Neue Grundlage

Ist über Stalin nicht alles gesagt und geschrieben und das Verdammungsurteil über ihn unwiderruflich gesprochen worden? Weshalb wagt sich dann der italienische Philosoph und Historiker Domenico Lo­surdo, Autor einer allseits gewürdigten Nietzsche-Biographie, an dieses Thema, mit dem er sich nur Streit einhandeln kann? Und Streit hat es in Italien, wo das Buch inzwischen in dritter Auflage erschienen ist, reichlich gegeben. So bezeichnete der Corriere della Sera Losurdo als »Apologet Stalins«. Vor allem aber die übrig gebliebenen kommunistischen Parteien sind es, die nicht mehr an das ungeliebte Erbe erinnert werden wollen. So erwähnte die l’Humanité die französische Ausgabe nur in einer kleinen Notiz. Offener wurde hingegen in Brasilien das Buch aufgenommen. Eine Antwort auf die Frage, weshalb man sich mit Stalin auseinandersetzen sollte, hat Luciano Canfora in seinem dem Buch angefügten Essay »Von Stalin zu Gorbatschow« gegeben: »Meiner Meinung nach ist es nicht gut, dass man heute noch darauf verzichtet, von Stalin bei klarem Verstand zu reden, wie man es inzwischen bei Robespierre oder anderen ›blutgierigen‹ Verfechtern der ›Revolution‹ tut. Man springt auf, statt pro und contra abzuwägen.« (S. 408)

Losurdo untersucht die Geschichte der Sowjetunion mit den von ihm in seinen früheren Büchern entwickelten Methoden. Er fragt zunächst nach dem historischen Hintergrund der russischen Revolution und nach den internationalen Bedingungen ihrer Entwicklung. Anschließend geht er der Frage nach, ob es in der marxistischen Theorie nicht Elemente gibt, die die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaften negativ belastet haben. Schließlich nutzt er das Mittel der Komparatistik, des Vergleichs, um der Frage nachzugehen, ob die westlichen liberalen Gesellschaften überhaupt das Recht haben, sich in der bekannten Weise über den gewesenen Sozialismus moralisch zu erheben.

Vielschichtiges Bild

Der Autor setzt sich hingegen nicht mit der heute so beliebten Frage nach der Persönlichkeit Stalins auseinander, da psychologische Deutungen für die Klärung historischer Zusammenhänge wenig geeignet sind. Auch beteiligt er sich nicht an der innerkommunistischen Debatte über die Auslegung des Marxismus-Leninismus, und er liefert keinen Beitrag zur Klärung der Frage, ob nun der XX. Parteitag der KPdSU eine »revisionistische Wende« war oder nicht.1 Es fällt ihm nicht ein, einen letztlich unfruchtbaren Streit um Auslegungen der Texte von Marx, Engels und Lenin zu führen. Luciano Canfora geht in seinem Essay ebenfalls auf all das nicht ein: »Mehr als fünfzig Jahre nach dem Tode Stalins werden heute die Beweggründe der Partei-Geschichtsschreibung unbedeutender für uns, während umgekehrt das historische Problem des Platzes, den Stalin und seine Nachfolger in der Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert einnehmen, in den Vordergrund tritt (...).« (S. 416)

Losurdo erinnert daran, dass Stalin in den ersten Jahrzehnten international keineswegs als das Monster und der Egomane angesehen wurde, als das er uns heute in den Medien entgegentritt. In den zwanziger und dreißiger Jahren war für das kapitalistische Lager vielmehr Trotzki das Feindbild Nr. 1: »›Trotzki, alias Bronstein‹, d. h. der jüdische Bolschewik schlechthin, ist 1929 für Goebbels derjenige, ›der vielleicht die meisten Verbrechen auf dem Gewissen hat, die je ein Mensch auf sich lud‹.« (S. 295) Ausgesprochen positiv fiel hingegen das westliche Urteil über Stalin im Zweiten Weltkrieg und unmittelbar danach aus. Die öffentliche Meinung stand ganz unter dem Eindruck der Siege, die die sowjetische Armee unter ihrem obersten Befehlshaber bei der Zerschlagung des Hitlerfaschismus errungen hatte. Das amerikanische Magazin Times kürte ihn 1944 zum Mann des Jahres, und Churchill erklärte 1943 in Teheran, »dieser Mann gefällt mir.« (S. 9) Angesichts der »verschiedenen Stalinbilder« in der Geschichte weigert sich Losurdo, zwischen dem einen oder anderen zu wählen, er ruft vielmehr dazu auf, »nicht eines davon zu verabsolutieren, sondern vielmehr alle zu problematisieren.« (S. 19)

