungen über eine einzige Vertragsänderung kommt?“[iii]

Auch jetzt, vier Jahre später, führen die in der Parteitagsrede wieder aufgetischten Positionen von damals nur zu Kopfschütteln. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung weigerte sich in einem Kommentar, die Positionen von Schulz überhaupt als seriös zu bezeichnen und attestierte ihm, „in der Europa-Politik nur an Schall und Rauch interessiert“ zu sein.[iv] Auf Zeit-Online wurde unter der treffenden Überschrift „So ruiniert man Europa“ konstatiert: „Wer jetzt eine europäische Verfassung fordert, ist entweder naiv, oder er handelt verantwortungslos.“ Und: „Eine Vereinigung unter Zwang würde den Kontinent spalten. Man kann Europa ruinieren, indem man die europäische Idee überfrachtet. Martin Schulz tut genau das.“ Und als Grund für den Vorschlag wurde genannt „dass Schulz nach einem Vorschlag gesucht hat, mit dem er die Basis der SPD hinter sich bringen kann.“[v]

Die maßlosen Forderungen des SPD-Parteivorsitzenden werden vor allem von jenen Politikern und Medien abgelehnt, die die EU aus deutschem Kapitalinteresse heraus unbedingt erhalten und vorsichtig weiterentwickeln wollen. Phantastereien a la Schulz stören dabei nur. Und in der Tat ist es maßlos, dass ausgerechnet der Vorsitzende einer Partei, die mit gerade einmal knapp über 20 Prozent erst vor wenigen Wochen ihr schlechtestes Bundestagswahlergebnis überhaupt eingefahren hat, jetzt dazu auffordert, die Vereinigten Staaten von Europa und dann auch noch in nur wenigen Jahren verwirklichen zu wollen. Die SPD begibt sich damit auf das Niveau eines Yanis Varoufakis, der mit seiner Bewegung DiEM 25 ebenfalls eine Verfassung für Europa. Selbst die zu den EU-Enthusiasten gehörende Partei Bündnis90/Die Grünen will da nicht mitgehen. Die SPD muss sich fragen lassen, was in sie gefahren ist, solche Positionen jetzt zu präsentieren. Die privaten Phantasmen eines Europapolitikers, aufgeschrieben in einem weithin unbeachtete gebliebenen Buch sind das Eine, etwas sehr Andere ist es aber, wenn nun der Autor als Parteivorsitzender seine Ideen zu den Zielen der gesamten Partei erklärt.

Der CSU-Politiker Alexander Dobrindt hat Schulz zu Recht einen „Radikaleuropäer“ genannt. Geleitet wurde er dabei vom sicheren Instinkt, dass die EU als regionale Version der Globalisierung von den Lohnabhängigen mehr und mehr auch in Deutschland immer schlechter angesehen wird, begünstigt sie doch Sozial- und Arbeitsplatzabbau im großen Stil. Die Positionen von Schulz mögen wohl für die von einer bürgerlichen Mittelschicht getragene Bewegung „Pulse of Europe“ attraktiv sein, nicht aber für diejenigen, die sich in der Gesellschaft unten befinden und die auf einen starken Nationalstaat als Sozialstaat angewiesen sind. Solche Wähler werden künftig noch stärker von der SPD zu CDU/CSU bzw. gleich zur AfD wechseln. Die Parteitagsrede von Schulz stellt daher einen weiteren Schritt der SPD in das politische Abseits dar.


[i] Martin Schulz, Der gefesselte Riese. Europas letzte Chance, Berlin, 2013

[ii] Vergleiche dazu die Kritik von Andreas Wehr, „Der Europäische Traum und die Wirklichkeit“, PapyRossa Verlag 2013, Köln, hier vor allem die Ausführungen über Martin Schulz auf den Seiten 109 bis 127

[iii] Nicolas Busse, Erklärungen für ein verunsichertes Publikum, in: FAZ vom 27.3.2013

[iv] Zwischen Selbstfindung und Selbstbetrug, in: FAZ vom 9.12.2017

[v] So ruiniert man Europa, Zeit-Online vom 7.12.2017, http://www.zeit.de/wirtschaft/2017-12/martin-schulz-europa-eu-spd

Der Artikel erschien auf der Online-Zeitschrift Rubikon unter https://www.rubikon.news/artikel/der-schritt-ins-politische-abseits 

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