Nation, Souveränität und Imperialismus in der Europäischen Union

Je länger die europäische Finanz- und Staatsschuldenkrise anhält, um so lauter wird der Ruf nach einer zügigen Zentralisierung der EU, wobei auf die Souveränitätsrechte ihrer Mitgliedsländer nicht länger Rücksicht genommen werden soll. Im August 2011 schrieb das Handelsblatt: „Alle Wege zur Lösung der Euro-Krise führen zur Schatzkammer der deutschen Steuerzahler: Die Bundesregierung muss den Zutritt verweigern – oder die Euro-Staaten zu weitreichenden Souveränitätsverzichten zwingen.“[1] Mit der Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, dem Euro-Plus-Pakt und dem Fiskalpakt ist dieser Forderung inzwischen entsprochen worden. Die EU und vor allem die Länder der Eurozone haben sich der von Deutschland diktierten Politik unterzuordnen. Die Bundesregierung wird dabei von Grünen und Sozialdemokraten, aber auch von Gewerkschaftern unterstützt. Für den SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel steht fest: „Eine vertiefte europäische Union ist ohne den Verzicht auf Teile der nationalen Souveränitäten nicht zu haben.“[2]           

Die Verteidigung der Souveränitäten der EU-Länder scheint tatsächlich ein Anachronismus geworden zu sein, leben wir doch angeblich längst in einem globalisierten, internationalistischem System. Geht es also demnach nur noch darum, „eine Kooperation unterschiedlich produktiver Wirtschaften unter dem gemeinsamen Euro-Dach zu ermöglichen“, wie es einem Aufruf heißt?[3] Eine solche Sicht ist illusionär, denn die geforderte „Kooperation unterschiedlich produktiver Wirtschaften“ ignoriert die unter imperialistischen Staaten herrschende Hierarchie. Bereits Lenin sprach in seiner Imperialismusschrift die nüchterne und weiterhin gültige Wahrheit aus, dass „unter dem Kapitalismus (…) für die Aufteilung der Interessen- und Einflusssphären, der Kolonien usw. eine andere Grundlage als die Stärke der daran Beteiligten, ihre allgemeinwirtschaftliche, finanzielle, militärische und sonstige Stärke, nicht denkbar“ ist.[4] Und der Kampf der Staaten um Interessen- und Einflusssphären findet permanent statt: „Aus der ungleichmäßigen Entwicklung des Kapitalismus gehen ungleichmäßig sich entwickelnde imperialistische Mächte hervor, die die Erde ökonomisch und politisch beherrschen. Die Mächte agieren im Rahmen einer historisch gewordenen Aufteilung der Erde untereinander; die Bewegung der monopolistischen Konkurrenz ist die einer permanenten Verschiebung unter den imperialistischen Hauptmächten, Monopolgruppierungen und Branchen gegeneinander in der gleichzeitigen Form sowohl von Kollaboration als auch von Kampf.“[5] Die Europäische Union ist eine solche Form imperialistischer Kollaboration. Sie war und ist aber zugleich eine Arena zur Austragung des Kampfes zwischen den europäischen imperialistischen Hauptmächten. So ist die Geschichte der EU eine des permanenten Ringens zwischen Deutschland und Frankreich um die Hegemonie in ihr. Spätestens seit der Rückgewinnung des Handlungsspielraums des deutschen Monopolkapitals im Osten durch Eingliederung der DDR und durch den Beitritt der Staaten Ost- und Ostmitteleuropas zur EU ist dieser Kampf zugunsten Deutschlands entschieden.

Kollaboration und Konkurrenz

Gegenwärtig verstärken sich in der EU die Formen der Konkurrenz zulasten der Kollaboration. Die europäische Finanz- und Staatsschuldenkrise entwickelt eine Dynamik, in der sich traditionell entwickelte Formen der Kollaboration als nicht mehr zeitgemäß erweisen und deshalb unter der Führung Berlins gesprengt werden. Zur Bewältigung der Krise wurden Institutionen außerhalb der EU geschaffen: „Mit der durch das aktuelle Griechenlandpaket verbundenen Erweiterung der Kompetenzen der EFSF (der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität, A.W.) ist also nicht die Stärkung europäischer Institutionen verbunden – wobei eine gewisse Unabhängigkeit von nationalstaatlichen Interessen unterstellt werden kann –, sondern es wird eine Institution gestärkt, in welcher – wie im IMF (Internationaler Währungsfonds, A.W.) – nach Wirtschaftskraft entschieden wird: Deutschland (27,1 Prozent) und Frankreich (20,4 Prozent) haben zusammen nahezu die absolute Mehrheit – jedenfalls dann, wenn man die Beistandskandidaten, die ihr Stimmrecht verlieren, außer Betracht lässt. Das Griechenlandpaket bringt also per saldo nicht mehr Supranationalität, sondern eine Stärkung der dominierenden Länder, an der Spitze Deutschland.“[6] Bei den neuen Institutionen EFSF und künftig ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) handelt es sich um Instrumente, die sich aber auch – wo angebracht – der herkömmlichen Formen europäischer Kollaboration bedienen.

