Die Grundrechte der Querdenker

Warum der behauptete Abbau von Freiheitsrechten fehl geht  

Sie geben vor, das Grundgesetz zu verteidigen - doch tatsächlich haben die Querdenker ein Verständnis von Freiheitsrechten, wie es im 19. Jahrhundert üblich war. Die damalige Gegenüberstellung von Grundrechten und Staat entspricht jedoch nicht mehr dem heutigen Verfassungsverständnis. Linke sollten sich daher nicht mit solch' einem überkommenen Bild von Freiheitsrechten gemein machen.

Die staatlich erlassenen Beschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben Proteste ausgelöst. Begonnen hatte es im Frühjahr 2020 mit den sogenannten „Hygienedemonstrationen“ in Berlin. Dann wurden in Stuttgart von „Querdenken 711“ Kundgebungen organisiert, die in vielen Städten Nachahmer fanden. Vorläufiger Höhepunkt war die Großdemonstration am 1. August 2020 in Berlin mit Zehntausenden Teilnehmern. Linke haben diese Kundgebungen kritisiert, da an ihnen auch Rechtsradikale, Mitglieder der AfD und Reichsbürger teilnahmen. Abgeordnete der Partei DIE LINKE verlangten in einer Anfrage an die Bundesregierung Auskunft über „Rechtsextreme Beeinflussung von Protesten gegen die Corona-Eindämmungsmaßnahmen“.[1]

Mit den inhaltlichen Aussagen der Querdenker-Bewegung setzen sich Linke dagegen kaum auseinander. Nicht selten gestehen sie den Corona-Demonstranten sogar zu, dass ihre Besorgnisse durchaus berechtigt sind, lediglich ihre Offenheit gegenüber Rechten bzw. Rechtsradikalen sehe man kritisch. Ganz offensichtlich verspüren nicht wenige Linke angesichts der staatlichen Eingriffe ein déjà vu Erlebnis, fühlen sich in die Zeit der Kämpfe gegen Berufsverbote oder gegen die Notstandsgesetze zurückversetzt.

Doch dieses Verständnis für die Inhalte der Corona-Proteste geht fehl. Linke sollten sich die dort verbreiteten Aussagen vielmehr genau ansehen, wird doch dort behauptet, dass in der Corona-Krise von Staatsseite Grundrechte willkürlich aufgehoben, ja zerstört werden und dadurch die demokratische Ordnung nachhaltig beschädigt oder sogar abgeschafft werde. Glaubt man den Querdenkern, so gilt es einen autoritären Gesellschaftsumbau zu verhindern. Dabei stilisieren sie sich selbst zu Kämpfern gegen eine „neue deutsche Diktatur“. So steht es regelmäßig in der Wochenzeitung „Demokratischer Widerstand“, von der seit April 2020 25 Ausgaben erschienen sind und die von sich behauptet, die „größte Zeitung Deutschlands“ zu sein. So liest man es auch in unzähligen Artikeln auf KenFM, Rubikon, der Rationalgalerie und weiteren Internetforen. Als Beispiel für die sich in immer neuen Variationen wiederholende Behauptung einer Missachtung der Grundechte durch die Regierenden sei hier Anselm Lenz, einer der Herausgeber des „Demokratischen Widerstands“ und regelmäßiger Autor auf KenFM, zitiert: „Als die Regierung am 25. März 2020 mit dem Notstandsregime den Boden des Grundgesetzes verließ, stand eine zweistellige Millionenzahl wacher Demokratinnen und Demokraten auf. Sie sagten: 'Wenn der Merkel-Staat sich nicht mehr an das Grundgesetz hält, sorgen wir für die Durchsetzung von Freiheit und Rechtsstaat. Das ist die beste Lehre aus den düsteren zwölf Jahren.'“ [2]

Die Freiheitsrechte der Querdenker

Die Demonstranten behaupten von sich, sie würden das Grundgesetz (GG) verteidigen. Bei den ersten Berliner Hygienedemonstrationen verteilten sie deshalb Exemplare der Verfassung, die sie sich von der Landeszentrale für politische Bildung hatten schicken lassen. Auf der Website von Querdenken 711 prangt der Bundesadler mit Schwarz-Rot-Gold und darunter steht in großen Lettern „Grundgesetz“.[3] Doch welches Grundgesetz meinen sie hier?