Zur Beurteilung des Handelns der Sowjetunion unter Stalin sei es dem Autor zufolge notwendig, »die geopolitische Kollokation und die Geschichte im Hintergrund aller Länder, die im Zweiten Dreißigjährigen Krieg (zwischen 1914 und 1945, A.W.) verwickelt sind« (S. 27), zu betrachten. Der Autor nennt »drei Bürgerkriege«, die den Terror nicht entschuldbar, aber erklärbar machen: »Im ersten prallt die Revolution mit der buntscheckigen Front ihrer Feinde zusammen, die von den kapitalistischen Mächten unterstützt werden, denen es darum geht, die bolschewistische Ansteckung mit allen Mitteln einzudämmen. Der zweite entwickelt sich von der Revolution von oben und von außen her, denn darin besteht praktisch, trotz einiger Anstöße von unten aus dem ländlichen Milieu, der Substanz nach die Kollektivierung der Landwirtschaft. Der dritte ist der, der die bolschewistische Führungsschicht erschüttert.« (S. 114)

Ursachenforschung

Über die Legitimation des ersten Bürgerkriegs gegen die weiße Konterrevolution, die von imperialistischen Staaten von außen unterstützt wird, dürfte es heute keinen Zweifel mehr geben. Cheforganisator der in diesem Kampf siegreichen Roten Armee war übrigens Trotzki. Zweifelhafter ist hingegen schon die Notwendigkeit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, zumal ihre brutale Durchsetzung zu unzähligen Opfern führte; zu einer »Bartholomäusnacht (...) mit ihren furchtbaren sozialen und menschlichen Opfern«. (S. 163) Der österreichische Kommunist Hans Kalt war der Auffassung, dass »Stalin genau das getan hat, was er ein Jahr zuvor der trotzkistischen Opposition vorgeworfen hatte. Ideologisch hat die Opposition gesiegt.«2 Max Adler, der sozialdemokratische Theoretiker des Austromarxismus, verteidigte hingegen 1931 die Kollektivierung: »Der Klassenkampf zwischen Arbeitern und Bauern, oder richtiger gesagt zwischen dem Proletariat und den Kulaken, ließ sich nicht mehr vermeiden.«3 Bei der Bewertung der Zwangskollektivierung schließt sich Losurdo der heute vielfach vertretenen Position an, dass ohne sie die schnelle Industrialisierung Sowjetrusslands unmöglich gewesen wäre: »Es lohnt sich darauf hinzuweisen, dass die seinerzeit von Toynbee formulierte These, wonach der von Stalins UdSSR ›von 1928 bis 1941‹ verfolgte Weg Stalingrad möglich gemacht habe, heute von nicht wenigen Historikern und Forschern der Militärstrategie bestätigt wird.« (S. 328)

Am Umstrittensten und Kompliziertesten ist die Einordnung des »dritten Bürgerkriegs«, der »die bolschewistische Führungsschicht erschütterte«. Dieser innerhalb der Partei geführte Kampf »nahm die Grausamkeit eines Religionskrieges an«. (S. 114f.) Der französische Kommunist Jean Elleinstein hat in seiner Stalinbiographie einen Eindruck davon gegeben, welch großen Verluste und tiefen Wunden die Bolschewiki dabei erlitten: »Von den 1966 Delegierten, die sich am 26. Januar 1934 zur Eröffnung des Kongresses (des XVII. Parteitags der KPdSU, A.W.) im Großen Saal des Kreml zusammengefunden hatten, (werden) im Laufe der folgenden Jahre 1108 Personen auf Befehl Stalins hingerichtet; unter diesen Opfern fanden sich 98 von den 139 Mitgliedern, die am letzten Tag ins ZK gewählt worden waren.«4 Vom furchtbaren Aderlass waren auch ausländische kommunistische Parteien betroffen, und hier vor allem die als trotzkistisch verdächtigte polnische Partei, die 1938 sogar aufgelöst wurde. Zahlreiche Mitglieder der KPD wurden exekutiert oder verschwanden in den Lagern, unter den vielen Hugo Eberlein, ehemals Sekretär des ZK der KPD. Besonders schrecklich war das Schicksal jener, die aus Nazideutschland fliehen konnten, nur um in der Zeit des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts von den sowjetischen Behörden wieder den faschistischen Häschern übergeben zu werden. All dies ist unentschuldbar, und diese moralische Schuld unterstreicht Losurdo, indem er von »dem tragischsten Kapitel der Geschichte der Sowjetunion«, von »Terror« und »blutigen Säuberungen, die in großem Umfang wüteten (…)« (S. 52) spricht.