„Es ist offensichtlich, dass die Finanz- und Staatsschuldenkrise die Verlagerung der Macht hin zu den Mitgliedstaaten verstärkt hat. So ist etwa die Stellung Deutschlands (…) heute so stark, wie das noch nie in der Geschichte der Fall war. Spiegelbild ist die relative Schwäche Frankreichs und Großbritanniens“, so die FAZ zu den Veränderungen im Machtgefüge Kerneuropas[7]. Noch gravierender sind jedoch die Verschiebungen zwischen Kern und Peripherie. In diesem Verhältnis verliert die EU ihren Charakter einer Institution der Kollaboration. Es entsteht eine Hegemonialordnung mit Deutschland an der Spitze. Was die Lage der Defizitstaaten angeht, so wird selbst in bürgerlichen Medien offen von der Entstehung europäischer „Protektorate“ gesprochen.[8]       

Mit Blick auf den Kampf um die Befreiung der Kolonien sagte Lenin: „Was ist der wichtigste, der grundlegende Gedanke unserer Thesen? Die Unterscheidung zwischen unterdrückten und unterdrückenden Völkern.“[9] Diesen Gedanken wandte er auch auf das Verhältnis unter imperialistischen Ländern an. Über Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sagte er: „Der Versailler Vertrag hat für Deutschland und eine ganze Reihe anderer besiegter Länder Verhältnisse geschaffen, unter denen eine wirtschaftliche Existenz materiell nicht möglich ist, Verhältnisse völliger Rechtlosigkeit und Erniedrigung.“ Gleichwohl wies er Deutschland als Auslöser des Kriegs eine entscheidende Verantwortung für die eingetretene Situation zu: „Der Krieg ging darum, welche der verschwindend kleinen Gruppen der größten Staaten – die englische oder deutsche Gruppe – die Möglichkeit und das Recht erhalten sollte, die ganze Erde zu plündern, zu würgen und auszubeuten.“[10] Doch der Räuber war durch seine Niederlage inzwischen zum Opfer geworden. Solche grundlegenden Umkehrungen gab es immer wieder. Italien etwa wurde nach der Absetzung Mussolinis aus einem faschistischen Mordgesellen an der Seite Deutschlands quasi über Nacht zu einem seiner Opfer. Im übertragenen Sinne haben jetzt in der EU bedrängte Länder wie Griechenland, Irland und Portugal aber auch Spanien und Italien einen solch abrupten Rollenwechsel erlebt. Saßen ihre Bourgeoisien noch gestern mit denen Deutschlands und Frankreichs am gemeinsamen Tisch und genossen ihren Anteil an den Pfründen der EU, so haben sie inzwischen am Katzentisch Platz zu nehmen, wo ihnen die Bedingungen diktiert werden.

Aufgabe der Linken

Die klassenbewusste Linke in diesen Ländern ist daher zur Verteidigung der Souveränitäten ihrer Nationen übergangen. Es wäre töricht, würde man ihnen deshalb einen rückwärtsgewandten Nationalismus vorwerfen, denn natürlich ist der Nationalismus eines unterdrückenden Staates ein völlig anderer als der eines unterdrückten. Lenin spricht von den „zwei Nationalismen“; der eine ist reaktionär, der andere fortschrittlich. Da sich sein Denken stets um die alles entscheidende Frage der Machterringung bewegte, erkennt er im Nationalismus der unterdrückten Nation eine Chance für eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung, vorausgesetzt es gelänge, ihn mit sozialen Inhalten zu verbinden.  