In seinem 1920 entstandenen, 1929 überarbeiteten und noch heute hochaktuellen Werk Vom Wesen und Wert der Demokratie [4] geht Hans Kelsen, der Jurist und Co-Autor der österreichischen Bundesverfassung von 1920, der bereits von Jean-Jacques Rousseau aufgeworfenen Frage nach, was einen Menschen überhaupt berechtigt über andere Menschen zu herrschen: „Er ist ein Mensch wie ich, wir sind gleich! Wo ist also sein Recht, mich zu beherrschen?“ - eine Fragestellung, die mit Sicherheit den heutigen Querdenkern gefallen würde. Doch anders als für diese stellt für Kelsen dieser Rousseausche Gedanke nur den Ausgangspunkt seiner Überlegungen dar, denn ohne Herrschaft lässt sich schließlich keine Gesellschaft organisieren: „Soll Gesellschaft, soll gar Staat sein, dann muss eine bindende Ordnung des gegenseitigen Verhaltens der Menschen gelten, dann muss Herrschaft sein. Müssen wir aber beherrscht werden, dann wollen wir nur von uns selber beherrscht sein. Von der natürlichen Freiheit löst sich die soziale oder politische Freiheit ab. Politisch frei ist, wer zwar untertan, aber nur seinem eigenen, keinem fremden Willen untertan ist.“ [5] Mit anderen Worten: Die Bürger müssen die Chance haben, sich an der staatlichen Ordnung wirksam beteiligen zu können. Dazu sollen sie sich in Parteien zusammenschließen, die sich dann an Wahlen beteiligen. Für Kelsen besitzen Parteien eine zentrale Bedeutung für das Funktionieren der Demokratie: „Die moderne Demokratie beruht geradezu auf den politischen Parteien, deren Bedeutung um so größer ist, je stärker das demokratische Prinzip verwirklicht ist.“[6]    

Zwischen dem Postulat der Freiheit des Einzelnen und der notwendigen gesellschaftlichen bzw. staatlichen Ordnung bleibt jedoch ein Gegensatz bestehen, den man in letzter Konsequenz nicht vollständig beseitigen, den man nur abmildern kann. Den Weg dahin stellt die Anwendung des Majoritätsprinzips dar. Kelsen leitet dieses Prinzip allerdings nicht aus der heute gängigen Behauptung ab, dass die Stimmen der Mehrheit nun einmal mehr zählen als die der Minderheit, denn dies „wäre nur der notdürftig formalisierte Ausdruck der Erfahrung, dass die Mehreren stärker sind als die Wenigeren; und der Satz: Macht geht vor Recht, wäre nur insofern überwunden, als er sich selbst zum Rechtssatz erhöbe.“ [7] Kelsen hält vielmehr an dem auf Rousseau zurückgehenden unbedingten Freiheitspostulat fest, er weist aber zugleich einen Weg, wie er mit den Erfordernissen gesellschaftlicher bzw. staatlicher Gewaltverhältnisse in Übereinstimmung gebracht werden kann: „Nur der Gedanke, dass – wenn schon nicht alle - so doch möglichst viel Menschen frei sein, d.h. möglichst wenig Menschen mit ihrem Willen in Widerspruch zu dem allgemeinen Willen der sozialen Ordnung geraten sollen, führt auf einem vernünftigen Wege zum Majoritätsprinzip.“ [8] Dessen Anwendung legitimiert die Auswahl durch Wahlen, strukturiert die innere Ordnung von Parteien und macht schließlich Parlamentarismus möglich. In seinem Buch Vom Wesen und Wert der Demokratie wird dieses Gedankengebäude von Kelsen systematisch Schritt für Schritt entwickelt, worauf hier aber nicht weiter eingegangen werden kann.

Für den Verfassungsrechtler Hans-Peter Schneider steht fest: „Dabei gelang es nur Hans Kelsen, die Freiheitsgarantie des einzelnen als politische Mitwirkungsrechte mit der demokratischen Staatsform zu verbinden: 'Der Wandel des Freiheitsbegriffs, der von der Vorstellung eines Freiseins des Individuums von staatlicher Herrschaft zur Vorstellung einer Beteiligung des Individuums an staatlicher Herrschaft führt, bedeutet zugleich die Loslösung des Demokratismus vom Liberalismus.“[9]  

Der Funktionswandel der Grundrechte

Der heute überwundene historische Liberalismus war Ausdruck einer strikten Trennung zwischen der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft und dem feudalen Staat. Sein politisches Programm bestand in der Abwehr der Zumutungen des Obrigkeitsstaates: „Die Theorie der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den 'Staat' ist in ihrer klassischen Ausprägung eine Theorie, die im deutschen Spätkonstitutionalismus des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Sie postuliert ursprünglich nichts anderes als die Garantie der Freiheit vor ihrer Einschränkung durch nicht auf einem Gesetz beruhenden Zwang.“ [10]  Seinerzeit hatten die Parlamente in Deutschland noch keine oder eine nur geringe Bedeutung. Vor allem waren sie noch nicht Gesetzgeber und standen außerhalb des feudalen Staates. Von der Existenz einer Volkssouveränität kann in Deutschland erst ab 1918 gesprochen werden.

