Die misslungene Währungsunion

Vor 25 Jahren wurde der Maastricht-Vertrag nach deutschen Vorstellungen beschlossen

Andreas Wehr

Am 7. Februar 1992 wurde der Vertrag von Maastricht unterzeichnet. Mit ihm wurden, nach der Einheitlichen Europäischen Akte von 1985, zum zweiten Mal die Gründungsverträge von Rom aus dem Jahr 1957 verändert. Später gab es noch weitere Änderungsverträge: 1997 der Vertrag von Amsterdam, 2000 der von Nizza und schließlich 2007 der Lissabonner Vertrag. Doch der von Maastricht blieb der wichtigste, denn mit ihm wurde das europäische Vertragssystem völlig neu gestaltet. Es kam der Vertrag über die Europäische Union (EUV) zu den weiter bestehenden Gründungsverträgen hinzu. Seitdem wird von der Europäischen Union (EU) und nicht mehr von der Europäischen Gemeinschaft (EG) gesprochen. Die EU erhielt mit dem Vertrag von Maastricht aber nicht nur ihren heutigen Namen, sondern auch eine eigene Flagge. Das blaue Feld mit dem goldenen Sternenkranz übernahm man vom Europäischen Rat.

Noch wichtiger waren aber die inhaltlichen Veränderungen. Der Vertrag enthielt weitgehende Bestimmungen über eine aufgewertete Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Ganz neu war die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz- und Inneres. Damit wurden die zuvor außerhalb des EG-Rahmens abgeschlossenen Schengener Abkommen über den freien Grenzverkehr in Europa und über die Kontrolle der Außengrenzen in den institutionellen Rahmen der EU eingefügt. Die neue Europäische Union stand seit dem Vertrag von Maastricht damit auf drei Säulen: Der Europäischen Gemeinschaft, der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres.

Wille zur Integration

Mit dem EU-Vertrag sollte zugleich der politische Wille zum Ausdruck gebracht werden, „die bisherige Zwölfergemeinschaft (EG) bis zum Ende der neunziger Jahre zu einer umfassend geeinten Europäischen Union und damit zu einem vollintegrierten, dauerhaften und handlungsfähigen Verband ihrer Mitglieder weiterzuentwickeln“, wie es in einer Verlautbarung der Bundesregierung hieß. Dafür wurden einige mehr oder weniger symbolische Integrationsschritte beschlossen. Man schuf die Unionsbürgerschaft, die etwa dazu berechtigt, diplomatischen und konsularischen Schutz in Drittländern auch von Botschaften anderer EU-Ländern zu erhalten. Neu war das aktive und passive Wahlrecht für EG-Bürger bei Kommunal- und Europawahlen an jedem Wohnort in der EU.

Die wichtigste in Maastricht getroffene Entscheidung war jedoch die über den Fahrplan für eine Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) mit dem Ziel einer gemeinsamen Währung. Die dazu entscheidenden Verhandlungen fanden 1990 zeitgleich mit den Umwälzungen in der DDR und in den anderen Ländern Osteuropas statt. Es spricht daher viel dafür, dass die französische Regierung als Preis für ihre Zustimmung zum Anschluss der DDR an die Bundesrepublik die zügige Verwirklichung der gemeinsamen Währung verlangte, um auf diese Weise das nun noch mächtiger werdende Deutschland in Europa einzubinden. Doch auch die stark exportorientierte bundesdeutsche Industrie hatte immer ein Interesse an einer gemeinsamen europäischen Währung, konnten doch so die lästigen Wechselkursschwankungen beseitigt werden.

Der deutschen Bundesregierung gelang es in den Verhandlungen über die Wirtschafts- und Währungsunion, deren Ausgestaltung zu bestimmen, so wurde die Europäische Zentralbank nach dem Vorbild der Bundesbank konzipiert und ihre Unabhängigkeit von der Politik vertraglich garantiert. Es wurden Konvergenzkriterien für die Aufnahme in die WWU festgelegt, mit denen die Stabilität der gemeinsamen Währung gesichert werden sollte. Die beiden wichtigsten waren eine Obergrenze von drei Prozent der jährlichen Neuverschuldung und eine Gesamtstaatsschuld von höchstens 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Sollte also mit der Einführung der gemeinsamen Währung die Domestizierung Deutschlands französisches Ziel gewesen sein, so ist es verfehlt worden. Die Stellung Deutschlands ist heute stärker denn je und dies gerade wegen des Euros, der den Siegeszug der deutschen Industrie in Europa und weltweit enorm begünstigt hat. So ist es heute Berlin, das die Bedingungen in der Euro-Zone und in der gesamten EU diktiert, die übrigen Länder – nicht zuletzt Frankreich – haben zu folgen.