Um diese Chance erkennen zu können, muss Klarheit über das Verhältnis zwischen Nationalismus und Internationalismus bestehen. Domenico Losurdo verweist auf Antonio Gramsci, der in den Gefängnisheften hervorgehoben hat, „dass ein Kommunist 'zutiefst national' sein müsse, um seinem 'Internationalismus' Konkretheit zu verleihen.“[11] Das scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein. Doch machen wir uns klar, wie der Internationalismus der russischen Revolutionäre überhaupt erst zur Wirkung kommen konnte. Die Bolschewiki errangen 1917 in einer Krise der russischen Nation deshalb den Sieg, weil sie dem  Land einen gangbaren Weg aus dem nicht enden wollenden Krieg aufzeigten. Als einzige Partei waren sie in der Lage, „den Staats- und Verwaltungsapparat wieder aufzubauen und die Nation zu retten.“ Und das gilt nicht allein für Russland: „Das letztendliche Zusammenfallen von nationaler und revolutionärer Sache wird unmittelbar evident, wenn die Revolution nicht in einem imperialistischen Land, wie es das zaristische Russland war, sondern in einem Land kolonialen oder halbkolonialen Zustands ausbricht. Man denke hier besonders an China.“[12] Weitere Beispiele für das enge Wechselverhältnis von sozialer und nationaler Revolution sind Kuba – die Parole der Verteidigung der Revolution lautet dort bekanntlich „Vaterland oder Tod“ – Nicaragua, Bolivien und Venezuela.

Die Verteidigung der nationalen Selbstbestimmung wurde auch angesichts der faschistischen imperialistischen Aggression Deutschlands zur Überlebensfrage der klassenbewussten Kräfte in den betroffenen Ländern. 1935 appellierte George Dimitroff auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale leidenschaftlich an die Revolutionäre, „ihren gegenwärtigen Kampf mit den nationalen Traditionen ihres Volkes in der Vergangenheit zu verknüpfen“, den „nationalen Nihilismus“ zurückzuweisen und „alles, was in der historischen Vergangenheit der Nation wertvoll ist“, kritisch wiederzugewinnen.[13] Dort, wo es die Linke verstand, diesem Rat zu folgen – etwa in Frankreich und in Italien – gelang es ihr, den Kämpfen um die Befreiung vom faschistischen Joch eine soziale Prägung zu geben. Das politische Spektrum in beiden Ländern konnte nach Kriegsende deshalb deutlich nach links verschoben werden.

Heute haben die Bourgeoisien der europäischen Peripherieländer ihre Nationen durch die Auslieferung an die EU in eine unhaltbare Lage gebracht. Als Perspektive bieten sie nur noch die Unterordnung ihrer Länder unter die Macht Kerneuropas an. Es sind die klassenbewussten Kräfte dort, die sich der Verteidigung der Souveränitäten ihrer Länder gegen diese Vormundschaft angenommen haben. In eine unhaltbare Lage hat das deutsche Monopolkapital aber auch die deutsche Nation selbst gebracht, indem sie sie zur Geisel ihres Herrschaftsanspruchs über Europa macht. Es ist die Aufgabe der deutschen Linken, alles in ihrer Kraft Stehende zu tun, damit Deutschland nicht wieder zur „großen Räuberin“ wird, von der Bertolt Brecht sprach! 

 


 

[1] Scheitert Europa?, in: Handelsblatt vom 19./20.08.2011

[2] Sigmar Gabriel, „Europa braucht tiefere Integration, in: Die Zeit vom 15.09.2011

[3] Aufruf „Europa neu begründen! Den Marsch in den Ruin stoppen! Die Krise durch Solidarität und Demokratie bewältigen!“ Initiatoren des Aufrufs sind: Frank Bsirske, Annelie Buntenbach, Rudolf Hickel, Steffen Lehndorff und Hans-Jürgen Urban. http://www.europa-neu-begründen.de/ 

[4] W.I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: Lenin Werke 22, Berlin 1960, S. 300  

[5] Wolf-Dieter Gudopp, Der Imperialismus und die „Periode der Weltkriege“, in: Marxistische Blätter 3-97, S. 68

[6] Jörg Goldberg, Menetekel Griechenland, in: Z-Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Heft 87, 09/2011, S.9

[7] Klaus-Dieter Frankenberger, Große Verunsicherung – wie die Krise Europa verändert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.04.2012

[8]  So wurde in der FAZ mit Blick auf Irland die Frage gestellt: "Lässt sich die Hilfe innenpolitisch überhaupt durchsetzen, wenn ein Land de facto unter ausländisches Protektorat gestellt wird, das immer noch unter dem Trauma langjähriger Fremdherrschaft leidet?" Europa im Rettungssog, in: FAZ vom 22.11.2010

[9] W.I. Lenin, II. Kongress der Kommunistischen Internationale, 19. Juli – 7. August 1920, in: Lenin Werke 31, Berlin 1960, S. 228     

[10] ebenda, S. 204 ff.     

[11] Domenico Losurdo, Der Marxismus des Antonio Gramsci, Hamburg 2000, S. 117

[12] Domenico Losurdo, Die Deutschen – Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes?, Berlin 2010, S.88f.  

[13] George Dimitroff, Bericht auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, in: Dimitroff, Ausgewählte Schriften 1933-1945, Köln 1976, S. 151 f.

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