Die im Grundgesetz verankerten Grundrechte können daher heute nicht mehr als „Abwehrrechte gegen den Staat“ verstanden werden: „Zwar regeln die Grundrechte nach wie vor das Verhältnis zwischen Staat und Individuum; jedoch lässt sich dieses Verhältnis nicht mehr mit den abstrakt-formalen Kategorien der 'Herrschaft' des Staates einerseits und der 'Gewaltunterworfenheit' des Bürgers adäquat beschreiben und als bloße Abgrenzung von autonomen 'Willenssphären' verstehen.“ [11] Woraus folgt: „Nicht mehr allein die rechtsstaatlich-liberale Abgrenzung autonomer Willenssphären kennzeichnet den allgemeinen bürgerlichen Status der Freiheit und Gleichheit, sondern zunehmend die demokratisch-soziale Einflussnahme auf die Verteilung von Freiheitschancen im Wege politischer Willensbildung. Grundrechtssicherung besteht heute zu einem wesentlichen Teil in 'Grundrechtspolitik'.“ [12] Ob es aber zu einer solchen „demokratisch-sozialen Einflussnahme“ tatsächlich auch kommt, hängt dabei von den konkreten Machtverhältnissen zwischen den sozialen Akteuren, mit anderen Worten vom Klassenkampf ab.

Man spricht daher von einem „Funktionswandel der Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat“.[13] Was bedeutet: “Die Grund- und Freiheitsrechte werden als Normen der Verfassung angesehen, durch die der Inhalt von Gesetzen in negativer Weise bestimmt und ein Verfahren vorgesehen werde, in dem Gesetze, die diesen Bestimmungen nicht entsprechen, vernichtet werden können. Die Bedeutung der Grundrechte liegt also nach Kelsen ausschließlich darin, den Inhalt von Gesetzen negativ oder positiv zu bestimmen. Die Garantie der Grundrechte besteht in der Möglichkeit, verfassungswidrige Gesetze sowie Rechtsakte, die aufgrund solcher Gesetze erlassen werden, in einem besonderen Verfahren aufzuheben.“ [14]

Die Grundrechte des Grundgesetzes können daher nicht mehr als Rechte des Einzelnen bezeichnet werden: „Wird nun, was richtig und selbstverständlich ist, das Parlament als Staatsorgan angesehen und die Gesetzgebung als staatliche Tätigkeit, werden fernerhin wie in Art. 1, Abs. 3 des GG geschehen[15], die Grundrechte mit Bindungswirkung auch und gerade gegenüber dem Gesetzgeber ausgestattet, dann lassen sich die Grundrechte nicht mehr in Bezug auf die Gesetzgebung als Abwehrrechte des Einzelnen, als subjektive Rechte konstruieren. Als Abwehrrecht des Einzelnen richtet sich das Grundrecht auf die Abwehr einer einzelnen, freiheitsbeschränkenden Maßnahme der vollziehenden Gewalt. Etwas ganz anderes ist es, wenn der Gesetzgeber mit Hilfe der Grundrechte daran gehindert werden soll, Gesetze eines bestimmten Inhalts zu erlassen oder wenn ihm durch die Grundrechte der Erlass eines Gesetzes vorgeschrieben werden soll. Die Freiheit des Einzelnen, nur aufgrund eines Gesetzes Freiheitseinschränkungen dulden zu müssen, ist im Rechtsstaat eine Selbstverständlichkeit. Grundrechte - verstanden als Schutz vor ungesetzlichem Zwang – laufen in einem Staat, in dem alle Staatsgewalt nur aufgrund von Gesetzen ausgeübt werden darf, leer. Deshalb ist es völlig richtig, im demokratischen Rechtsstaat den Grundrechten Vorrang vor den Gesetzen einzuräumen. Allerdings kann man dann die Grundrechte nicht mehr als die Rechte des Einzelnen bezeichnen; das würde ihrer allgemeinen Geltungskraft und ihrer grundlegenden Bedeutung für die Ordnung des politischen Gemeinwesens widersprechen.“ [16]