Domestizierung Deutschlands verfehlt

Der Vertrag von Maastricht trat am 1. November 1993 und damit fast zwei Jahre nach seiner Unterzeichnung in Kraft. Grund für diese Verzögerung war die sogenannte Ratifizierungskrise. In mehreren Ländern fanden Referenden über den Vertrag statt. In Dänemark wurde er im Juni 1992 knapp abgelehnt. Dem Land wurde daraufhin ein Opt-out von der Sozial-, Außen- und Währungspolitik gewährt, was bedeutet, dass es die in Maastricht in diesen Bereichen vereinbarten Regelungen nicht anwenden muss. Im Mai 1993 stimmten in einer zweiten Volksabstimmung die Dänen dem so geänderten Vertrag zu.

Vor allem aber in Frankreich kam es zu einer erbitterten Debatte über die vom Maastrichter Vertrag verlangte Aufgabe nationaler Souveränitätsrechte und über die von einer gemeinsamen Währung zu erwartenden sozialen Belastungen. Sowohl die Kommunistische Partei als auch gaullistische Kräfte mobilisierten für ein Non. Das Ergebnis der Abstimmung im September 1992 fiel denkbar knapp aus. 51,05 stimmten mit Ja, 48,95 Prozent mit Nein. Diese Abstimmung hat Frankreich verändert. Eine Skepsis gegenüber der europäischen Integration ist seitdem dort lebendig geblieben. Jahre später, bei der Abstimmung im Mai 2005 über den Vertrag über eine Verfassung für Europa, zeigte sich dieses Misstrauen erneut. Dieser Vertrag wurde klar abgelehnt. Es hieß daher, dass dieses Nein von „weit her“ kam.

In Deutschland, wo bundesweite Referenden nicht vorgesehen sind, wurde gegen seine Annahme das Bundesverfassungsgericht angerufen. Trotz mancher Kritik wurde der Vertrag am Ende von Karlsruhe gebilligt. Die Entscheidung des Gerichts ist dennoch bis heute von Relevanz, denn in den Leitsätzen des Urteils wurde festgelegt, dass „der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Gemeinschaften vom demokratischen Prinzip Grenzen gesetzt (sind). Dem Deutschen Bundestag müssen Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben“. Auf diese Aussage sollte das Gericht in späteren europarechtlichen Entscheidungen immer wieder zurückkommen.

Nach dem in Maastricht vereinbarten Fahrplan für die Wirtschafts- und Währungsunion war vorgesehen, diese bis 1999 in drei Stufen zu verwirklichen. Es hätte daher ausreichend Zeit und Möglichkeiten gegeben, das Für und Wider einer gemeinsamen Währung zu prüfen und das gewagte Unternehmen zu verschieben oder sogar abzusagen. Warner gab es genug – von rechts wie von links. Doch die Probleme wurden ignoriert. So wurde nicht untersucht, ob die WWU überhaupt ein optimaler Währungsraum sein könnte. Dabei wurde bereits damals ziemlich genau vorausgesagt, was passieren werde, sollte am vorgesehenen Zeitplan festgehalten werden. In einem Text aus dem Jahr 1996 heißt es: „Die vorzeitige Verwirklichung einer einheitlichen europäischen Geld- und Währungspolitik würde die realwirtschaftlichen und machtpolitischen Divergenzen in der EU lediglich verdecken. Um sie stattdessen auszugleichen, wären nicht allein die Weichwährungsländer zur Stabilitätspolitik zu verpflichten; die Hartwährungsländer, insbesondere die Bundesrepublik, müssten zu diesem Zweck einen Ausgleich ihrer Handels- und Leistungsbilanzen anstreben. Den enormen Überschüssen des deutschen Exportweltmeisters versuchen die schwächeren Länder durch Abwertungskonkurrenz, größere Staatsverschuldung u. ä. gegenzusteuern, um die Arbeitslosigkeit im eigenen Land niedrig zu halten. Dabei vertieft sich die Divergenz, statt Konvergenz zu fördern.“[i] Die Warner fanden aber kein Gehör. Im Europäischen Rat in Dublin am 13./14. Dezember 1996 war man sich einig darüber, die WWU am 1. Januar 1999 beginnen zu lassen. Zwar war als Voraussetzung der Währungsunion immer wieder die Schaffung einer politischen Union genannt worden, ohne dass jemals definiert wurde, was darunter genau zu verstehen ist. Tatsächlich ist das Gerede von der politischen Union bis heute weitgehend nur Rhetorik.