Doch Historiker sind dazu verpflichtet, sich nicht mit der moralischen Verurteilung abzufinden, sie haben auch nach den Gründen, nach dem Warum zu fragen. Mit Blick auf die Säuberungen in der Roten Armee 1937 beschreibt Losurdo das Dilemma: »Die Zweifel bleiben, aber nur schwerlich kann man das Ganze mit dem üblichen deus ex machina erklären, dem macht- und blutdürstigen Diktator, der darauf brennt, sich nur mit Marionetten zu umgeben, die zum blinden und unbedingten Gehorsam bereit sind.« (S. 113) Zumindest zwei Ursachen werden heute in der Geschichtsschreibung als objektive Gründe für den Terror genannt: Mit dem Fehlen jeder rechtsstaatlichen Tradition in Russland ist das Erbe von Willkür, Brutalität und Grausamkeit in einer insgesamt verrohten Gesellschaft verbunden, in der ein Menschenleben nur wenig zählt. Hieran knüpfen die Bolschewiki – wenn auch eher unbewusst – an. Hinzu kommt die nicht nachlassende imperialistische Bedrohung von außen. Die Eskalation des Terrors Ende der 30er Jahre fällt denn auch nicht zufällig in eine Periode erneuter akuter außenpolitischer Gefahr: In Deutschland sind die Faschisten an der Macht, deren Führer die Vernichtung der Sowjetunion zu seinem wichtigsten Ziel erklärt. Im Fernen Osten stehen die japanischen Imperialisten zum Angriff bereit.

Von diesen objektiven Ursachen geht auch der Autor des Buches aus. Doch darüber hinaus weist er nach, dass sich die Staatsmacht in der Auseinandersetzung mit der trotzkistischen Opposition tatsächlich in einem Bürgerkrieg befand. Und dieser Bürgerkrieg wurde auch von der schließlich unterlegenen Opposition mit allen Mitteln geführt, wozu Sabotage, Mordanschläge und der offen proklamierte Aufruf zum Sturz Stalins gehörten. Zum Beweis führt Losurdo zwei Bücher des überzeugten Anhängers Trotzkis Wadim S. Rogowin an, der unter Nutzung inzwischen geöffneter Moskauer Archive zu dem Schluss kommt: »In Wirklichkeit waren die Moskauer Prozesse kein grundloses kaltblütiges Verbrechen, sondern der Gegenschlag in einem zugespitzten politischen Kampf.« (S. 100) Das letzte Wort über die Hintergründe der Prozesse ist sicherlich auch damit noch nicht gesprochen. Folgerichtig zeigt Losurdo in seinem Buch, dass hier weitere Forschung notwendig ist.

Politische Weichenstellungen

Der »dritte Bürgerkrieg« verknüpfte sich in einigen Fällen mit der Bedrohung von außen und vergrößerte so die Panik im Kreml, etwa bei der angeblichen Verschwörung von Marschall Tuchatschewski, und anderer Generäle gegen Stalin, bei der – wie man heute weiß – der deutsche Geheimdienst seine Hände im Spiel hatte. Auch die faschistische Auslandspropaganda versuchte, die innersowjetischen Konflikte für sich zu nutzen: »Im April 1938 notiert Goebbels in sein Tagebuch: ›Unser Geheimsender von Ostpreußen nach Russland erregt großes Aufsehen. Er arbeitet im Namen Trotzkis und macht Stalin zu schaffen.‹« (S. 106) Wenig erfährt man in dem Buch hingegen über den Terror gegen die sogenannte rechte Opposition. So bleiben die Hintergründe der Exekution des marxistischen Wirtschaftswissenschaftlers und Philosophen Nikolai Bucharin leider im Dunkeln. (Vgl. S. 350)

Mit den üblichen Erklärungsmustern für das Stalinsche Regime wie »Verrat«, »Entartung« bzw. »bürokratische Deformation« kann Losurdo wenig anfangen, da diese moralischen Urteile nichts erklären. Er fragt vielmehr nach den zentralen Mängeln im sozialistischen Denken, die für diese tragische Entwicklung mitverantwortlich waren. Er geht damit weit über jene Kritiker hinaus, die Stalin nur der Abweichung von der Politik Lenins bezichtigen. Um es direkter zu sagen: Für Losurdo gehören einige Aussagen der Klassiker des Marxismus-Leninismus selbst zum Problem.5