Dieser „Funktionswandel der Grundrechte“ führte zu einem großen Bedeutungszuwachs des Bundesverfassungsgerichts, ist es doch Aufgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Grundrechte auszulegen. Bereits 1973 stellte Wolfgang Abendroth die Frage: „Wer bestimmt in der Bundesrepublik die Politik – Regierung und Parlament oder das Bundesverfassungsgericht?“. [17] Vor allem in der Ära der sozialliberalen Koalition am Beginn der siebziger Jahre war es das Bundesverfassungsgericht, das gleich mehrere Reformgesetze der SPD/FDP-Regierung aufhob, bzw. deren Änderung verlangte oder völlig eigenständig auslegte. Der Verfassungsrechtler Jürgen Seifert schrieb damals: „Es besteht jedoch heute die Gefahr, dass das Bundesverfassungsgericht gegenüber den Versuchen einer sozialliberalen Reformpolitik (…) den demokratischen Gesetzgeber an der Durchführung von Reformen hindert.“ [18]

Seitdem ist die Macht dieses Gerichts weiter angewachsen - kaum ein Gesetz von Bedeutung kann heute noch vom Bundestag verabschiedet werden, ohne dass es nicht der Überprüfung, Interpretation oder gar Verwerfung dieses Gerichts unterliegt. Inzwischen ist es aber nicht mehr allein das Bundesverfassungsgericht, das den Handlungsspielraum des Gesetzgebers immer weiter einschränkt. Auch der Europäische Gerichtshof maßt sich immer mehr Kompetenzen an, die eigentlich den Parlamenten der Mitgliedstaaten der EU zustehen. In dieser Ausdehnung der Machtfülle der obersten Rechtsprechung liegt denn auch eine der großen Gefahren für den Fortbestand der Demokratie in Deutschland und Europa.

Die Querdenker als Anhänger einer reaktionären Grundrechtsauslegung

Die Auslegung der Grundrechte im Sinne ihres „Funktionswandels im demokratischen Verfassungsstaat“ war und ist aber nicht unumstritten, weder in der Rechtswissenschaft noch in der Politik. Maßgebliche Kräfte bestehen in der Bundesrepublik weiterhin auf ihrer ursprünglichen Bedeutung, wonach sie vor- bzw. überstaatliche Rechte seien. Zu ihnen gehörte vor allem der Verfassungsrechtler Carl Schmitt, der in seinem Werk „Verfassungslehre“ schrieb: „Für einen wissenschaftlich brauchbaren Begriff muss daran festgehalten werden, dass Grundrechte im bürgerlichen Rechtsstaat nur solche Rechte sind, die als vor- und überstaatliche Rechte gelten können, die der Staat nicht nach Maßgabe seiner Gesetze verleiht, sondern als vor ihm gegeben anerkennt und schützt. (…) Diese Grundrechte sind also ihrer Substanz nach keine Rechtsgüter sondern Sphären der Freiheit, aus der sich Rechte, und zwar Abwehrrechte ergeben.“ [19] Dahinter steht die Vorstellung, dass diese Rechte dem Menschen qua Geburt als Naturrecht zustehen. Obwohl Carl Schmitt „der staatstheoretische Wegbereiter und Rechtfertiger des deutschen Faschismus“[20] nach 1945 in der Bundesrepublik akademisch isoliert blieb, konnte er zahlreiche ihrer wichtigsten Verfassungsrechtler nachhaltig beeinflussen, etwa Josef Isensee, Theodor Maunz und Ernst-Wolfgang Böckenförde.

Die von diesen und anderen Verfassungsrechtlern, Richtern und Politikern vertretene Definition von Grund- bzw. Freiheitsrechten, zielt darauf ab, dem Parlament die Entscheidungsgewalt über Gesetzesvorhaben zu entziehen, indem man ihm abspricht, die Grundrechte eigenständig auslegen zu dürfen. So werden demokratische Parlamentsentscheidungen, auch schon mal als „Parlamentsdiktatur“ bzw. „Tyrannei der Mehrheit“ diffamiert. Dahinter stehen oft Klasseninteressen, geht es doch vor allem darum, die Eigentumsgarantie nach Art. 14 GG vor missliebigen politischen Eingriffen, etwa mittels des Steuerrechts, abzuschirmen. Indem die Querdenker nun die Grundrechte wieder ganz in diesem Sinne als Abwehrrechte gegenüber dem Staat interpretieren, leisten sie dieser reaktionären Sichtweise Vorschub.