Der „dumme“ Stabilitätspakt

Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde auch der „Stabilitätspakt für die Wahrung der Haushaltsdisziplin in der dritten Stufe der WWU“ in Form zweier Verordnungen verabschiedet. Ziel des Paktes war es, die im Vertrag von Maastricht nur sehr vage formulierten Kriterien für die Einhaltung der Haushaltsdisziplin verbindlich festzulegen und vor allem mit Sanktionsmöglichkeiten auszustatten. Die Mitgliedstaaten verpflichteten sich damit, ausgeglichene oder gar Überschüsse ausweisende Haushalte anzustreben. Verbindlich festgelegt wurden konkrete Strafmaßnahmen im Fall der Überschreitung des in Maastricht festgelegten Kriteriums der Drei-Prozent-Marke jährlicher Neuverschuldung. Bei einem Vorstoß dagegen sollte das Defizitland eine unverzinsliche Zwangseinlage von 0,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Brüssel hinterlegen. Diese Einlage sollte sich in eine Geldbuße verwandeln, wenn nicht innerhalb von zwei Jahren das Defizit beseitigt wird.

Nach Beginn der WWU wurden von der Kommission zwar zahlreiche Sanktionsverfahren eingeleitet. In keinem einzigen Fall kam es jedoch zur Festsetzung einer Zwangseinlage oder gar zur Verhängung einer Geldbuße. Schließlich sind Strafen gegenüber einem Land mit einem bereits übermäßigen Defizit auch sinnwidrig, bedeuten sie doch, dass man einem eh schon an Blutarmut Leidenden weiteres Blut abzapft. Der Stabilitätspakt wurde denn auch zu Recht vom früheren Kommissionspräsidenten Romano Prodi einmal als „dummer Pakt“ bezeichnet. Aus seinem Scheitern hat man dennoch nicht gelernt. Der Stabilitätspakt wurde im Herbst 2011 noch einmal verschärft. Und der 2012 zusätzlich geschaffene Fiskalpakt gibt den Euroländern sogar das Recht, ein anderes Land vor dem Europäischen Gerichtshof verklagen zu können, sollte es wagen, die Defizitgrenzen zu überschreiten.

25 Jahre nach Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht kann Bilanz gezogen werden. Sie fällt für die Anhänger der Integration ernüchternd aus. Der Euro wurde zwar eingeführt, doch es ist danach genau das eingetreten, was die Kritiker vorausgesagt hatten: Die zwischen den Mitgliedsländern bestehenden Disparitäten haben sich nicht verringert, sondern vergrößert. In der weltweiten Finanzkrise hat sich gezeigt, dass die Wirtschafts- und Währungsunion nicht wetterfest ist. Griechenland, Irland, Portugal und Zypern waren gezwungen, Hilfen aus eilig geschaffenen europäischen Rettungsfonds anzunehmen. Der Preis dafür war hoch. Sie mussten sich den Diktaten aus Berlin und Brüssel beugen und ihre Entscheidungshoheit über Wirtschaft und Finanzen aufgeben. Ein Wiederaufschwung ihrer Volkswirtschaften ist dennoch ausgeblieben. Vor allem in den Peripherieländern des Südens hat die EU deshalb viel Vertrauen eingebüßt.

Unterschiede größer statt kleiner geworden

Die in Maastricht in das europäische Vertragswerk übernommene Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz- und Inneres ist Stückwerk geblieben. In der aktuellen Flüchtlingskrise wurde das Schengensystem der offenen Binnengrenzen teilweise sogar außer Kraft gesetzt. Und eine gemeinsame Migrationspolitik gibt es bis heute nicht, da die Interessen der Mitgliedstaaten hier weit auseinanderliegen. Nicht viel besser steht es um die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Zwar werden immer häufiger Soldaten unter der blauen EU-Flagge an alle möglichen Orte der Welt geschickt, doch eine verbindliche europäische Außenpolitik gibt es nur in Ansätzen.

Über die in Maastricht konzipierte Politische Union wird kaum noch gesprochen. Dieses Ziel verblasst immer mehr. Angesichts von Eurokrise, Scheitern einer gemeinsamen Migrationspolitik und dem angekündigten Ausscheiden des zweitwichtigsten Mitgliedslandes Großbritannien wird die Europäische Union es daher schon als Erfolg verbuchen dürfen, wenn es sie in 25 Jahren überhaupt noch gibt.



[i] Gerda Zellentin, Die Europäische Währungsunion – Fortschritt oder Rückschritt für die Integration?, in: Joachim Schuster/Klaus-Peter Weiner (Hg.),Maastricht neu verhandeln, PapyRossa Verlag, Köln 1996, S. 42

 

Aus: Unsere Zeit (UZ) vom 03.02.2017  

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