So stellt sich gleich zu Beginn der Sowjetunion die Frage, wie »nach dem Dahinschwinden der Perspektive einer baldigen Errichtung der ›internationalen Räterepublik‹ mit der entsprechenden Auflösung der staatlichen und nationalen Grenzen« (S. 62) überhaupt eine Außenpolitik der UdSSR zu machen sei, gingen doch die Marxisten immer wie selbstverständlich davon aus, dass der Sieg des Sozialismus in einem Land nur der Auftakt zur Weltrevolution sein könne. Vor allem Trotzki polemisiert gegen »das Vergessen des Prinzips, demzufolge der einzelne Arbeiterstaat nur als ›Brückenkopf der Weltrevolution‹ fungieren kann.« (S. 63) Losurdo teilt hingegen die realistische Sicht von der Unmöglichkeit des Exports der Revolution. Und Canfora schreibt in seinem Essay: »Trotzki hegte die Illusion, Valmy zu wiederholen und aller Welt die Ausbreitung des revolutionären Brandes wie zu Zeiten Dumouriez’ und des siegreichen Frankreichs gegen die Koalitionen zu verkünden. Lenin und Stalin, in vieler Hinsicht unterschiedlich, doch diesbezüglich einig, schätzten die Kräfteverhältnisse realistisch ein und folgten der Richtschnur, die 1939 angesichts der erneuten Kriegsgefahr wieder auftaucht: ›Sollen die Imperialisten sich nur untereinander massakrieren, wir halten uns heraus und werden stärker.‹« (S. 418) Auch Antonio Gramsci hatte in dem Export der Revolution nur eine Ausbreitung eines »anachronistischen und widernatürlichen ›Napoleonismus‹«6 sehen können.

Anbruch der Autokratie

Als Ballast für die Entwicklung der jungen UdSSR sollte sich auch die Annahme eines schnellen »Absterben des Staates« erweisen, die Bestandteil marxistischen Denkens ist und von Lenin am Vorabend der Oktoberrevolution in seinem Werk Staat und Revolution noch einmal zugespitzt wurde. Die 1936 verabschiedete Verfassung der Sowjetunion stellt »deshalb eine Wende dar, weil sie mit den Anarchovorstellungen bricht, die hartnäckig am Ideal vom Absterben des Staates festhalten und für die ›das Recht Opium für das Volk‹ und ›die Idee der Verfassung eine bürgerliche Idee ist‹«. (S. 80) Die Verfassung blieb aber weitgehend Papier und erlangte in der Realität kaum eine Bedeutung.

So kommt Losurdo zu dem Resümee: »Für die drei Jahrzehnte der Geschichte Sowjetrusslands unter der Führung Stalins ist der grundlegende Aspekt nicht die Mündung der Parteidiktatur in die Autokratie, sondern der wiederholte Versuch, vom Ausnahmezustand zu einer Situation relativer Normalität überzugehen; diese Versuche scheiterten sowohl aus inneren (die abstrakte Utopie und der Messianismus, die es verhinderten, sich mit den erzielten Resultaten zu identifizieren) als auch aus internationalen Gründen (die permanente Bedrohung, die auf dem aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Land lastete) bzw. aus der Verflechtung beider.« (S. 169 f.) Es kommt zur Herausbildung einer Autokratie: »Mit dem Aufflammen des dritten Bürgerkriegs (innerhalb der bolschewistischen Reihen) und während sich gleichzeitig der Zweite Weltkrieg (in Asien noch vor Europa) nähert, läuft dieses mehrfache Scheitern auf den Anbruch der Autokratie hinaus, die ein Führer ausübt, der Gegenstand eines wahren Kults wird.« (S. 170)