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie nach dem Infektionsschutzgesetz

Anders als die Querdenker behaupten, stellt die Anwendung des „Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz)“ und die damit verbundene Einschränkung von Grundrechten nicht die Abschaffung der Demokratie dar. Nahezu alle Staaten der Welt verfügen über solche Gesetzesinstrumentarien und wenden sie auch an. Das deutsche Infektionsschutzgesetz dient dem Schutz der Gesundheit und des Lebens der Bürger in Zeiten einer Epidemie und ist daher wie kaum ein anderes Gesetz geeignet, den Kerngehalt der tangierten Grundrechte, nämlich das Leben und die Gesundheit Aller, zu schützen.[21]

Besonders scharf greifen die Querdenker die gegenwärtigen Einschränkungen des Demonstrationsrechts an. Das Recht auf freie Versammlung ist in Art. 8 GG – sowie in den meisten deutschen Landesverfassungen – ausdrücklich als Grundrecht garantiert. In Absatz 2 von Art. 8 GG heißt es aber auch: „Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“ Über die Möglichkeit einer Einschränkung der Versammlungsfreiheit unter den Bedingungen einer Epidemie heißt es bei Sieghart Ott unter der Überschrift „Spannungsverhältnis zwischen Versammlungsfreiheit und gesellschaftlicher Realität“: „Zulässig sind Maßnahmen, die nicht gegen die Versammlung als solche gerichtet sind, auch wenn sie deren Durchführung mittelbar beeinträchtigen oder sogar verhindern. Das gilt insbesondere für Anordnungen aus bau-, feuer-, gesundheits- oder veterinärpolizeilichen Gründen. In diesen Fällen liegt lediglich eine Reflexwirkung vor. So kann die zuständige Behörde nach § 43 des Bundesseuchengesetzes (heute: Paragraph 28a Infektionsschutzgesetz, A.W.) beim Auftreten einer meldepflichtigen übertragbaren Krankheit (z.B. Tollwut, Pocken) in epidemischer Form Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen, auch in Versammlungsräumen, beschränken oder verbieten, soweit und solange dies zur Verhinderung der Verbreitung der Krankheit erforderlich ist. Einen Eingriff in das Versammlungsrecht stellt das nicht dar.“ [22]

Demonstrationen waren und sind in Deutschland aber auch während Corona-Lockdowns möglich. Allerdings müssen dabei bestimmte Auflagen zum Infektionsschutz eingehalten werden, insbesondere das Abstandsgebot und die Pflicht zum Tragen eines Mund- und Nasenschutzes. Auch wurden bestimmte Obergrenzen bei den Teilnehmerzahlen festgelegt. Zu restriktive Auflagen von Verwaltungsbehörden, bei denen das Ermessen nicht ausgeübt wurde bzw. der Ermessensspielraum verkannt wurde, sind immer wieder durch Gerichtsentscheidungen zugunsten der Anmelder korrigiert worden.[23]    

Da nach Art. 1, Absatz 3 GG die Grundrechte die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung „als unmittelbar geltendes Recht“ binden, sind Einschränkungen der Grundrechte prinzipiell nur aufgrund von Gesetzen erlaubt. Zugleich verlangt Art. 80 Abs. 1 GG vom Gesetzgeber, Inhalt, Zweck und Ausmaß einer erteilten Ermächtigung im Gesetz zu bestimmen. Das war der Grund für die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes im November 2020: Viele bis dahin nur in Verordnungen geregelte Sachverhalte fanden Eingang in Gesetzesnormen. Die Rolle des Deutschen Bundestages wurde dadurch gestärkt.[24]

Für die Sachverhalte, die auch in Zukunft nur durch kurzfristig zu erlassende Verordnungen geregelt werden können, da nur so die Verwaltung flexibel auf neue Lagen in einer Epidemie reagieren kann, wurden eine Reihe von Ermächtigungsklauseln in die novellierte Fassung aufgenommen. Es zeugt von der Verblendung von Querdenkern und AfD-Politikern, dass sie allein aus der Verwendung des Wortes „Ermächtigung“ den Schluss zogen, hierbei handele es sich um ein zweites Ermächtigungsgesetz wie jenes vom 23. März 1933, dass der Reichsregierung unter Adolf Hitler weitreichende Befugnisse zur Ausschaltung des Parlaments gab.

 

[1] Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.– Drucksache 19/21780 – „Rechtsextreme Beeinflussung von Protesten gegen die Corona-Eindämmungsmaßnahmen“ vom 03.09.2020

[2] Anselm Lenz, Demokratischer Widerstand No. 34 vom 22.01.2021

[3] Querdenken 711 Stuttgart

[4] Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Stuttgart 2018. Heute erinnert man sich wieder der Bedeutung Hans Kelsens. So wurde die im August 2019 eröffnete Ausstellung „100 Jahre Weimarer Verfassung“ im Deutschen Historischen Museum (DHM) unter die Überschrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ gestellt.

[5] Hans Kelsen, a.a.O., S. 10

[6] Hans Kelsen, a.a.O., S. 18 Das deutsche Parteiensystem entspricht allerdings nicht diesen Anforderungen. CDU/CSU und SPD sind schon lange keine Volksparteien mehr. Die von ihnen gestellten Mandatsträger spiegeln nicht die verschiedenen Berufsgruppen und Klassen wider. Und mit Ausnahme der Grünen verlieren alle Parteien kontinuierlich an Mitgliedern. Besonders dramatisch ist der Niedergang der SPD. Hatte sie Anfang der neunziger Jahre noch mehr als eine Million Mitglieder, so waren es Ende 2020 nur noch 404.305. Die Partei DIE LINKE befindet sich ebenfalls im Niedergang: Unmittelbar nach der Vereinigung von PDS und WASG zur Linkspartei 2007 waren noch 76.000 bei ihr Mitglied, gegenwärtig sind es weniger als 60.000.

[7] Hans Kelsen, a.a.O., S. 17

[8] Ebenda

[9] Hans-Peter Schneider, Eigenart und Funktionen der Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Grundrechte als Fundament der Demokratie, Herausgegeben von Joachim Perels, Frankfurt am Main, 1979, S. 19

[10] Peter Römer, Grundrechte und Demokratie bei Hans Kelsen, in: Peter Römer, Hans Kelsen, Kassel 2009, S. 136

[11] Hans-Peter Schneider, Eigenart und Funktionen der Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, a.a.O., S. 18

[12] Hans-Peter Schneider, Eigenart und Funktionen der Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, a.a.O., S. 40 f.

[13] Hans-Peter Schneider, Eigenart und Funktionen der Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, a.a.O., S. 18

[14] Peter Römer, Grundrechte und Demokratie bei Hans Kelsen, a.a.O., S. 135

[15] Art. 1 Abs. 3 GG lautet: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Diese Bestimmung wurde 1956 in das Grundgesetz aufgenommen und ist Ausdruck des Funktionswandels der Grundrechte.

[16] Peter Römer, Grundrechte und Demokratie bei Hans Kelsen, a.a.O., S. 136 f.

[17] Wolfgang Abendroth, Arbeiterklasse, Staat und Verfassung, Frankfurt am Main 1975, S. 264 ff.

[18] Jürgen Seifert, Grundgesetz und Restauration, Darmstadt und Neuwied, 1974, S. 53

[19] Hier zitiert nach Peter Römer, Grundrechte und Demokratie bei Hans Kelsen, a.a.O., S. 139 f

[20] Eugen Kogon, Die verhängnisvolle Vorsorge, in: Hannover/Seifert/Kogon/Abendroth/Ridder, Der totale Notstandsstaat, Frankfurt am Main 1965, S. 5

[21] Diese Schutzpflicht des Staates für Leib und Leben der Bürger leitet sich aus Art. 2 Abs.2 Satz 1 GG ab: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“

[22] Sieghart Ott, Die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, in: Grundrechte als Fundament der Demokratie, a.a.O., S. 149

[23] Vgl. hierzu Katie Baldschun, Grundrechte und epidemische Lage, in: spw-Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, Heft 237, Ausgabe 2-2020, S. 52 ff.

[24] Die Novellierung stellt daher einen Fortschritt dar. Umso unverständlicher ist es, dass die Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE gegen sie stimmte. Begründet wurde diese Entscheidung aber nicht etwa mit einer Kritik am vorgelegten Gesetzesentwurf, sondern mit allgemeinen Anmerkungen zum Krisenmanagement der Bundesregierung. Vgl. Erklärung von Bernd Riexinger, Vorsitzender der Partei DIE LINKE, zu den geplanten Änderungen am Infektionsschutzgesetz vom 18.11.2020

 

Der Artikel erschien am 8. Februar 2021 auf Telepolis

 

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