Gegen Totalitarismusdoktrin

Losurdo wendet sich scharf gegen den in Mode gekommenen Vergleich von Hitler und Stalin, gegen den »Mythos der Zwillingsmonster«, zu dem man aber nur gelangen kann, wenn »der eine wie der andere von den jeweiligen historischen Kontexten und politischen Plänen abstrahierend beschrieben wird«. (S. 221) So absurd wie die Gleichsetzung von Rot und Braun ist auch die Behauptung, Stalin sei Antisemit bzw. die gesamte Sowjetunion sei antisemitisch eingestellt gewesen. Eine solche Tatsachenverdrehung ist bestens dafür geeignet zu verdecken, dass »die Tragödie des jüdischen Volkes im 20. Jahrhundert in ihrem ganzen Ablauf unter »aktive (r) Beteiligung einerseits des liberalen Westens und andererseits des vorrevolutionären und konterrevolutionären Russland (s)« (S. 256) stattfand. Erst der Rote Oktober machte in Rußland mit den regelmäßigen Pogromen gegen Juden Schluss. Unter den Revolutionären befanden sich zahlreiche Juden, viele Partei- und Staatsfunktionen wurden von ihnen besetzt. 1937 stellten sie sogar »in der Regierung die Mehrheit«. (S. 279) Nicht von ungefähr ging es für die Faschisten bei dem Angriff auf die UdSSR »darum, ein für alle Mal ›das Judenregime in Russland‹, die ›Zentrale der jüdisch-bolschewistischen Weltbeglücker‹ zu vernichten«. (S. 269) Am Ende des Krieges ist es eine Tatsache, dass von der Roten Armee so viele Juden wie von keiner anderen Armee gerettet worden waren. Dies findet auch die ausdrückliche Anerkennung durch Hannah Arendt. Lo­surdo erinnert zudem daran, dass sich unter den engen Verwandten Stalins Juden befanden und die Sowjetunion zu den ersten Staaten gehörte, die Israel anerkannte. Zum Zerwürfnis kam es, als ­Israel sich bald ganz dem Westen zuwendete: »Der Bruch mit dem jüdischen Staat ist auch der frontale Zusammenstoß mit den im sozialistischen Lager noch recht aktiven zionistischen Kreisen, die jetzt erbarmungslos unterdrückt werden. In der Tschechoslowakei wird Slánský zum Tode verurteilt, der nach dem Zeugnis seiner Tochter ›die Auswanderung nach Israel förderte‹.« (S. 283)

Allumfassende Komparatistik

Mit der Methode der Komparatistik beantwortet Losurdo die Frage, inwieweit die westlichen liberalen Gesellschaften zur moralischen Verurteilung der Sowjetunion unter Stalin berechtigt sind. Während in der zeitgenössischen Welt der gewesene Sozialismus dämonisiert wird, findet heute geradezu eine Hagiographie, eine Heiligenbeschreibung, des liberalen Westens statt. (Vgl. S. 365–407) Der Autor erinnert dagegen an die lange Blutspur des Kolonialismus, an die grausame Unterdrückung von Freiheitsbewegungen in Irland, Indien, Algerien, in Schwarzafrika, an die Vernichtung der Indianer, an die Unterdrückung der Ureinwohner Kanadas und Australiens. Auch neuere Verbrechen westlicher Staaten nimmt er ins Visier: Die rücksichtslose Kriegführung der USA in Korea, Vietnam, Kambodscha und Laos, die militärisch sinnlosen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki sowie die Flächenbombardements deutscher Städte in den letzten Kriegstagen. Losurdo erinnert an zahlreiche Verbrechen, die unter Billigung westlicher Staaten geschahen, etwa an den Terror in Guatemala und an das Abschlachten von Hunderttausenden als Kommunisten Verdächtigte in Indonesien. In der westlichen Geschichtsschreibung werden all diese Taten zwar bedauert, zu ihrer Erklärung aber meist auf objektive Umstände, auf Notstände und Ausnahmesituationen verwiesen, Begründungen, die man für die Sowjetunion Stalins hingegen in keinem Fall gelten lässt: »Doch ein Kriterium nur für sich und die eigene Seite zu beanspruchen, ist gerade die Definition für Dogmatismus auf theoretischer und Heuchelei auf moralischer Ebene.« (S. 327)7

Das Buch von Domenico Losurdo ist ein großer und mutiger Wurf. Mit der von ihm dargebotenen Fülle an bisher unbekanntem Material legt es zugleich die Grundlage für eine neue Debatte über Stalin sowie über die gesamte Geschichte der Sowjetunion. Die gesellschaftliche Linke muss sich mit dieser Geschichte befassen und die Debatte darüber endlich selbstbewusst führen, will sie aus der Defensive heraustreten.

1 Vgl. zum Streit darüber: Die Legende von der revisionistischen Wende, in: Marxistisches Forum, Heft 56, Leipzig, Juni 2008

2 Hans Kalt, In Stalins langem Schatten, PapyRossa Verlag Köln 2010, S. 57

3 Max Adler, Unsere Stellung zu Sowjetrussland, Berlin 1931, S. 168

4 Jean Elleinstein, Geschichte des »Stalinismus«, VSA Verlag, Westberlin 1977, S. 99

5 Vgl. hierzu auch Domenico Losurdo, Der Marxismus des Antonio Gramsci, VSA-Verlag, Hamburg 2000

6 Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Argument Verlag, Hamburg 1996, Band 7, S. 1693

7 Vgl. hierzu auch Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, PapyRossa Verlag, Köln 2010

Domenico Losurdo: Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende. PapyRossa Verlag, Köln 2012, 451 Seiten, brosch., 22,90 Euro Mit einem Nachwort von Luciano Canfora. Aus dem Italienischen von Erdmute Brielmayer

 

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